Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2016  Barbara Preusler

Jürg Halter: Us emene lääre Gygechaschte

Mani Matter (1936 – 1972) gilt noch immer als der herausragendste Chansonnier der Schweizer Mundartszene. Anlässlich vieler Gedenkveranstaltungen zu seinem 80. Geburtstag wurde einiges von seinem Liedgut gecovert und gesungen. Dabei gelang und gelingt es nur wenigen Künstlern, Matters Lieder glaubwürdig zu interpretieren. Mich langweilt es, Künstlern zu lauschen, die krampfhaft den typischen Matterstil in einer Dauerschleife kopieren oder gar seine feinen, kritischen Texte mit unpassenden Arrangements übertönen. Die Finessen der kritischen und spitzigen Liedbilder Matters sind meisterlich und es bedarf sehr viel künstlerische Sensibilität, diese in unserer heutigen Zeit neu zu malen.

Der Verlag Zytglogge präsentiert mit dem Album „Und so blybt no sys Lied“ eine Hommage an den Meister des Berner Chansons. Ich finde darauf viele junge Künstler. Das Album ist gelungen. Frisch und mit Phantasie werden Matters Texte in unsere Zeit gebeamt.

Besonders poetisch und schauerlich zugleich ist für mich Jürg Halters neu arrangiertes und ins Hochdeutsche übersetzte Lied „Aus einem leeren Geigenkasten“. Es lässt mich aufhorchen. Halter ist ein Künstler mit Stil, ein unverwechselbarer Stimmungsmaler. Er ist ein Künstler, der die Sprache und deren Inszenierung beherrscht. Ich bin begeistert.

„Aus einem leeren Geigenkasten“ ist ein Antikriegslied der besonderen Art. Der Text ist aktueller denn je. Es brennen die Welten und die Seelen mit ihr. Das Lied kommt schaurig schön daher, es zeichnet die spezielle Stimmung zart und brutal. Jürg Halter setzt seine Stimme genau auf den Punkt, er gestaltet gekonnt. Geschickt sind seine textlichen Ergänzungen. Die Sounds werden perfekt eingesetzt. Halter gibt dem Lied Aktualität, es ist Halters Lied geworden. Es ist jetzt und heute, leider auch morgen, aktuell. Ein Warnsignal, ein stumm gewordener Aufschrei gegen das Morden, gegen das Unmenschliche, was täglich und überall passiert. Halters Interpretation zeigt unsere Machtlosigkeit, unser Hinterfragen, unsere Verantwortung, unser Vergessen und sie zeigt mit letzter Konsequenz, was Krieg aus unseren Seelen macht.

„Aus einem leeren Geigenkasten
zieht er sein Instrument
und der Kasten verschwindet
und er spielt ohne Bogen
ein Lied ohne Worte“

Das kurze Sound-Intro stimmt mich ein und erzeugt Spannung. Der Erzählgesang Halters geht tief in Kopf und Herz, kommt aber leicht und berührend nah daher.

„Und er trägt einen Zylinder
doch drunter keinen Kopf
und keinen Hals und keinen Leib
keine Arme, keine Beine,
das hat er alles verloren im Krieg“

Brutale, klare Aussage – wir haben alles zu verlieren.

„Alles verloren im Krieg
und so bleibt noch sein Lied
nur dieses ist noch da
denn auch einen Zylinder
hat er nie einen gehabt“

„So lauschen wir dem Lied
zunehmend unsicher
ob"s uns noch gibt
ob"s uns noch gibt
ob"s uns noch gibt
ob"s uns noch…“

„Und er spielt ohne Bogen
ein Lied ohne Worte
ohne Worte, ohne…
ohne Worte, ohne…“

Der Mensch demontiert sich selbst. Klimawandel. In der Politik. In der Gesellschaft. In der Natur. Beängstigend die Aussagen im Lied, die uns zwingen, bis zum Ende zu lauschen. Halter bleibt Halter. Auch die Gänsehaut bleibt. Ich höre Jürg Halters Chanson wieder und wieder. «Und so bleibt noch sein Lied».

