Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2013  Sylvia Systermans, Köln

Dota - Warten auf Wind

Wer kennt es nicht? Da stehen die Koffer lange fertig gepackt, die Marschrute ist klar. Aber statt loszustiefeln, rennt uns die Zeit davon. Irgendwie kommen wir nicht in Gang, stehen nur da – und warten. „Warten auf Wind“, so heißt der Song übers Zögern und Zaudern von Dota Kehrs aktuellem Album Wo soll ich suchen. Die elfte CD, die die Berliner Liedermacherin auf ihrem eigenen Label veröffentlicht hat. Pünktlich zum zehnten Bühnenjubiläum. Eher leise, lyrische Töne schlägt sie da an, mit vielen feinen Zwischentönen. Aber in „Warten auf Wind“ reißt uns ein treibender Beat aus der Lethargie. Gleich das aufgeladene Intro nimmt gefangen, mit reibenden Sus-Akkorden auf der akustischen und (noch) vereinzelten Akzenten auf der E-Gitarre. Darüber schildert Dota Kehr sprachmächtig wie immer die erste Szene: „Es sind alle Matrosen an Bord / alle Segel gesetzt / alle Ladung verstaut, alle Kisten vertaut / alles im Hier und Jetzt ist bereit“. Lauern und warten, dass es endlich losgeht. Spannung liegt in der Luft. Dota Kehr hat keine explizit politischen Lieder auf ihrem jüngsten Album veröffentlicht. Eher ging es ihr um die „sehr subjektive Seite von Rahmenbedingungen, mit denen wir leben“, wie sie sagt.

Aber auch ohne dass „Warten auf Wind“ konkret an die Realität andockt, flirren mir ergebnislose Weltwirtschaftsgipfel, Klimakonferenzen und Friedensverhandlungen durch den Kopf, wenn sie singt: „Bald sind alle Reserven verbraucht / und sie liegen noch immer vor Anker / die Segel sind leer / die Luft ist schwer / im Stillstand gärt Streit.“ Ein atmosphärisch dichter Song, mit viel Zeit und Liebe zum Detail arrangiert. Weit entfernt von klassischer Liedermacher-Manier steigern Joda Foerster am Schlagzeug, Erez Frank am Bass – beide bekannt aus der Band des Berliner Popbarden Max Prosa – und Dota Kehrs musikalischer Wegbegleiter an der E-Gitarre, Jens Rohrbach, die Spannung. Vom minimalistisch besetzten Intro zum enervierenden Rocksound. Der passt zur nächsten Szene, die uns an den Rand menschlicher Abgründe führt: „Sie sitzt in der kalten Küche auf gepackten Koffern und weiß nicht / wird sie wieder bleiben / heimlich auspacken / ehe er es sieht / sie starrt auf die Gardinen vorm offenen Fenster / regungslos zu Fäusten geballte Hände im Schoß / seine Schwüre im Kopf / dass es nie wieder geschieht.“ Mit wenigen Worten lässt Dota Kehr, die ihre Schreibkunst in der SAGO von Christof Stählin geschliffen hat, innere Bilder in unseren Köpfen entstehen und es umschleichen uns ein Unbehagen, eine Kälte, Widersprüche und innere Kämpfe, das quälende Kreisen ums Immergleiche.

Dazu bedient sich Dota Kehr bildstarker Metaphern: „Der Drachen liegt an gefallener Schnur im Gras / und daneben ein Kind / die Bäume schweigen mit stillen Zweigen / und warten auf Wind / wir heben suchend den Finger in die Luft / und hoffen, dass der Nebel sich lichtet / damit wir endlich wissen wo wir sind / wir warten auf Wind.“ Perspektivwechsel: von der distanzierten Beschreibung zum „Wir“ und „Ich“. Und von da mit einem Federstreich zum kompromisslosen Imperativ: „Puste auf die Glut! / Entfache Feuer, schlage Wellen / reiß mich fort, treib Regen vor Dir her / nimm meinetwegen alles mit über Bord / geh über die Klippen, übers Land / und ich weiß, wo ich Dich find / ich steh ganz dicht am Rand / und ich warte auf Wind“. Es braucht womöglich gar nicht viel für den entscheidenden Schritt. „Vielleicht nur einen Hauch / ich atme einmal noch tief ein / und er auch.“ Dann ein überraschend leiser Schlussakkord. Ich atme tief aus und bin dankbar für die Pause, die mir Dota Kehr gönnt. Sie selbst schreibt derweil bereits vergnügt an neuen Songs. Rockiges und „auch explizit politische Lieder, weil es gerade in letzter Zeit viele Sachen gab, die mich wahnsinnig geärgert haben“, verrät sie im Interview. Wir dürfen gespannt sein. Auf neue Songs von Dota Kehr, die dafür sorgen, dass wir nicht auf unseren gepackten Koffern sitzen bleiben und warten.

NOV 2013  Steffen Kolodziej, Saarbrücken

Axel Prahl & das Inselorchester - Zu alt

2001 hat Danny Dziuk dieses Lied zum ersten Mal veröffentlicht, auf seiner CD Hauptsache Wind. Damit wäre es eigentlich zu alt für eine persönliche Empfehlung im November 2013, wenn nicht, ja, wenn nicht Axel Prahl und Danny Dziuk sich miteinander angefreundet hätten und Dziuk 2011 Prahls Blick aufs Mehr produziert hätte. Und schließlich aus einer Hand voll geplanter gemeinsamer Auftritte eine Tour mit rund fünfzig Konzerten geworden wäre, an deren Ende auch noch ein Live-Doppelalbum erschienen ist. Auf dem wiederum eine frische, quicklebendige und von Prahl exklusiv be-rap-te Version dieses alten Liedes zu finden ist.

