Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2011  Dieter Kindl, Kassel

Mirja u Minnig - Mir sy Heude!

Sie kennen sich schon lange – und beide machen seit langer Zeit auch Musik. Doch erst seit zwei Jahren tun sie dies gemeinsam: Mirjam Gygax und Jack Minnig. Seit 2009 schreiben sie zusammen Songs und sind damit auf den Schweizer Bühnen zu erleben. Im September hat das Duo sein zweites Album veröffentlicht. Glücksträffer haben die beiden es genannt.

„Mit Mirja u Minnig wird die Bühne zum »Tatort« für allerlei »bürokratische Blödsinn« und das »heudehafte« Happy End der »Szenen einer Ehe« zum »Glückstreffer«. Während Minnig seinen Frust über das Singleleben in »Hopfe u Malz« ertränkt, erhofft sich Mirja mehr »Pralinés« vom Gigolo. Zu ihrem Pech will der aber nur »Spieli spiele« und hat das Kleingedruckte der »Gebruchsawisig für ne Frou« nicht gelesen – es war ja auch in »nöidütsch« und »soutumm« verfasst“, ist im Begleittext zu dieser CD zu lesen. Damit sind auch schon elf der fünfzehn Lieder beim Namen genannt. Und in denen geht es um die Höhen und Tiefen des Lebens, die das Berner Duo mit viel Witz garniert hat.

Ein Beispiel dafür ist „Mir sy Heude!“ (hochdeutsch: „Wir sind Helden“). Darin beschreiben Mirja und Minnig die Generation der vor 1980 Geborenen. Rückblickend ist es ja kaum zu glauben, dass diese Altersgruppe tatsächlich überlebt hat. Schließlich musste sie im Auto ohne Kindersitz, ohne Airbag, ohne Sicherheitsgurt auskommen. Ihre bunten Bauklötze enthielten Cadmium und Blei und Flaschen mit gefährlichen Substanzen konnten ohne Mühe geöffnet werden. Weil das Taschengeld knapp war, wurde der Kaugummi am Abend neben das Bett gelegt und am Morgen weitergekaut. Das war, ebenso wie das gemeinsame Trinken aus einer Flasche, gut für das Immunsystem. Um sich zu vergnügen ging es nach draußen und man kehrte erst wieder heim, wenn es dunkel wurde. Schließlich gab es ja auch noch keine Playstation, Nintendo, X-Box oder Ipod, weder Videos, noch DVDs oder Dolby Surround Sound, kein Kinderkanal, Facebook oder Internet. Da waren noch richtige Freunde wichtig. Mirja und Minnigs Resümee an die Pampers-Generation lautet daher auch folgerichtig: „Ihr habt ja keine Ahnung, wie das Leben ohne Zivilisation ist. Wenn Ihr also jemanden trefft, der vor 1980 geboren wurde, denkt immer mit Respekt daran, was der schon alles durchgemacht hat.“

„Mir sy Heude!“ ist nur eines von fünfzehn Liedern, die allesamt mit sehr feinsinnigem Humor gespickt sind, auch wenn die Themen manchmal ernst sind. Den Zeigefinger erheben Mirjam Gygax und Jack Minnig jedenfalls nie. Mit Piano, Gitarre, Cajon und Loop sind die Lieder zwar schlicht aber sehr effektiv musikalisch umgesetzt worden. Wohl auch um nicht von den Texten abzulenken, die von der feinfühligen Beobachtungsgabe der beiden zeugen. Bei mir jedenfalls wird ihr Album noch öfters in dem dafür vorgesehenen Abspielgerät landen und mich auf andere Gedanken bringen. 

NOV 2011  Tom Schroeder, Mainz

Konstantin Wecker - Der Virus

Die geniale Lösung: Ein Virus besiegt den mörderischen Zocker-Kapitalismus und rettet die ganze Welt aus der Finanzkrise. Erste Strophe:

Mitten in der Vorstandssitzung war es, als einen von dem Pack der Wahn befiel,
sich auf einmal gänzlich frei zu machen.
Er zeigte alles – und das war nicht viel.

Flugs folgen die anderen zwölf „Börsianer, Weltgestalter“ ihrem Vorsitzenden und entkleiden sich ebenfalls. Nackt und entzaubert, ohne Status und Einfluss wirken die frierenden Bänker unter dem befreiten Gelächter der Angestellten „wie ganz normale Durchschnittsgangster“. Von fern grüßt und grinst das Volk aus Hans Christian Andersens Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“, hier wie dort entdeckt man, „wie viel Idioten unsere eigentlich so schöne Welt regier‘n“.