 

NOV 2016  Maxi Gaudlitz

FloBêr: Arschkarte

Blickt man auf das derzeitige rasante Treiben und Rotieren der Welt, in der sich zuweilen das Gefühl einstellt, dass positive Nachrichten nur noch im sonst uninteressanten Sportteil zu finden sind, so fragt sich der*die aufmerksame Weltenbürger*In doch, wer diesen schicksalhaften Kartenstapel - das Blatt des Welt- und Individualgeschehens - wohl gemischt hat und warum diesem*r Trickbetrüger*In für sein*ihr unfaires Spiel, mit dem was ist und kommt, noch keiner inhaftierte; und ob und wie viele eigentlich die Arschkarte zogen und wie man sie - um alles in der Welt - wieder los wird.

„Das Leben ist ein Kartenspiel, die Karten schlecht gemischt. Wenn der große Geber austeilt, wird das Schicksal aufgetischt. Der eine kriegt die Trümpfe, der andere kriegt den Dreck.“, singen so auch Bernard P. Bielmann und Florian Krämer, umwoben von Gitarren- und Akkordeonklängen, dem treibenden Schlag des Cajon und dem sonoren Tönen des Basses in ihrem Lied „Arschkarte“ vom Debütalbum „VonWegen“ ***.

Der Austausch über die Ungerechtigkeit der Welt auf gesellschaftspolitischer Ebene findet zwar oft an Parteistammtischen ihren angestammten Platz, doch häufig bleibt, wo die hohen Tiere hitzig debattieren, am Ende oft doch nur heiße Luft. So erfrischend dann, wie das Liedermacher-Duo mit seinem Lied „Arschkarte“ nicht nur an diesen Beinen eingestaubter Debattiertische ein wenig ruckelt, sondern ebenso am Zahn der Zeit, indem es die vielschichtigen Dimensionen von Ungerechtigkeit, Chancengleichheit und Diskriminierung singend und auf einer Metaebene streift. Doch noch mehr: so grinsen sie gleichzeitig mit schelmischen Augen den ewigen Pessimisten frech ins schwarzmalerische Angesicht und sprechen zwischen den gezielt provokant-ironischen Zeilen auch die Worte: nimm das Bewusstsein über dieses schlechte gemischte Kartenblatt und tu etwas dagegen. Denn „[b]ei manchen steckt im Ärmel n‘ Trumpf oder n‘ Ass.“, die zuweilen nur im richtigen Moment gespielt werden müssen, um die Arschkarte temporär oder endgültig ins Feuer zu werfen oder auch mit den denkbar schlechtesten Karten auf der Hand und einem guten Bluff noch das Blatt wenden zu können. So sind die Zeilen nicht – wie vielleicht dem ein oder anderen scheinen mag – resigniert, sondern heiter-ironisch und in der Aufforderung des Wegwerfens der Karten steckt ebenso viel ein Hieb in die Seite, sich der Arschkarten des Lebens zu entledigen.

Das Lied berührt mich mit einem Spielraum der Interpretation von der persönlich-emotionalen bis zur gesellschaftspolitischen Ebene – vom Mikro- bis zum Makrokosmos und ist dabei in versierte Klänge zweier heiterer, kritisch-blickender und -denkender Vagabunden gehüllt. Bernard P. Bielmann und Florian Krämer schaffen es mit dem Song das schwere Bewusstsein der Erkenntnis, ebenso wie die Leichtigkeit der Möglichkeit zur Veränderung zu besingen. Nicht nihilistisch, sondern fröhlich-polternd, nicht zeigerfingerreckend, sondern sich dem kurzen Moment des Ärgers hingebend, um dann voranzugehen. So sympathisch ist es, dass das Lied nicht versucht moralisch zu sein, sondern auf die innere Hupe zu hauen, damit auch ein jeder selbst aufschreckt. Wenn du eine Arschkarte gezogen hast, dann setz eben Karten-vorangestelltes Teil in Bewegung. Denn: „[…] [D]ie Arschkarte sticht.“