Das Lied ist ein Klagegesang von einem, der sich zu alt fühlt fürs Showgeschäft, fürs große Geld, für Sex vor der Kamera im Keller; zu alt, neu anzufangen und auch zu alt, um noch erwachsen zu werden. Zu alt eigentlich für alles, was diese moderne Welt ausmacht, außer vielleicht dafür, dass man ihm über die Straße hilft. Das gibt ein Lebensgefühl wieder, das jeden treffen kann – unabhängig von der Zahl der Lebensjahre. Das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können oder zu wollen in diesem Rattenrennen, das uns täglich umgibt und das ganz besonders in der Show-, Musik- und Medienszene immer absurdere Umdrehungszahlen erreicht.

Danny Dziuk hat das nicht nur wunderbar auf den Punkt geschrieben, er trägt es auch formvollendet vor: gerade tatterig genug, dass man nicht auf die Idee kommt, er wolle im nächsten Moment sagen, nee, das sei ja nur ein Scherz gewesen, natürlich sei er selber nicht zu alt, das sei eben Ironie. Natürlich ist das Lied ironisch, aber Dziuk setzt die Ironie nicht ein, um sich vom unausweichlichen Alterungsprozess zu distanzieren. Sondern er benutzt sie, um sich über den jugendlich-wahnesblöd galoppierenden Schwachsinn unserer Tage lustig zu machen. Wer braucht schon wirklich Doppelschichten, Heroin, und dauernd gute Ratschläge?

Axel Prahl wiederum verschafft dem alten Stück neuen Glanz in der Rolle des rappenden Junghirschen. Das macht er gut, er ist ja auch Schauspieler und hat Erfahrung vom Kindertheater.

Nein: das war ein Scherz. Dieses alte Lied ist schon lange eines meiner Lieblingslieder und in dieser aktuellen Version Zwei-Null-Punkt-Dreizehn besser denn je. Weshalb es auf der altersranzigen Festplatte zwischen meinen Ohren mal wieder ganz oben schwimmt. 

OKT 2013  Martin Steiner, Winterthur, Schweiz

Aniada a Noar - Parce a mi

Die Liederbestenliste steht für Lieder, die das radiotaugliche Format sprengen – für Lieder mit aktuellen, frechen, engagierten, kritischen und poetischen Texten. Aniada a Noar gebührt das Verdienst, genau solche Texte mit ihrer Volksmusik zu verbinden. Die steirische Gruppe ist leider immer noch ein Exot im Feld der alpenländischen „Moi haben wir""s sauglatt auf der Alm-Folklore“, mit der uns weisgemacht wird, wie die Musik im Alpenraum tönen und wie wir Alpenraumbewohner uns doch bitte fühlen sollen.

Das Lied „Parce a mi“ ist eine ins Steirische übertragene Vertonung eines Gedichts des Friulaners Leonardo Zanier. Es ist das Stoßgebet einer Frau, die allein im Bett liegt und Gott anfleht, ihre unsagbare Angst zu lindern. Die Balken des alten Holzhauses knarren. Die Nachbarn wohnen weit weg in diesen abgelegenen Höfen des Bergdorfs. „Hörst du mich denn, Gott?“ Nicht einmal er scheint sie zu bemerken. Sie wagt sich nicht mal mehr, ihren Körper zu berühren, aus Furcht, laut herausschreien zu müssen. Die Bettlaken sind neu. Die kaufte sie sich mit dem Geld, das ihr Gatte nach Hause geschickt hatte. Schön sehen sie aus mit ihren Farben. Und frisch riechen sie. Nur fehlt darin der Geruch ihres Mannes – und zeigen kann sie ihm die Laken auch nicht. Eine Solostimme eröffnet das Lied, einsam, klagend. Im Refrain kommen zwei weitere Stimmen hinzu, dann folgen ein Akkordeon und eine Flöte. Die karge Instrumentierung und die Stimmen vermitteln eine ländliche, archaische Religiosität. Der Friaulisch gesungene Refrain lässt an Kirchenlieder denken (Friaulisch gehört zu den romanischen Sprachen, die auf Vulgärlatein beruhen). Die karge Sprache und die Auslassungen schaffen eine gedrückte, abgrundtiefe Stimmung. 

Aus dem Beiheft des Albums geht hervor, dass fast sämtliche Männer des in den karnischen Alpen gelegenen Heimatdorfes von Leonardo Zanier nach dem Krieg ihr Geld in der Schweiz verdienen mussten. Die Frauen, so wollten es die Schweizer Gesetze, durften zum Schutz vor der „Überfremdung“ nicht mitkommen. So gingen die Männer eher wieder zurück, wenn sie genügend Geld gespart hatten. „Gastarbeiter“ nannte man sie, die Arbeitskräfte aus Nord- und Süditalien, aus Ex-Jugoslawien, Portugal, Spanien und der Türkei, die mit ihren Händen ihren Beitrag zum schweizerischen Bauboom leisteten. Als Gäste werden sie sich kaum gefühlt haben, und wenn schon als Gäste, dann als ungebetene. Dass sie vom Gerüst herunter den Schweizer Frauen nachriefen, war noch das Wenigste. Üble Sachen wurden ihnen nachgesagt: Katzen und Hunde sollen sie verspeist und Schweine in der Badewanne gehalten haben. Wo sie sich doch bitte hätten waschen müssen nach der Arbeit auf dem Bau. Ich erinnere mich, (man verzeihe dem Rezensenten den Exkurs ins Persönliche) wie sie stundenlang dagestanden haben am Samstagabend, diese Jugoslawen. Vielleicht waren es ja auch Friauler. Ich konnte sie als Junge nicht unterscheiden, die fremden Männer. Nur eines fiel mir auf: wie sie ins Leere starrten. Dass sie an ihre Frauen in der fernen Heimat dachten, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Jahre und Jahrzehnte später durften langgediente Gastarbeiter doch noch ihre Frauen und Familien nachkommen lassen. Trotzdem ist der Text von „Parce a Mi“ noch immer aktuell. Heute sind es Migranten aus Afrika und Asien, die in den Ländern Westeuropas nach Asyl fragen und Überfremdungsreflexe wachrufen. Auch sie mussten ihre Frauen und Kinder zurücklassen. Auswanderlieder in den verschiedensten Sprachen zeugen von diesen Schicksalen. Lieder aus der Sicht der Frauen, wie „Parce a mi“, sind jedoch eine Seltenheit.