Konstantin Wecker bezieht sich in den Refrains seines Stückes, das Bert Brecht und Kurt Weill wohl „Song“ genannt hätten, einmal auf die Beatles („Yellow Submarine“ nebst Stadion-Variante „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“) und zweimal auf das „Schiff mit acht Segeln“ der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper. Während im Tagtraum der Seeräuber-Jenny alle Männer über die Klinge springen („Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!“), kommen bei Konstantin Wecker die Casino-Kapitalisten glimpflicher davon:

Zieht den Börsianern die Anzugshosen aus,
Handy, Laptop und was sonst an ihnen klebt,
und dann soll‘n sie jetzt mal seh‘n wie man mit ehrlicher Arbeit
und ‘nem Euro in der Stunde überlebt!

Das klingt wie gemacht für die Occupy-Demonstranten auf ihrem Weg rund um die Finanzwelt, von Wallstreet bis Bankfurt.

Natürlich ist Weckers Song auch eine wunderschöne Satire. Aber es gibt wahrlich größere und schlimmere Lachnummern im Zusammenhang mit jenem 27. Oktober 1986, als im Londoner Unterhaus Margaret Thatcher die folgenschweren Worte aussprach: „Lasst uns die Regeln wegwerfen, die den Erfolg bremsen!“ Gemeint war der Erfolg ihrer Börsianer und Bänker. Auch unsere einheimischen Wegwerf-Kapitalisten zogen mit, egal ob schwarz-gelb, rot-grün oder wieder schwarz-gelb.

Es darf laut gelacht werden: Die jetzt erneut ins Spiel gebrachte Finanztransaktionssteuer ist, als sie noch Börsen-Umsatzsteuer hieß, von der schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl 1990 abgeschafft worden (vergl. Stern 42/2011). Und dafür, dass eine ähnliche Steuer jetzt nicht allzu schnell wiederkommt, gibt es schließlich die FDP. Die hatte gar nicht so lange vor der Krise 2008 noch dafür plädiert, die Sparkassen zu zerschlagen – also zu privatisieren. Es sind ja nicht nur Bänker, Börsianer und Rating-Agenten, die uns moneypulieren.

OKT 2011  Mike Kamp, Bad Honnef

Klaus der Geiger - Nein, nein, nein, wir wollen nicht eure Welt

Klaus der Geiger, der alter Kämpfer gegen Gewalt und Herrschaft, weiß es nur zu gut und singt es auch: Leben ist schön, kann schön sein, simple Dinge wie die Natur, der Abendsonnenschein oder Freundschaften. Aber leider ist die Welt auch voller Betrüger. Wie bitte? Das wäre eine etwas extremistische Sicht der Dinge? Aber nein doch! Wie nennt man denn eine Regierung, der Banken wichtiger sind als HartzIV-Empfänger und die Atomkraftwerke nunmehr für nicht beherrschbar erklärt, aber deren Export tatkräftig unterstützt? Oder die ihre Armeen wieder weltweit Handelswege freischießen lässt, weil das angeblich dem Stellenwert des Landes entspräche?

Wie immer man solche extremistischen Institutionen nennen mag, sie repräsentieren nicht die Welt, die Klaus der Geiger erstrebt. Gegen genau diese Welt hat er zeitlebens mit seinen musikalischen Waffen gekämpft und daher ist diese seine Absage an die Welt der Schwindler auch so kompromisslos. Von seiner Einstellung können so manche eine Menge lernen, mich eingeschlossen! 

SEPT 2011  Karl-Heinz Schmieding, Saarbrücken

Markus Heiniger - Dichten

Unter Markus Heinigers „Autorenliedern am Piano“ in bern- und baseldeutscher Mundart und in hochdeutscher Sprache ist der Song „Dichten“ ein ironisch-poetisches Kabinettstückchen – ein raffiniertes Spiel mit Worten, genauer: mit Reimwörtern, das musikalisch durch pointierte Blue Notes und Jazz-Akzente am Klavier seine ideale Ergänzung findet. Die Handlung: das „lyrische Ich“, ein in seine Kunst vernarrter Hobby-Poet, weigert sich hartnäckig, seiner Leidenschaft, Gedichte zu schreiben, wenigstens vorübergehend zu entsagen und sich auf Bitten seiner Frau anderen Aufgaben und Pflichten in Ehe und Familie zu widmen. Aber worum seine Ehefrau ihn auch immer bittet und mit welchen Konsequenzen sie ihm letztlich auch immer droht – er bleibt stur bei seinem Feierabenddichter-Leisten und formuliert in seiner poetischen Abwehrstrategie kunstvoll immer neue Reime auf („Ich bin am) Dichten“.