Der Song in seiner Mannigfaltigkeit und seinem tanzbaren Groove hilft sowohl über eine schlechte Laune, einen schlechten Tag, als auch über eine länger anhaltende Frustration mit dem oft waltenden Unrecht der Welt hinweg, - am Ende hat man vor allem Lust zu lächeln, zu tanzen und selbst bei dem neuen Blatt mitzumischen.

In diesem Sinne – Danke Flobêr für dieses Stück Liederatur: All in und den Arsch in Bewegung!


*** Von welchem im Übrigen ausgewähltes Lied „Arschkarte“ nur einer der vielen Trümpfe ist.

OKT 2016  Michael Laages

Hisztory: Fanny Apfelbaum oder Als der Totengräber starb

Bei uns daheim 

Kennt noch jemand Joseph Apfelböck? „Ein deutscher Mörder“, sagen die Archive; gerichtsnotorisch seit 1919, als der 16jährige Münchner ohne erkennbaren Grund die Eltern ermordete. Eingegangen in die Literatur ist Apfelböck mit der Ballade, die seinen Namen trägt; im Untertitel: „Die Lilien auf dem Felde“ – 1927 stand sie in der „Hauspostille“ von Bertolt Brecht, der Joseph zu Jakob machte, sonst aber nicht viel veränderte. Neuerdings hat Apfelböck einen sehr entfernten Verwandten – der heißt „Fanny Apfelbaum“, und der Straßenmusikant „Hisztory“, früher unter dem Namen „Fidl Kunterbunt“ in der linksalternativen Subkultur unterwegs, beschwört mit ihm die Erinnerung an einen wie ihn, wie diesen Totengräber in allerentlegenster sächsischer Provinz.

Zugegeben: Das ist ein bisschen viel Umweg, um zur Sache zu kommen – aber die Abschweifung ist unbedingt nötig und durchaus nützlich. Weil es nämlich Lieder wie dieses eigentlich schon lange nicht mehr gibt: mit Strophen, die mit Daten und Details eine womöglich fiktive, womöglich reale historische Persönlichkeit erstehen lassen in der Phantasie der Lieder-Kundschaft, und mit Refrains dazu, die zu einer Art Mantra unanpassbaren Überlebenswillens werden. Denn auch dieser Totengräber, das Unikum im Dorfe, ist ja gestorben; aber mit dem Lied unternimmt „Hisztory“ den Versuch, die Fabel durchaus episch, also in einer großen, langen Erzählung, zu einer Art Welt-Parabel zu erweitern. Selbst Einzelgänger wie Apfelbaum sterben, jaja, da beißt die Maus keinen Faden ab … aber auch wenn die Geschichte unwiederholbar bleiben wird, gibt’s irgendwie-irgendwann-irgendwo auch neue Apfelbäume. Jedenfalls bei uns daheim, wo solche Typen aus der Erde wachsen, scheint das Lied zu sagen.

Und mit dieser großen und nicht nur leuchtend gemütlichen Phantasie, destilliert aus der einer tatsächlich eher simplen und wenig spektakulären Lied-Erzählung, kommt „Hisztory“ (der unter dem bürgerlichen Namen David Meißner in Leipzig zu leben scheint) der alten und viel gröberen Brecht-Ballade vom Jakob Apfelböck erstaunlich nahe. Wer Brecht noch die eigenen Balladen zur Gitarre singen hörte in historischen Aufnahmen, bekommt zudem eine Ahnung zum Zusammen-Klang von Story und Lied auch heute bei „Hisztory“.