Anmerkung: Nicht alle Lieder von Khult, der aktuellen CD von Aniada a Noar, sind so dunkel wie „Parce a mi“. Da gibt es auch Platz für Heiteres und Satirisches. Mit einer Vielzahl von Flöten, Quetschen, Saiten- und Schlaginstrumenten sorgt die steirische Gruppe für eine erdige, überraschende und passende Begleitung. Ergänzt werden die Lieder mit Instrumentalstücken, deren Einflüsse weit über die steirische Grenze reichen. Sehr empfehlenswert.

SEPT 2013  Tom Schroeder, Mainz

Dave de Bourg - Die Hymne des Unperfektseins

Dem Dieter Bohlen wieder eine Seele gestohlen – auch darum geht es in diesem Lied, selbst wenn der fromme Wunsch gar nicht von Dave de Bourg stammt. Urheber ist der Bluesmann Toscho Todorovic, ein erfahrener und erfolgreicher Sänger und Gitarrist. Als Toscho 2010 mit dem Lahnsteiner Festivalpreis, dem Blues-Louis, ausgezeichnet und dabei gefragt wurde, wann denn für ihn ein Tag richtig gut sei, antwortete er: "Wenn ich von mir sagen kann: dem Dieter Bohlen heute wieder eine Seele gestohlen!" Die ganze Klum-Bohlerei beschränkt sich ja nicht nur auf die Hamster-Räder von Casting-Shows und anderen Dschungelcamps, sie hat auch die deutsche Schlagerbranche infiziert: "Die neuen deutschen Schlagerköniginnen sehen aus wie mit einem Stich ins Obszöne aufgebrezelte DSDS-Kandidatinnen." (Georg Seeßlen, konkret 8/2013).Die gute Nachricht: Bohlens Einschaltquoten sinken. Das haben wir nicht zuletzt Toscho und Co. zu verdanken. Und Künstlern wie Dave de Bourg.

Kurz zum Künstlernamen des Liedermachers, der 1984 als jüngstes von sechs Kindern in Lahnstein geboren und auf den Namen David Steiger getauft wurde.

1) Ein Bruder hat ihm einst, um ihn für seine Vokalvorlieben zu veräppeln, den Spitznamen Dave de Bourg verpasst. Den hat David dann aus später brüderlicher Rache angenommen.

2) Haben sich schon ganz andere Interpreten mit charmanten Pseudonymen einen Namen gemacht: "Lena Meyer-Landrut", "Claudia Jung", "Peter Kraus" oder auch "Heino". Und seit einem halben Jahrhundert nennt sich einer "Gott".

"Die Hymne des Unperfektseins", eine kurze Ballade: 2:14 Minuten; freies Vor- und Nachspiel, jeweils acht-taktige Strophen und Refrains, fünf Akkorde; eine Stimme und eine Gitarre; ab der zweiten Strophe dezent begleitet von einer zweiten Gitarre und einem Piano. "Eher leichter Country- als Folktouch", notiert SWR1-Musikredakteur Christian Pfarr, also wohl eher frühe Eagles als Byrds.

Schlank, etwas schlaksig, freundlich, offen, selbstbewusst und daher bescheiden – solche Attribute sind nicht untypisch für heutige Singer/Songwriter hierzulande. Im Gegensatz aber zu einem Tim Betzko oder Johannes Oerding ist Dave ein echter Bartträger. Mich erinnert er mal an den jungen Stoppok, mal an Rio Reiser und ganz besonders an die Hamburger Schule mit z.B. Bernd Begemann, Jochen Distelmeyer und Dirk von Lowtzow. Von dessen Gruppe Tocotronic ist Dave bis heute beeindruckt.

Ach ja, der Text. Für mich ist er das entscheidende Element dieser Hymne des Unperfektseins (wäre es allein um den Gesang gegangen, hätte ich hier "Lass uns fahren" vom selben Album empfohlen). Es geht vor allem um diese zwei Zeilen "Wir wollten ans Meer / Doch wir kamen nur bis zum Fluss." Schön einfach – dieses Bild. Einfach schön. Und eher unauffällig und daher leicht zu überhören oder zu übersehen ist hier von "wir" die Rede.

Etwas Butter bei die Fisch:
„Man muss nicht immer ankommen
Man muss nicht immer schneller sein als die Anderen
Komm lass uns unperfekt sein…
Denn hier ist jeder auf der Flucht
Und niemand kriegt, was er wirklich sucht…
Wir wollten ans Meer
Doch wir kamen nur bis zum Fluss."