Dies stereotype Statement und der Refrain, mit dem der Poet sich scheinbar einsichtig gibt – „Ja, ja, ich weiß, das geht schon langsam ziemlich weit...“ –, sind für die Angetraute aber wenig tröstlich. Des Reimes und des Reimens wegen bringt er am Ende gar eine der auf den CD-Titel anspielenden knarrenden Fichten zum Stürzen und belegt damit ironisch, dass sein „Dichten auch einmal etwas bewegen kann“. Schließlich schickt der leidenschaftliche Verseschmied seine Frau allein ins Bett und schreibt „bis ins ferne Morgenlicht ... noch ein Gedicht“ mit der entwaffnenden Entschuldigung: „ ... das weite Wörtermeer / überflutet manchmal alles um mich her...“. Dass es da womöglich augenzwinkernd verarbeitete autobiographische Bezüge bei Markus Heiniger gibt, kann man nur vermuten.

Der Schweizer Liedermacher, Jahrgang 1968, ist am Rheinknie in der Nähe von Basel aufgewachsen. Und auf seiner neuen CD spielt er u. a. bravourös den „Rhy-Boogie“ (Rhein-Boogie). Kein Wunder, könnte man scherzhaft sagen, dass er sich daher in einem Lied mit der leitmotivischen Formulierung „Ich bin am Dichten“ grammatikalisch der „rheinischen Verlaufsform“ bedient. „Rheinische Verlaufsform“ deshalb, weil man die Herkunft dieser grammatischen Variante ursprünglich allein auf die umgangssprachliche Praxis des Kölner und des westfälischen Raums in neuerer Zeit bezog. Experten belegen jedoch: diese Form der Satzkonstruktion ist nicht nur in weiten Teilen Deutschlands, vor allem im Westen, seit langem gebräuchlich, sondern traditionell auch in der Schweiz und findet sich bereits bei Jeremias Gotthelf und anderen Schweizer Autoren des 19. Jahrhunderts. Mag der eine oder andere deutsche Sprachpurist die Formulierung „Ich bin am Dichten“ auch gewöhnungsbedürftig finden – als „literarische Produktionsbeschreibung“ ist sie sehr präzise und entbehrt nicht einer gewissen ironischen Poesie.

Er habe Berndeutsch mit der Muttermilch eingesogen und Baseldeutsch im Sandkasten gelernt, schreibt Heiniger. Hochdeutsch sei für ihn jedoch „ein Hochseilakt geblieben, erst recht nach dem Besuch der Mainzer Liedermacher-Akademie SAGO“, die übrigens vom Liedermacher- (besser: Poesie und Musik-)Altmeister Christof Stählin geleitet wird. Für die inspirierende und kritische Begleitung seiner Arbeit dankt Heiniger Stählin ausdrücklich. Dass der Schweizer bei allem Respekt, mit dem er der hochdeutschen Sprache begegnet, aber dennoch perfekt auf diesem „Hochseil“ zu jonglieren versteht, dafür ist das vokal und instrumental virtuos interpretierte Lied „Dichten“ als kleines ironisches Kunstwerk im Jazz-Gewand ein überzeugender Beleg. „Meine Kunst ist nicht scharf, aber geschliffen“ sagt Heinigers Mentor Stählin in seinen Aphorismen zur Kunst. Es scheint, als habe Heiniger diese zentrale Botschaft der Stählinschen Liedermacher-Poetik erfolgreich auch zu seiner eigenen gemacht. 

AUG 2011  Rainer Hannes, Baden-Baden

Marcel Adam - Mir läwe nimmé long

„Glokal“, las ich in der Zeitung, ist ein Fantasie-Kompositum. Zukunftsforscher, auch Trendforscher genannt, benutzen es, um die Hauptrichtung Globalisierung und ihre gleichzeitige Gegenbewegung zu bezeichnen, eine neue Wertschätzung des Lokalen. Na gut. Dem Gegentrend kann ich nachhelfen und das Lied eines Musikers empfehlen, der seine Wurzel in Lothringen hat: Marcel Adam und dessen „Mir läwe nimmé long“, erschienen auf der Studio-CD Halleluja!.