Außerdem ist der Straßen—, Kneipen-, Demo- und Untergrundsänger offenkundig rein stimmlich beim viel zu früh verstorbenen Gerhard Gundermann in die Baggerfahrer-Lehre gegangen. Aber er hat sie auch rechtzeitig abgebrochen, damit keine Kopie draus wurde. So sind tatsächlich sehr interessante Entdeckungen möglich auf den beiden CD-Produktionen, die „Hisztory“ in die Lieder-Welt geschickt hat; und „Fanny Apfelbaum oder Als der Totengräber starb“ ist eine davon.

Anmerkung: Versehentlich stammt das Lied der Persönlichen Empfehlung aus dem älteren der beiden Alben (2014). Da uns dies zu spät auffiel, war keine Zeit mehr, die Persönliche Empfehlung auszutauschen… Daher aktuell auch hier die Bitte: unbedingt das Veröffentlichungs-Datum bei CD-Zusendung/Bewerbung angeben bzw. nur Veröffentlichungen zusenden, die nicht älter als 6 Monate sind. Danke!

SEPT 2016  Ingo Nordhofen

Wolfgang Rieck: Vergessene Helden

Zappt man heutzutage durch die Fernsehkanäle, stößt man unweigerlich irgendwo auf eine Sendung zum Thema Nationalsozialismus. Tagtäglich bekommt man die Gräuel der Nazizeit serviert, oft in reißerischer Aufmachung, wohl eher, um uns zu „unterhalten“. Seltener, um wirklich über unsere Geschichte zu informieren. Stets geht es dabei um schreckliche, negative Ereignisse, mit Ausnahme einiger weniger Beispiele, dass Menschen auch Zivilcourage gezeigt haben. Sei es die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um die Geschwister Hans und Sophie Scholl oder jene um den Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, deren Attentat auf Hitler scheiterte. Dass es neben den Paradehelden der Deutschen viele andere gegeben hat, die ebenfalls Kopf und Kragen riskiert haben, ist den wenigsten bewusst. 

Wolfgang Rieck führt in seinem Lied Vergessene Helden eine ganze Reihe von ihnen auf. Es waren ganz alltägliche Menschen, die lieber ihrem Gewissen folgten als den politischen Parolen der Nazis. Sie alle nutzten ihre jeweilige Lebenssituation und Position, um unschuldig in Lebensgefahr geratenen Menschen zu helfen. Dabei gerieten sie und ihre Angehörigen selbst in Gefahr, doch, so ein Ehepaar, davon überzeugt, dass „unsere Kinder besser tote Eltern als feige Eltern hatten“. 

Musikalisch ist das zunächst angelegt, als hätte Pete Seeger den Song geschrieben. Es geht los mit einem Banjo. Doch schon bald schleichen sich schräge Töne ein, disharmonisch, bedrohlich, bizarr, in erster Linie vom Streichquartett United Strings produziert. Das geht unter die Haut. Dazu erzählt Rieck die Geschichten. Nur im Refrain singt er, und es sind die Fragen, die wir uns alle stellen sollten: „Was soll ich tun in diesen Zeiten? Mach ich mich klein oder richte ich mich auf?“ Seine Antwort: „Gott, lass mein Leben nicht entgleiten – nehme gegen Unrecht mein Ende in Kauf.“ Wäre das auch unsere Antwort? Deine? Meine?

AUG 2016  Barbara Preusler

Dodo Hug: Gueti Reis

Ja, man hört sie viel, diese Lieder über Flüchtlinge und das damit verbundene Leid. Sie kommen in allen Variationen daher, moralisch, sensibel, mit und manchmal leider auch ohne Qualitätsanspruch. Braucht es noch mehr dieser Lieder? Oder sind sie bloss ein "Muss", eine moralische Verpflichtung? Ja. Wir brauchen diese Lieder. Eine grosse Mehrheit der Gesellschaft in Dörfern und Städten setzt sich mit viel Engagement für eine solidarische Gemeinschaft ein. Diese europäische Willkommenskultur soll gelingen und die Macher werden für die musikalische Unterstützung danken.