Wer so etwas singt, hat Mut. Auch Mut zu scheitern. Oder zu zweifeln. Und anzuhalten, innezuhalten. Abzuwägen, abzusagen. Nein zu sagen. Oder es jedenfalls einmal zu versuchen mit einer Pause beim Tanz ums goldene Ich, mitten in der "narzisstischen Epidemie" (Jean M. Twenge), beim Rattenrennen der "Narzissten, Egomanen, Psychopathen in der Führungsetage."(Gerhard Dammann). Christian Pfarr, der zuvor schon erwähnte Musikkenner und Poeta Doctus: "Die Hymne des Unperfektseins ist in sich perfekt."

Sicher stecken persönliche Erfahrungen in dem Song. De Bourg hat als Veranstaltungstechniker bis vor einem Jahr in einem Frankfurter Theater gearbeitet. Heute lebt er zusammen mit Frau und dreijährigem Sohn im Westerwald, wo er als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt tätig ist. "Inzwischen bin ich auch nicht mehr griesgrämig", sagt er, "heute kann ich mich wieder über die kleinen Erfolge freuen."

Eine Einladung zu The Voice Of Germany (SAT 1 /Pro7) hat er dankend abgelehnt, was nicht heißt, dass er grundsätzlich etwas gegen musikalische Wettbewerbe hätte. Im Gegenteil, sie müssen nur ohne allzu großes Gedöns und Gehabe sein, fair und wenig fremdbestimmt – dann ist Dave gern dabei. Wie in Mainz beim Open-Ohr Festival Pfingsten 2013. Da gab es wieder eine der Vorentscheidungen für den Rockbuster-Wettbewerb der Landesarbeitsgemeinschaft Rock & Pop. Diesmal hat David de Bourg gewonnen, ein Mann und eine Gitarre – vor hochkarätigen Rock- und Funk-Bands.

Die genannten Titel fand ich im Anhang eines großartigen Buches (auf das ich im Zusammenhang mit der "Hymne des Unperfektseins" und durch die Unterstützung von Thomas Leif gestoßen bin): 

Raimund Allebrand, Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn. Wie man mit Coolness sein Leben ruiniert. Verlag EHP, 14,99€. Eine kostenlose Kurzfassung des Buches findet man: www. SWR2 Aula vom 21. Juli 2013 

AUG 2013  Dieter Kindl, Kassel

Barth/Roemer - Mit im Tritt

Groove Chanson – so haben Astrid Barth und Philipp Roemer ihren neuen Tonträger genannt. Groove Chanson? Was ist das denn schon wieder? Eine Frage, die man erst nach dem Anhören beantworten kann. Zumindest teilweise. Denn das Kölner Duo lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken. Zu vielfältig sind die Stilrichtungen auf diesem Album: Da trifft Blues auf Chanson und Jazz auf Singer/Songwriter. Musikalisch klingt das oft vertraut. Und dann doch wieder nicht. Denn für Blues sind da ein paar Takte zu viel im Spiel, für Jazz ist es nicht anspruchsvoll genug, für Singer/Songwriter grooved es ein wenig zu viel und für Chanson ist es einfach zu deutschsprachig. Ein kruder Mix, wie Sängerin Astrid Barth auch in dem Lied "Kein Blues" unverblümt zugibt. Empfehlen möchte ich einen anderen Song von diesem Album. Einen, der zum Nachdenken anregt.

Davon gibt es etliche auf dem Album, aber "Mit im Tritt" hat es mir besonders angetan. Barth/Roemer erzählen hier von einem Mitmenschen, dem wir vermutlich alle schon einmal begegnet sind. Einem, der die Kurve kratzt, die Segel streicht, sich vom Acker macht oder den Kopf in den Sand steckt, wenn es mal ernst wird. Einem, dessen Lebensmodell aus nichts sehen, nichts hören und nichts sagen besteht – wie bei den allseits bekannten drei Affen. Und folgerichtig heißt es auch im Refrain: "Halt dich bloß da raus / Mach bloß das Maul nicht auf / Lauf lieber mit im Tritt / Dann sieht die Welt gleich anders aus / Ne eigne Meinung ist ne Last / Besser wenn du erst gar keine hast". Die Art und Weise, wie Astrid Barth diese Zeilen gesanglich interpretiert, lassen allerdings keinen Zweifel aufkommen: Sie mag solche Menschen nicht. Es ist der leicht ironisierende Unterton in ihrer Stimme, der diese Zeilen ins Gegenteil umkehrt und die Hörer somit zum Nachdenken über das eigene Handeln auffordert.

Begleitet wird sie dabei von Gitarrist Philipp Roemer, mit dem sie schon seit über zehn Jahren auf der Bühne steht. Roemer wird des Öfteren auch schon mal als "Einmann-Orchester" bezeichnet. Und auch wenn ihm im Duo diese Rolle zwangsläufig immer wieder zufällt – ist das allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn ab und zu verleiht er dem einen oder anderen Song zudem das stimmige Background-Sahnehäubchen. So auch bei "Mit im Tritt", bei dem außerdem noch Schlagwerker Thomas Meixner für den dezenten Einsatz von Perkussions-Instrumenten sorgt.

Sängerin Astrid Barth hat ein Händchen fürs Songschreiben. Ihre Texte klingen plausibel, sind aus dem Leben gegriffen und strotzen nur so vor genauer Beobachtungsgabe. Und sie laden zum Mitschmunzeln, zum Mitdenken ein. "Wenn mich etwas extrem nervt, wird im besten Falle ein Lied daraus. Aber selbstverständlich schreibe ich auch über schöne Begebenheiten. Und ich erlebe bei unseren Liveauftritten, dass unsere Zuhörer in vielen Fällen ähnlich empfinden und uns gut verstehen können", meint Astrid Barth.

Mit »Groove Chanson« knüpfen Barth | Roemer jedenfalls für mich schlüssig an ihr Debütalbum »Gewöhn Dich dran« an. Das hat es 2009 bis auf die vorderen Ränge der Liederbestenliste geschafft. Und dies wünsche ich auch dem ein oder anderen Song des neuen Albums, allen voran natürlich »Mit im Tritt«. 