„Wir leben nicht mehr lang“ – dazu muss man jetzt kein Zukunftsforscher sein – hört sich erst einmal und für sich allein genommen reichlich melancholisch. Ist es sicher auch, gerade für die, die wie Marcel Adam sechzig sind oder darauf zugehen. Dazu ein Stück Lebensbilanz im Refrain: „Liedermacher, bisch durch de Welt gong/ Mit de Gitarr als Brechstong/ Heit trämsch de kitschisch uff din Chaiselong/ Vom e Sunneunnergong“. Distanz, Selbstironie. Findet man auch nicht bei jedem Künstler. Und dann Trotz: „Halleluja ich war do. Känner hiehlt mo noh (keiner heult mir nach).“ Was hier in drögen Buchstaben auf dem Papier steht, muss man hören, die Stimme hören, den Dialekt, die Musik. Das Schlitzohr hat Lebensfreude, wenn es singt „Wir leben nicht mehr lang.“

In den Strophen Rückblenden in die Kindheit: Schmetterlinge, Maikäfer, Blumenwiesen (von Neubaugebieten aufgefressen), das kleine Dorf als Paradies. Klischees? Jein. Wer seine Kindheit in den Fünfzigerjahren hatte, hat einfach viel Natur mitgekriegt, übrigens auch in der Stadt. Draußen sein (siehe Maikäfer, Schmetterlinge, Kaulquappen) war selbstverständlich. Was sonst? Und vielleicht konnte man ja auch einem Bauern zugucken, der seinen Acker noch mit einem Pferd pflügte (schön für den Zugucker, weniger schön für den, der so arbeiten musste). Der Unterschied zwischen einer Kindheit vor sechzig Jahren und einer Kindheit, sagen wir, in den Neunzigern beträgt ungefähr hundert bis hundertzwanzig Jahre. Vermute ich mal. So, und jetzt beschreibe das mal einer in ganz wenigen Worten, ohne Maikäfer oder Schmetterlinge oder ähnliches. Entscheidend ist, wie glaubhaft jemand solche Bilder verwendet. Und das tut Marcel Adam. Und seiner Zeit und seinen Zeitgenossen zu sagen: „Ich war do“ – besser kann eigentlich eine Bilanz nicht ausfallen.

Ach so, das stand auch noch in der Zeitung: „ ... wird die Zahl der 80-Jährigen und Älteren bis 2030 von 4,1 Millionen (2009) auf voraussichtlich 6,4 Millionen ansteigen.“ 

JULI 2011  Hans Reul, Eupen

Manfred Maurenbrecher - Du kannst es

Manfred Maurenbrecher ist regelmäßig in der Liederbestenliste vertreten. Bereits zweimal erhielt er den Jahrespreis. Zu Recht! Denn nur wenige verstehen es so gekonnt, mit Sprache und Musik umzugehen. Fast immer ohne erhobenen Zeigefinger, manchmal auf nahezu nonchalante Weise. Auf seinem aktuellen Livealbum finden wir jetzt ein Lied oder besser gesagt einen gesprochenen Text mit Musik unterlegt, der weitaus konkreter und direkter ist und mir aus dem Herzen spricht. Denn, selten hat mich ein Buch so wütend gemacht wie der Bestseller jenes Mannes, dessen Namen Maurenbrecher während des zehnminütigen Liedes nicht einmal erwähnt, den aber jeder nach den ersten Zeilen identifiziert.

Maurenbrecher erklärt hier gleich, warum dieser Mann so populär wurde, wie er es verstanden hat sich als der Vertreter der kleinen Leute oder auch der Mittelschicht darzustellen. Dabei wirkt er vielmehr wie einer, der immer auf der Sonnenseite (oder Sonnenbank) des Lebens sich wiederfand. Eine dicke Abfindung schlägt der feine Herr auch nicht aus. Wenn ich sehe, wie Hunderte vor den Buchhandlungen Schlange stehen, um an einer seiner Autorenlesungen teilzunehmen, dann kommt eine Mischung Wut und Fassungslosigkeit in mir hoch.

Ich habe versucht, dieses Machwerk zu lesen, es aber nach wenigen Seiten weggelegt. Ich erlaube mir, als Nicht-Deutscher, zu hoffen, dass viele der zahlreichen Käufer ähnlich reagiert haben. Was ist aus dem europäischen und Kulturen umfassenden Gedanken geworden? Wie kann heute einer Applaus bekommen, wenn er von einem Juden-Gen oder abfällig über Kopftuchmädchen spricht oder schreibt? Einfach „widderlich“, wie Wolfgang Niedecken schon vor Jahren sang.

Manfred Maurenbrecher versteht es seine sozial-politische Analyse mit Sprachwitz und Ironie zu versehen, das macht „Du kannst es“ noch eindringlicher. Darauf zu hoffen, dass Maurenbrechers Lied auch zu einem Besteller wird, ist wohl vermessen. Aber ich wünsche diesem Lied möglichst viele Hörer. Es sollte auch den Weg in die Laufprogramme der Rundfunksender finden. Oder ist tatsächlich alles nur noch Format? 