Ein Lied vom Franz Hohler (Jahrgang 1943 – Schweizer Kabarettist, Schriftsteller, Liedermacher) entlarvte schon in den 80er Jahren Scheinheiligkeit und "Bünzlidenken". Es hat leider an Aktualität nichts verloren. Mich nimmt es mit in die sauberen Häuschen mit den klar ausgrenzenden Gartenzäunen und in die eingeschlossenen Gedanken, versteckt hinter dem Pseudonym "Patriotismus". Das Lied dringt in die tiefe Seele der Spiessigkeit. Es erzählt über Verdrängung und Egoismus. Textlich hervorragend in Wortwahl und Stil, findet die Poesie des Liedes einen gnadenlosen, satirischen Bogen von der 1. bis zur letzten Strophe. Eine Lektion in Wohlstandsüberheblichkeit: „ich doch nicht“, „was geht mich fremdes Leid an“, „jeder ist doch selbst an seinem Leben Schuld“, „bleib dort, wo Du hergekommen bist“, „du passt nicht hierher“ und so weiter und so weiter. Verrohung, gepaart mit Doppelmoral. Die Welt geht grad bis zum Gartenzaun und wird scheinheilig verteidigt. Die Kritik im Song richtet sich an den Schweizer, die Interpretin übernimmt die Rolle der "Möchtegernsauberfrauen und -männer". Unliebsame Gegebenheiten werden ganz „sanft und lieb“ mit grosser Bosheit bereinigt, versandet, ausgekantet – man ist eben nett. Ich bezeichne das als aggressive Freundlichkeit. Der beeindruckende Text demaskiert die herzlosen Fratzen. Die Interpretation von Franz Hohler ist knorrig, eindrücklich und fährt ein. Dodo Hug und Efisio Contini haben es neu interpretiert und dem Lied musikalisch einen eigenen Stil gegeben. Beachtlich.

Für Dodo ergänzte Hohler sein Werk mit zwei aktuellen Strophen. Die grosse Dame des Schweizer Chanson, Dodo Hug, bevorzugt Berndeutsch und schlüpft mit warmer, kräftige Stimme in die Rolle der heimeligen "Jöö-Spiesserin". Mit einem fast volkstümlich verspielten Arrangement unterstreicht der Sprechgesang (nur in der ersten und letzten Strophe) mit der klaren Stimme Dodos den bösen Text.

Arrangements und Musik sind die gemeinsame Arbeit von Dodo Hug und ihrem Lebenspartner, dem markanten Musiker mit sardinischen Wurzeln, Efisio Contini. Neben dem Gesang der Beiden bedient Dodo die 12-String Guitar, Efisio alle Guitars, Mandolinen, Samples und Loops. Hervorragend unterstützt im Backing Vocals von Yvonne Baumer und Robi Rüdisüli mit Accordion.

Auf den Punkt gebracht:
Üsi Milch isch im Chüelschrank
(Unsere Milch ist im Kühlschrank)
u ds Gält uf dr Bank
(und das Geld auf der Bank)
Üses Öl isch im Chäller u ds Schiizüüg im Estrich
(Unser Heizöl ist im Keller und die Ski auf dem Dachboden)
Was mer bruuche zum Läbe-n-isch da Gottseidank
(was wir brauchen zum Leben ist da, Gott sei Dank)

Der Refrain:
Gueti Reis, blibet gsung u chömet guet witer!
(Gute Reise, bleibt gesund und kommt gut weiter)
Dir wäret bi üs äuä nie richtig wohl
(ihr würdet Euch bei uns sowieso nie richtig wohl fühlen)
Öii Ouge si z dunkel, öii Näme sy z schwierig
(Eure Augen sind zu dunkel, Eure Namen sind zu schwierig)
Dir gseht"s doch o y, üses Boot isch scho voll
(ihr seht es doch auch ein, unser Boot ist schon voll)

Es ist böse Satire. Die Interpretin zeigt uns Charaktere auf, die wir nicht nur in der Schweiz finden. Abschiebung, Abgrenzung im Kopf - die Solidaritätsverweigerung einer bestimmten Gesellschaftsgruppe. Denker „Wir sind doch nicht rechts, aber…!“ werden vorgezeigt: Schuld haben immer die Schwächsten, die Heros aber sind wir hier.