JULI 2013  David Wonschewski, Berlin

Georg Ringsgwandl - Wärmetod

Erst neulich, beim hundsgewöhnlichen Gang durch die Stadt, erschien mir das Leben unter Menschen wie ein zunehmender Lauf auf Eiern. Vor einer Kasse stand ich in einer Warteschlange, die ihrerseits bereits lang genug war, um den Zugang zu diversen Regalen zu blockieren. Ein älterer Herr fiel mir auf, er versuchte zu der Auslage mit den Zeitschriften zu gelangen, vergeblich, Menschen versperrten ihm den Weg. „Hallo, da will einer vorbei!“, rief ich also laut und vernehmlich. Ein durchaus untypisches Verhalten für mich, das mich denn auch sogleich tief reute. Denn anstatt einen Preis für zupackende Menschlichkeit zu erhalten erhob sich ein murmelnder Aufruhr: Ich solle nicht so geringschätzig über den älteren Herrn sprechen. Ich solle lernen meine Worte besser abzuwägen. Ich hätte diesen feinen Mann als „einer“ betitelt – und das ginge doch wohl mal gar nicht. Mein ursprünglich edles und hilfreiches Ansinnen, ja es ging vollkommen flöten, wurde zerbröselt vom Korrektheitsdrang der offenbar sogar in Supermärkten umherstreunenden Sprachpolizei. Ob der ältere Herr – der aus mir weiterhin nicht einleuchtendem Grund scheinbar nicht als „einer“ tituliert werden darf – jemals an seine Leseware kam, ist nicht überliefert.

Was das nun mit Georg Ringsgwandl zu tun hat? Nun, auch der Kabarettist und Liedermacher muss ein ähnlich frustrierendes Erlebnis gehabt haben – oder gleich eine ganze Reihe davon. Denn das, was wir Menschen uns so schön unter dem Sammelbegriff „political correctness“ erdacht haben, es ist – genau – just jener „langsame Wärmetod“, den wir seit einigen Jahren zu sterben drohen. Bei dem Versuch, alle und jeden in ein künstliches watteweiches Reagenzglasleben zu packen, kappen wir derzeit eigenhändig eine Lebensader nach der anderen. Die pure Sprach- und Handlungslosigkeit ist die Folge, die Unmöglichkeit sich überhaupt noch intuitiv zu verhalten. Seit weit über 150.000 Jahren stapfen die Menschen über diesen Planeten und genauso lange rempeln sie sich dabei bereits gegenseitig an. Geschadet hat es uns nie, im Gegenteil. Neuerdings aber dürfen wir uns keine blauen Flecken mehr aneinander holen. „Gesellschaftliche Optimierung“ nennen das die einen. „Anfang vom Ende“ nenne ich das. Und werde dabei nun offensichtlich unterstützt von Georg Ringsgwandl, der diese Empfindung griffig auf seinem neuen Album Mehr Glanz! wunderbar griffig vertextet hat. Und noch so viel mehr Anzeichen dieser schleichenden menschlichen Verkünstelung gefunden hat.

„Rauchen ohne Nikotin, Pommes ohne Kalorien, Kaffee ohne Koffein und Fixer ohne Heroin
Arbeit ohne Plackerei, Zahnweh ohne Schmerz, Streiten ohne Schlägerei und Liebe ohne Herz
Kein Fett mehr in der Butter, im Bier kein Alkohol, Grenze ohne Zöllner, keine Kälte mehr am Pol
Wasser ohne Nässe, Hunde ohne Biss, Feuer ohne Hitze, Scherze ohne Witz
Keiner mehr zu reich, keiner mehr in Not – Zukunft ist der emotionale Wärmetod.“

Das Stück kommt in einem derart lässigen Groove daher, dass das Hören, vor allem aber das Mitsingen eine fast schon kathartisch zu nennende Wirkung mit sich führt. Einfach mal lockerlassen, einfach mal wieder menscheln dürfen, auch wenn es ordentlich rumst und kracht. Dass Georg Ringsgwandl studierter Mediziner ist, das ist bekannt. Dass er mit seinen Liedern allerdings noch effektiver zur Heilung unserer Gesellschaft beitragen kann als in einem weißen Kittel, das erleben wir hier. Großen Dank nach Bayern, all das in diesem Lied gesagte: Es musste einfach mal raus.

JUNI 2013  Mike Kamp, Bad Honnef

Daniel Kahn & Painted Bird - Die alten Lieder

„Wo sind eure alten Lieder?“ Das, genau das, treibt mich um! Zugegeben, es ist nicht das drängendste aller Probleme in diesem Land, aber es ist ein Problem und das schon seit einiger Zeit.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass ein in Berlin lebender Amerikaner sich in Deutsch, Englisch und Jiddisch, ja, gerade in Jiddisch, dieses Themas annimmt. Wo sind unsere alten Lieder? Wo sind unsere Volkslieder? Nein, nicht die tümlichen, die stadlartigen. Ich rede von den traditionellen Liebes-, Jux-, Arbeits- oder Protestliedern vergangener Jahrhunderte, die die meisten unserer europäischen Nachbarn mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit singen. Ja, es waren die braunen Horden, die einen großen Teil dieser Lieder missbrauchten, für ihre faschistische Propaganda geradezu vergewaltigten. Nicht die Lieder waren schlecht, die Naziideologen waren es. Aber haben sich die Faschisten nicht auch in Italien der Volkslieder bemächtigt und wie ist das Verhältnis der italienischen Regionen zu ihrer Tradition heutzutage?