JUNI 2011  Matthias Inhoffen, Stuttgart

KK-Strings - Franz!

Zu was so ein Ofen alles gut sein kann. Beispielsweise der sogenannte Bullerjan-Ofen in einem Kreativ-Atelier am Wiener Alstergrund. Hier residiert das österreichische Streichquartett KK-Strings, das seit über zwanzig Jahren besteht und – wie man hier hören kann – eine echte Bereicherung für die Musikszene des Alpenlandes darstellt.

Der Bullerjan-Ofen begleitete die vier Akteure mit seinem Flackern und Spratzeln durch zahllose lange Nächte, in denen eine CD-Produktion Gestalt annahm, die von verschwenderischer Ideenfülle, unorthodoxer Herangehensweise und ungebremster Spielfreude erzählt. Ach, was gibt es hier alles zu entdecken: romantische Weisen und hämmernden Rhythmus, zarte Streicher und wuchtiges Schlagzeug, Schwelgerisches und Verfremdetes – und, neben den originellen Einlassungen der vier KK‘ler, die musikalischen Handschriften zahlreicher Gäste, von Obertonsänger Caspar Sacker über Alpen-Rockpoet Hubert von Goisern und die expressive Stimme von Angelika Kirchschlager bis zu dem vergnüglichen Bass des Musikkauz Georg Breinschmid.

Auf „Franz!“, das ich hier herausstellen möchte, heißt der Sparringspartner Thomas Lang. Er war in den 1980er Jahren der Drummer des Alpenrock-Filous Falco und lebt seit langem in den USA. Aus einem Studio in Los Angeles hat er seine virtuosen Trommelparts zugespielt, und die Wiener Streicher mussten nur noch ihre virtuose Violinenkunst drübersetzen. So ist ein globalisiertes Kabinettstückchen entstanden, das die alte, zu Beginn entsprechend weihevoll zelebrierte Nationalhymne in ein furioses Rock-Feuerwerk münden lässt. Tradition und Vision, sie gehen hier gemeinsam mit den herrlich ironischen Textbrocken eine innovative, intelligente Verbindung ein. Der Kaiser Franz würde sich gewiss im Grab umdrehen, aufgeweckte Hörer von heute hingegen frohlocken. 

MAI 2011  Harald Justin, Wien

Schorsch H. & Dr. Will - Schleich Di Boandlkramer

Als Nordlicht wusste ich bislang nicht, wer oder was ein „Boandlkramer“ ist. Mir reichte es, wenn die Münchner Dialektmusiker Schorsch H. und Dr. Will davon sangen. In den Linernotes zu ihrer CD Together fragen sie, ob oberhalb der Donau überhaupt jemand wisse, wer der Boandlkramer ist. Nicht ohne, dass Schorsch dieser Frage die Schilderung eines eigenes Erlebnisses voran stellt: „Den Song hab ich geschrieben nach einem längeren Krankenhausaufenthalt, wo der ,Boandlkraner‘ schon einmal angeklopft hat. So schnell kriegst Du mich noch nicht – schleich dich wieder!“

Der Rest kommt mit Dialektgesang, schwerem Schlagzeug und einem dem Deltablues entlehnten Bottleneck-Gitarrenspiel daher. Der Text über die Ablehnung des Boandlkamers ist unspektakulär einfach und hält sich, was nicht unbedingt zu deutschen Liedformen passt, an das AAB-Bluesschema. Derlei Annäherungen an afroamerikanische Musikformen gehen in deutschen Landen meistens schief, diesmal aber passt es, ermöglicht durch die Lässigkeit des Vortrages und die Einfachheit der Aussage: Schorsch will den Boandlkamer nicht, aus Empathie für den Sänger will ich den Boandlkamer auch nicht, besonders nachdem die Recherche ergibt, dass der Boandlkamer der Tod ist. Nein, den will ich nicht. So einfach ist das. Ich bin dagegen, dass mir das Lebenslicht ausgeblasen wird. Und ich bin gegen alle Personifikationen derer, die mir das Lebenslicht ausblasen könnten, eben gegen alle Knochenhändler. (Was eine genauere Übersetzung des „Boandlkramers“ ist.) Davon muss der Schorsch aber nicht singen. Es reicht ein „Schleich di“ und der in einfache Worte und simple Kalenderweisheiten gefasste Wunsch, zu überleben. Jeder weiß, wer die Händler des Todes sind, um ihnen ein „Schleich di“ entgegen zu rufen.