„Wo sind eure alten Lieder?“ singt Daniel Kahn pessimistisch, „Tot sind unsre Lieder“ fährt er fort, angelehnt an Franz Josef Degenhardt, der das schrieb, als der Eindruck der Mörder in Braun noch frischer war. Ich möchte korrigieren: Tot waren sie aus bekanntem Grund. Tot sollten sie aber nicht mehr sein. Lojze Wieser schrieb in seinem Essay „Am Brunnen der Worte“ (ND 23./24.03.13) völlig richtig: „Wer nur von der einheimischen Kultur was versteht, der versteht auch von dieser nichts“ und ganz gewiss gilt hier auch der Umkehrschluss. Die traditionellen Lieder gehören nicht den Rechten, diese Lieder gehören dem Volke, uns allen. Wir sollten sie wieder singen, sie aktualisieren, denen applaudieren, die genau das machen. Diese Lieder sind unsere Geschichte, unsere Wurzeln und unsere Basis, von der aus wir für eine bessere, gerechtere Welt kämpfen. Danke, Daniel Kahn, dass Sie die Frage nach den alten Liedern wieder gestellt haben. 

MAI 2013  Michael Kleff, Bonn

Bernd Köhler und ewo2 - Lied von der Macht

Bernd Köhler und seine Mitmusiker von ewo² haben einen passenden Zeitpunkt für die Veröffentlichung ihrer neuen CD „Keine Wahl“ gewählt: das Jahr der Bundestagswahl in Deutschland. Die auf dem Album zusammengestellten „Lieder, Gesänge und Balladen aus Arbeitskämpfen“ – so der Untertitel – zeigen, dass wir wirklich keine Wahl zu haben scheinen. Zumindest nicht bei dem vorhandenen Angebot an Politikern und Parteien. Veränderungen werden nur von unten kommen, wenn die Menschen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Debattieren über die vermeintlich aussichtslose Situation reicht nicht aus, macht Bernd Köhler in dem für mich wichtigsten Lied der CD deutlich: „Doch reden ist nur eine Seite der Medaille. Reden, das lehrt die Geschichte, ist nicht viel wert ohne die Macht, ohne die Macht, ohne die Macht, die die Geschichte macht“, heißt es im „Lied von der Macht“, das als letzter Track den Geist von „Keine Wahl“ noch einmal zusammenfasst.

Da mögen einige (Musik-)Kritiker Köhler Alt-Achtundsechziger-Attitüde vorwerfen. Aber was ist falsch an einem Lied, dessen Text eine klare Aussage hat, die – musikalisch einfach, aber melodiös arrangiert – nur von einer Gitarre begleitet wird? Unsere Zeiten brauchen doch genau solche Lieder, deren Inhalt nicht durch die Form erstickt wird. Und Künstler, für die politische Inhalte in ihrer Musik nicht modisches Accessoire sind, sondern für eine Haltung stehen. Es besteht nämlich ein akuter Mangel an politisch engagierter Kunst. Wer in dieser Zeit nicht seine Stimme erhebt für eine friedvolle Welt und gegen den Wahn der Menschheit, sich selbst und die Erde durch Gier und Dummheit gezielt zu vernichten, „der hat es nicht verdient, eine öffentliche Stimme zu haben“, sagt Konstantin Wecker. Er fordert stattdessen gesellschaftlich- und zukunftsrelevante Kunst, Kunst, die auf Seiten der Unterdrückten steht. Wie das am Beispiel Lied aussehen kann, zeigt Bernd Köhler mit seinem Album „Keine Wahl“ und da besonders mit dem „Lied von der Macht“, dem ich besonders viele Hörerinnen und Hörer wünsche. 

APR 2013  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Kitty Hoff & Forêt-Noire - Gleichgewicht

Es ist so eine erste Anmutung von Frühling, die diese Musik durchzieht. Dieses noch milchig-fahle Licht, das aber schon wohlig warme kommende Tage verheißt. Diese sanft schaukelnden Rhythmen, die von einem lässigeren Zeittakt künden. Ja, und auch diese zarte, leicht selbstvergessene Stimme, mit der die zur Großstadtpflanze gewachsene Kitty Hoff, in Münster geboren, in Berlin lebend, von der nächsten Landpartie zu träumen scheint.

Träume, Träume und wieder Träume: Es wirkt auch ein wenig aus der Welt, wie Hoffs Begleiter, die sich französisch elegant Forêt-Noire nennen, aber natürlich nicht aus dem Schwarzwald kommen, ein luftig leichtes Klangkleid um die sehnsuchtsvoll-verspielten Chansons legen. Argonautenfahrt taufte die muntere Truppe ihre neueste musikalische Ausfahrt mit elf Stationen, und fürwahr: Es ist eine Reise in ein so ungefähres wie lebhaft die Fantasie anregendes Sagenreich.