Es ist eine Kunst, so etwas singen zu können. Keine gute ist es hingegen, Leitartikel oder Parteiprogramme zu vertonen, lehrpädagogische Lyrik mit Musik zu versetzen. In das Fettnäpfchen „Bedeutungsschwangere Belehrungslyrik“, tappen Schorsch und Dr. Will glücklicherweise nicht, diese Malaise deutscher Liedermacher lassen sie hinter sich, weil sie die Lehren aus afroamerikanischer Blues-, Folk- und Populärmusik gezogen haben. Das Erfolgsrezept dieser Musiken lautet: „Finde einfache Worte und einen individuellen Ausdruck, der so individuell ist, dass sich viele, viele Hörer damit identifizieren können.“ Aus Hank Williams wurde so der vielgerühmte „Shakespeare der amerikanischen Musik“, aus Robert Johnson ein „Meisterpoet der afroamerikanischer Erfahrung“. Eine kleine Pretiose wie „Schleich Di Boandlkramer“ lässt hören, was an (Protest-) Kultur in deutscher Sprache möglich ist, gerade auch, wenn nicht jedes Wort sofort verständlich ist. 

APR 2011  Martin Steiner, Winterthur

Herbert Bartmann - Dat Boot is vull

Getrieben von Hunger und Not, oder auch nur, weil sie nicht wie die Herrschenden dachten, wanderten 20.000 Ostfriesen von 1850 bis 1920 nach Amerika aus. Was fühlten sie wohl, als sie in der Fremde ankamen? Wurden sie mit ihrem ostfriesischen Dialekt verstanden? Verstanden sie ein Wort in ihrer neuen Heimat?

Was verstehen die Migranten aus den kurdischen Bergen, aus der libyschen Wüste, wenn sie erstmals ihre Füße auf das europäische Festland setzen? Was verstehen sie von unserer Kultur, von unseren Werten? Was verstehen wir von ihren Beweggründen, sich in einem maroden Boot auf das Meer zu wagen und das Leben aufs Spiel zu setzen?

Beim ersten Anhören werden Nicht-Ostfriesen „Dat Boot is vull“ kaum oder nur höchst bruchstückhaft verstehen. Ostfriesen wurden wohl mit ihrer Sprache in Amerika kaum verstanden. Libyer wird man hier sicher auch nicht verstehen. Nur, weshalb macht sich ein Schweizer Rezensent daran, Lieder, die er kaum versteht, wiederholt zu hören? „Det Boot is vull“ ist, wie das ganze Album, erst mal gute, eindrückliche Musik. Herbert Bartmann spielt alle Instrumente selber. In diesem Lied sind das Gitarre, etwas Perkussion und Blues Harp. Und da ist diese unaufgeregt dringliche Stimme. Man spürt sofort, hier hat einer etwas zu sagen.

Was genau, geht aus den Anmerkungen hervor, die eine Brücke von den ostfriesischen Auswanderern zu der heutigen Migrationsbewegung schlagen. Herbert Bartmanns Liedtext nennt weder Volksgruppen noch Jahreszahlen. Doch man spürt, ihm geht es ums Jetzt. Tausende sterben auf der langen Reise nach Europa, 20.000 sollen mittlerweile auf dem Meeresgrund liegen. „För Minsken in Nood sünd de Müren to hoog“ (für Menschen in Not sind die Mauern zu hoch) schließt er das Lied. Waren die Mauern auch so hoch für die Ostfriesen vor 150 Jahren?

Auch wenn der ostfriesische Dialekt nach mehrmaligem Zuhören trotz vorliegendem Text und der Worterklärungen des Beihefts immer noch Schwierigkeiten bereitet: Herbert Bartmanns „Dat Boot is vull“ – wie auch die ganze CD – verdienen es, genauer angehört zu werden. Ruusmusik verströmt eine eigentümliche Kraft, die aus der Ruhe schöpft. Mein Empfehlung ist nur eines von zwölf Liedern, deren Wurzeln in der Tradition, im Dialekt liegen, die sich aber nie der Aktualität verschließen. Offen sein für Neues, für andere Menschen, heißt für Herbert Bartmann, fest in der Tradition der Heimat verwurzelt zu sein. 