Man muss wohl nicht extra betonen, dass die jazzig beschwingten Lieder nicht um die großen politischen Fragen kreisen. Die Station der Argonautenfahrt, bei der ich mich am wohlsten gefühlt habe, trägt den schlichten Titel „Gleichgewicht“. Es handelt sich um eine sicher nicht ganz ernst gemeinte philosophische Betrachtung über das Leben im Allgemeinen – irgendwie so verdreht und überdreht, so liebenswert naiv wie das Keyboardsolo in der Mitte. Kostprobe:
„Im Grunde ist alles ein riesiger Spaß
Wir löchern das Leben und fall‘n tot in‘s Gras
Der eine sah Licht und der andere nicht
Das ist Gleich-, das ist Gleich-, das ist Gleichgewicht“

Sehr nett. Und nicht nur beiläufiges Wortgeklingel. Was Kitty Hoff uns wohl mitteilen will, damit rückt sie ein paar Verszeilen weiter heraus. „Im Grunde ist alles ein grandioser Schmu / Wir spielen Theater und niemand schaut zu“. Das alte Lied also: die schmerzliche Lücke zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Realität, zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Doch es kann auch eine sehr lustvolle Sache sein, mit eigenen Erwartungen, mit den Grenzen der Wahrnehmung zu spielen. Das führen uns Kitty Hoff und Forêt-Noire in nahezu jedem Takt hier vor. Man nimmt mit Freude zur Kenntnis, dass Anna Depenbusch oder Lisa Bassenge musikalisch recht nahe sind in dieser eher leisen, versteckt ironischen Liedkunst. Kitty Hoff mimt die souveräne Dame und das süße Fräulein. Die für jeden knifflige Aufgabe, Balance in sein Leben zu bringen, hat sie zumindest in ihren vertonten Drei-Minuten-Gedichten charmant gelöst. Das ist Gleich-, das ist Gleich-, das ist Gleichgewicht. 

MÄRZ 2013  Hans Reul, Eupen/Belgien

Köster, Hocker & Band - Rääch ze wisse

Kaum einer versteht es so ungezwungen locker, kleine Geschichten des täglichen Lebens in Lieder zu packen wie Gerd Köster. Da werden die Worte zu Bildern, Songs zu kleinen Filmen. Auch auf der aktuellen Live-CD Höösch Bloot, auf der Köster gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten Frank Hocker und Band skurrile Szenen und Typen vorstellt.

Wer kennt ihn nicht, den ach so netten, zuvorkommenden Hausmeister, der doch nur das Beste will und alles genau kontrolliert? Was kann dieser verhinderte Blockwart nicht hetzen und stänkern. Zumal wenn sich der Nachbar so gar nicht an die vom unserem Oberwachtmeister festgelegten Regeln hält. Wie kann man es aber auch nur wagen, anders zu sein als die meisten?

Diese kleine Nachbarschaftsszene erzählt Gerd Köster auf seine unverwechselbare Art und Weise. Man sieht den Platzwart förmlich vor sich, hört seine Stimme. Hier unterstreicht der kölsche Dialekt noch die Alltagssituation, verleiht ihr Authentizität. Dabei ist aber auch der Schuss Ironie zu spüren, der dem Ganzen ebenfalls zugrunde liegt. Ebenso die Boshaftigkeit dieses unverschämt Neugierigen, der am liebsten noch die Post seiner Mitbewohner lesen würde. Er hat doch das Recht alles zu wissen. „Rääch ze wisse“ ist der Titel des Liedes.

Die kleine Geschichte wird ganz zart von der Gitarre und sanftem Schlagzeug begleitet. Aber dann bleibt einem doch das Schmunzeln im Hals stecken, denn so harmlos ist unser Aufpasser nun doch nicht. Wie schreibt schon Friedrich Schiller im Wilhelm Tell und sang Jahre später Ulrich Roski: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ 

FEB 2013  Christian Beck, Berlin

Georg Clementi - Das Kopftuch

Glatze, Nasenring, Kommunismus, gleichgeschlechtliche Liebe, Wasserpfeife, Musik – hat alles nichts genutzt. Und nicht einmal Magersucht würde bei der gepiercten Frau Mama und Herrn Harley Papa wohl ernsthafte Reaktionen hervorrufen. Aber ein Kopftuch! 2003 versuchte Fereshta Ludin, vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg und dem Bundesverwaltungsgericht zu erstreiten, trotz ihrer Absicht, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen vom Land Baden-Württemberg als Lehrerin eingestellt zu werden. Seitdem stehen anhand der Kopfbedeckung stellvertretend alle Arten von Fragestellungen und Phänomene zur Diskussion, die sich daran festmachen lassen – religiöse wie weltanschauliche wie rechtliche.

So auch die Bedeutung, die das Kopftuch in Deutschland unterdessen auch unter Mädchen ohne Migrationshintergrund als Mittel zur Provokation erlangt hat. Harald Martenstein schrieb darüber 2010 einen kurzen Text in der Wochenzeitung Die Zeit. Georg Clementi aus Salzburg ließ sich von diesem zum zugespitzten Selbstporträt einer 17-jährigen Tochter aus nahezu unbegrenzt tolerantem Hause inspirieren: Amelie-Sofie hat das Kopftuch und den Islam als letztes taugliches Mittel entdeckt, ihre Eltern am Ende doch noch aus der Fassung zu bringen.

Die Blickwinkel aller Beteiligten und Betroffenen verschwimmen dabei flächendeckend – von der Motivation über die Stoßrichtung des jeweiligen Debattenbeitrags bis zum Ergebnis, das er erzielt. Familien, Gesellschaft, Staat – klare Positionen, unanfechtbare Haltungen gibt es im Zweifel so wenig wie einfache Antworten. Noch im Detail – der Frage Kopftuch oder nicht – sind hier die globalen Hintergründe präsent, auf denen das Thema überhaupt erst eines werden konnte: die großen Religionen, die Rivalität der Systeme, der Riss durch die Welt, in der über diese Dinge gestritten wird.

Eine Aufgabe für die Ewigkeit, die ganz sicher so schnell nicht zu lösen sein wird. Und auch in „Das Kopftuch“ gibt es keinen Standpunkt, auf dem man sicher wäre – nicht zuletzt vor der Frage der eigenen Haltung zum Problem. Womit das Lied schon einmal über eines der gewichtigsten Qualitätsmerkmale verfügt, über das Lieder zu aktuellen Themen verfügen können: Unentscheidbarkeit, einen bleibenden Konflikt. Im vorliegenden Fall, in dem auf erstaunliche Weise noch im Kleinsten niemals das Große und Ganze verloren geht, ganz besonders.