MÄRZ 2011  Kai Engelke, Surwold/Emsland

Johan Meijer - Frühlingschor

Das Lied „Der Frühlingschor“ stammt in seiner Urfassung von José Afonso (1929-1987), einem der bedeutendsten Sänger und Komponisten Portugals. Sein damals verbotenes Lied „Grandola, Vila Morena“ wurde im April 1974 im portugiesischen Rundfunk gesendet und war für die eingeweihten Militärs und Zivilisten das geheime Zeichen zum Beginn der friedlichen Nelkenrevolution, die gegen den verhassten Diktator Salazar bzw. gegen dessen Nachfolger Caetano gerichtet war.

Auch das Lied „Der Frühlingschor“ besingt den Beginn der Revolution und die Umkehr der Herrschaft von oben nach unten. Trommeln und Pfeifen erklingen, sie vermitteln Entschlossenheit und Mut, das gemeinsame Ziel zu erreichen: „Dir hilft kein Tuch, du Schuft, steig in die Gruft, nackt geht der König heut./Es holt der Sensenmann auch dich, Tyrann – wie alle andren Leut./Grab Schützengräben, du Freundin, knie dich schon mal rein./Andre schrei‘n Befehle, ohne Seele, frei wirst du bald schon sein.“

Dann, für den Kehrreim, jeweils ein Wechsel im musikalischen Arrangement: Stimmen, sehr viele Stimmen, wie Mönchsgesänge, Obertöne gar, die Bouzouki setzt sparsame zusätzliche Akzente. Klänge, die einen breiten Strom assoziieren, mächtig und nahezu unaufhaltbar. Dazu die Worte: „Steig auf, Sommersonne steig auf./Wir Sänger sind da und wir bringen/unser Lied dem Sonnenlauf./Hört wie unsre Stimmen singen./Hört wie Schreie laut erklingen./Hört wie Trommeln die Luft durchdringen.“

Nicht nur von Unterdrückung, Auszehrung und Angst ist die Rede in den weiteren Strophen, sondern, dem Grundtenor des Liedes entsprechend, auch von Solidarität, Hoffnung und Liebe.

Mag der Text von José Afonso – zugegebenermaßen – für sich allein zunächst etwas pathetisch klingen, das Lied in seiner Gesamtheit jedoch, vermittelt durch die Interpretation des niederländischen Sängers, Komponisten und Übersetzers Johan Meijer und nicht zuletzt durch die klare, kraftvolle instrumentale Begeleitung, eine absolute Glaubwürdigkeit und Echtheit. Zudem sollten derartige Lieder natürlich immer in ihrem politisch-historischen Zusammenhang gesehen und gehört werden.

„Frühlingschor“ stammt von der ambitionierten Doppel-CD Europeana: Raum & Zeit, auf der Johan Meijer, unterstützt durch eine Handvoll exzellenter Musiker, eine durchaus informative und erlebnisreiche Rundreise durch das singende Europa der vergangenen Jahrzehnte unternimmt, wobei er den Fokus besonders auf politisch motivierte Lieder legt.

Auf die oft gestellte Frage, was Gedichte oder Lieder letztlich im gesellschaftlichen Kontext auszurichten in der Lage sind, kann manches der von Johan Meijer vorgestellten Werke mit Sicherheit eine Antwort geben.

FEB 2011  Petra Schwarz, Berlin

Strom & Wasser - Hans Heinrich Eleganz

Sie beginnt – musikalisch als „unschuldig“ daherkommender Reggae mit Kinderlied-Melodie, wird schnell heftig mitreißen – und hat es textlich von Anfang an in sich: Die Geschichte eines kleinen Teufels namens „Hans Heinrich Eleganz“, der keine roten Haare und gute Manieren hat. Ein Teufel mit Mut, der den Himmel erobert – s e i n e n Himmel „voll Sünde“. Von den andern Teufeln zunächst ausgestoßen und am Ende hoch gelobt.

Wie er das anstellt? Ganz einfach: Er geht zu einer Bank, wo ihm Respekt gezollt wird, er macht höchst erfolgreich Werbung und umgarnt die Industrie. Er begeistert als Schauspieler, geht in die Politik und wird gar vom Papst empfangen. Da ist es bis zum Himmel nur noch ein kleiner Schritt, obwohl – oder weil (?) – er Kommunist ist. Und damit nicht genug: Hans Heinrich übernimmt „teuflisch elegant“ auf Geheiß des Herrn „den Rest“. Das Ergebnis ist eine verkehrte Welt: Weise ohne Verstand, böse Brave, stinkende Rosen oder einstürzende Gebirge.

Das alles stammt – wie jeder Text auf der CD Mondpunk“ - aus der Feder von Heinz Ratz, Bassist und Sänger von Strom & Wasser. Seine raue Stimme setzt er insbesondere in „Hans Heinrich Eleganz“ sehr differenziert ein: mal eher brav, mal sehr kraftvoll, mal deftig, geradezu rabiat. Für die Komposition, die sie selbst ,,Randfiguren-Skapunkpolkarock" nennen, zeichnet Strom & Wasser als Band verantwortlich.

Heinz Ratz (2007 Förderpreis der „Liederbestenliste“) wird immer wieder als Politrocker beschrieben und in der Tat: Er nimmt kein Blatt vor den Mund und hat klare politische Botschaften, die er auf spektakuläre Weise ans Publikum zu bringen versteht. Kein Jahr ohne Aktion: Gerade macht er seine „Tour der 1.000 Brücken“ (Teil 3 des „Moralischen Triathlon“), von Mai bis August 2009 ist er tagsüber in deutschen Flüssen geschwommen und hat abends Benefizkonzerte zugunsten von regionalen Artenschutzprojekten gegeben („Die Lee(hr)e der Flüsse“) und 2008 machte er mit seinem „Lauf gegen die Kälte“ auf sich aufmerksam.

Neben der „Politik“ sind in seinen Texten manchmal „Atem beraubende philosophische Ideen und Wendungen impliziert, für das andere ein Buch statt eines Gedichtes benötigen“. So formuliert es der Promotext auch für „Hans Heinrich Eleganz“. Dem ist zweifelsohne zuzustimmen. Inwiefern aber ist die Geschichte vom höflichen Teufel ein (Promotext): „taoistisches Juwel des Seins.“? Klar ist: Die Figur des Teufels hat es Heinz Ratz angetan – sie taucht auf der CD Mondpunk immer wieder auf. Der Teuflischste ist „Hans Heinrich Eleganz“!

JAN 2011  Michael Kleff, Bonn

Sebastian Lohse & die feine Gesellschaft - Das Brunnenlied

Sebastian Lohse verweist bei der Frage nach dem tieferen Sinn des Titels seiner zweiten Solo-CD auf Karl Marx, der einmal gesagt habe, auch kleine Erfolge erfreuten die Arbeiterklasse. Und die ehemalige Stimme der Folkrocker von Letzte Instanz freut sich sichtlich über sein neues Album. Allein, es gemacht zu haben, sei ein „Erfolg“ für ihn, „egal ob zehn oder zehntausend Leute es hören“. Der Begriff würde ohnehin inflationär gebraucht. Meistens sei nur das Geld gemeint, wenn von Erfolg die Rede ist. Das ist wohl auch der Grund, dass der Musiker im Booklet eine Reihe von Klassikerzitaten zum Thema präsentiert, wie zum Beispiel eines von Max Frisch: „Erfolg verändert den Menschen nicht, er entlarvt ihn.“

Seinen Liedern hört man an, dass er Schauspiel- und Gesangsunterricht hatte und Literatur verschlingt. Literarische Vorlagen fingieren für Lohse auch als „Messlatte und Ansporn, eine ähnliche Qualität zu erreichen.“ Seine Lieder zeigen den Musiker als genauen Beobachter seiner Umgebung. Er schreibt auf, was ihn „packt“. Und das sind vor allem menschliche Verhaltensweisen, die Frage, „weshalb Menschen wegschauen, wenn etwas passiert und sie nicht eingreifen.“ Wenn er in „Kleiner Mann“ singt, „fang nicht zu jammern an. Sieh dir den Großen an, der hat auch seine Sorgen“, dann legt er in geradezu entwaffnender Weise dar, wie in Krisenzeiten die Massen derart manipuliert werden, dass sie den Gürtel enger schnallen, während die großen Banken und Unternehmen ihre Profite einfahren.

Ähnlich indirekt verweist Sebastian Lohse in „Das Brunnenlied“ auf Verführbarkeit und Kollektivismus. Wer einmal vom „Brunnen hinterm Tor“ getrunken hat, wird süchtig und manipulierbar:
„Willst Du auch ins Haus hinein
Kann es gar nicht anders sein
Ja, auch Du musst, wenn schon denn schon trinken.“

„Lieder müssen mich anregen – zu Gedanken, intensiven Gefühlen, zum Verweilen.“ So beschreibt der Künstler sein Selbstverständnis. Mit der exzellenten musikalischen Begleitung seiner Band Die feine Gesellschaft, die auch beim „Brunnenlied“ ein weites Spektrum von Chanson, über Folk und Volksmusik bis zu Varieté und Kabarett abdeckt, wird Sebastian Lohse seinem eigenen Anspruch mehr als gerecht. 

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