Ausgesprochen gut bekommt dem heißen Thema, dass es hier im leichten Reggae Riddim so gefällig groovend daherkommt. Griffiges melodisches Grundmotiv, klare Struktur, entspannter Rhythmus, luftig locker schwebender, ausgesprochen freundlicher Grundduktus – wenn auch immer wieder gekontert von den energisch zupackenden Ausbrüchen Clementis, wenn die kurze Grundsatzrede etwas Nachdruck verlangt. Das alles mit Sigrid Gerlach-Waltenberger und Tom Reif in höchstem Maße sachdienlich gekonnt dargeboten. Und wohl ganz offensichtlich auch noch mit einiger Ironie – wobei auch nach noch so häufigem Hören nicht wirklich recht klar werden mag, mit welcher Stoßrichtung nun genau, und gegen welche der Standpunkte in Frage.

Bleibt zu erwähnen, dass Georg Clementi auch noch in einem weiteren Punkt, völlig getrennt vom spezifischen Liedinhalt, mit „Das Kopftuch“ und dem Album, dem es entstammt, eine geschickte Platzierung zwischen allen nur denkbaren Positionen gelingt, die Künstler wie Rezipienten jeweils einnehmen mögen. Eine verblüffend konfliktträchtige, regelrecht verstörende Platzierung mitten in den Fangnetzen des Marktes, die bei dem Autor dieser Zeilen jedenfalls einigen Widerwillen hervorruft: Die Zeitlieder, so der Albumtitel, basieren nämlich nicht nur im Fall von „Das Kopftuch“ auf Artikeln der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit – sondern allesamt.

Clementi dokumentiert dies nicht nur im Albumtitel, der so gesehen natürlich Sinn ergibt, sondern darüber hinaus auch zum Beispiel in der Original-Schrifttype des Medien-Schwergewichts, die für die Liedersammlung auf dem Cover verwendet wird, und in Links von der Homepage des Künstlers zu den jeweiligen Inspirationsquellen. Unablässige Werbung für ein spezifisches Print- und Onlinemedium also von A bis Z, vom ersten Ton der Zeitlieder bis zu ihrem letzten. Beziehungsweise natürlich sogar eine Art Cross Promotion, denn umgekehrt landet auf diese Weise ja schließlich vor allem das Zeit-Renommee bei Leuten, die das Blatt schätzen, in der Waagschale des Liedermachers.

Man darf schätzungsweise davon ausgehen, dass dies nicht ohne beiderseitiges Einverständnis geschieht – ein Arrangement, das sicherlich nicht wenige mit Bauchschmerzen zurück lassen wird. Und sei es auch bloß wegen verschärften Fremdschämens darüber, dass da einer seine Lieder offenbar samt und sonders und ausschließlich seinem Zeit-Abonnement verdankt – und damit auch noch hausieren geht. Man möchte gar nicht wissen, wo das als nächstes hinführen mag: Lieder, die von den Produkten der Firma Tolle Wurst XY inspiriert wurden? Gesänge zum rettenden besseren Verständnis der Käsepartei Z?

Kontroversen statt Konsens; Konflikte bebildern statt mit billigen Patentlösungen daher kommen; Werbung, Testimonial, Produkt – viel Stoff für manche Meinungsverschiedenheit, Auseinandersetzung, Ärger und Streit. Und ordentlich Selbsterkenntnis, gern auch unbequeme, wenn die Dinge dann ein Stück ausdiskutiert sind.

Dazu zumindest für Freunde eingängiger Popmusik einiger potenzieller musikalischer Genuss – viel mehr kann man von einem Lied nicht verlangen. 

JAN 2013  Hans Jacobshagen, Köln

Anna Depenbusch - Benjamin

Es ist ein Beziehungslied. Eine Geschichte, die jeder und jede so oder ähnlich schon mal erlebt hat. Mit ein bisschen Wehmut beschreibt Anna die Affäre mit Benjamin, die dann auseinanderging, „als wir uns mit anderen Augen sahen“. So weit so gut. Doch dann muss sie mit anhören, wie nebenan die neue Frau in eindeutiger Situation den Namen „Ben-ja-benjamin“ skandiert. Das kommentiert sie denn auch gleich: „Es ist ja schön, wenn man sich liebt, aber blöd, wenn man daneben liegt.“ Aber auch das ist schon recht lange her und seit Tagen liegt neben ihr ein neuer Mann, und der heißt Jan.

Anna Depenbusch erzählt das mit ganz viel Witz und Ironie, mit Weh- und Unmut. Das klingt mal verletzlich, mal entschlossen, mal verträumt. Der Höhepunkt ist, wenn sie den Orgasmus auf „Benjamin“ singt. Die Peinlichkeit der Situation ist lustig und lässt einen schmunzeln. Das funktioniert, weil Anna Depenbusch eine wunderbare Erzählerin ist, die Worte und Reime richtig zu setzen weiß. Mit ihrer außergewöhnlichen Stimme illustriert sie die Erzählung nuancenreich, begleitet ausschließlich vom Klavier. Da ist sie besonders stark, da kommt ihre Stimme ganz besonders zur Geltung. Ihre letzte Produktion Die Mathematik der Anna Depenbusch gab es zweimal, einmal mit ausgefeilten Arrangements und einmal nur mit Klavier, letztere Version hat mir besser gefallen. Ach ja: Die Geschichte geht weiter, mit Jan. Das singt sie mit einem Augenzwinkern. Was wohl Benjamin dazu sagen wird? 

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