Dir heit keni Päss u Dir heit keni Stämpfel
(ihr habt keine Pässe und Ihr habt keine Visa/Stempel)
Dir chöit e ke Sprach u dir machet"s üs schwär
(ihr könnt keine Sprache und ihr macht es uns schwer)

Betroffen und beklemmend auch Strophe 5:
Was geit-n-is das a, we dir Chrieg heit deheime?
(Was geht uns das an, wenn ihr zu Hause Krieg habt?)
De lueget halt besser zum eigete Huus!
(Kehrt lieber besser vorm eigenen Haus)
Wär ohni Papyr i d Schwiz wött cho hocke,
(wer es sich ohne Papiere in die Schweiz bequem machen will)
Dä flügt halt am Änd wider hingerzi drus
(der fliegt am Ende gleich wieder rückwärts raus)

Die letzte Strophe, lässt ein trauriges Gefühl zurück. Es ist auch Einsamkeit und lässt das „gute oder böse“ Ende offen.
U mir blybe zrügg mit em Fleisch i dr Gfrüüri
(und wir bleiben hier mit dem Fleisch im Gefrierschrank)
Myt flissigem Gmüet u bescheidenen Charme
(mit fleissigen Gemüt und bescheidenen Charme)
S"isch Winter zringetum u mir heize-n-u heize
(es ist Winter im Land und wir heizen und heizen)
U doch het me ds Gfüehl, es wärd nie richtig warm
(Und doch hat man das Gefühl, es würde nie richtig warm)

Dodo Hug ist eine künstlerische Entwicklung gegangen von leichten Chansons bis zu internationalen Liedinterpretationen, vom Volkslied bis zum Kabarett. Ihr Anspruch an künstlerischer Qualität beweist sie mit dem Album »Sorriso Clandestino« und dem Lied »Gueti Reis« allemal. Immer mehr setzt sie sich mit dem Erbe gesellschaftlich relevanter Lieder auseinander. Nun schenkt sie uns dieses Lied in bester Qualität und neu interpretiert. Es ist meine Empfehlung, weil es in Worte fasst, was ich hier und da sehen kann: auch im Sommer heizen und heizen wir und doch wird es nicht so richtig warm ...

Danke Franz Hohler, danke Dodo und Efisio für ein Lied das man nicht vergisst.

Weitere Informationen:
www.dodohug.ch

Album: Sorriso Clandestino 

 

JULI 2016  Silke Aydin

Reinhard Mey: Dr. Brand

Manchmal nagen Dinge und Begebenheiten am eigenen Gewissen, die man leider nicht wiedergutmachen kann – weil sie zu lang her sind, Reue und Einsicht zu spät kamen und beteiligte Personen längst nicht mehr auf dieser Welt weilen. Auch Reinhard Mey trägt so eine Last mit sich – hat er doch als Schüler begeistert an den Streichen und Schikanen gegen Dr. Brand, seinen Lateinlehrer, teilgenommen. Mobbing würde man heute dazu sagen…

Dabei war Dr. Brand eigentlich ein sehr netter Lehrer, hilfsbereit und freundschaftlich seinen Schülern gegenüber. Aber er war auch ein leichtes Opfer, nicht durchsetzungsfähig und labil. Und an solchen Menschen lassen frustrierte Schüler dann eben gerne mal ihren Frust aus.

Reinhard Mey hat schon viele Lieder über seine Schulzeit gesungen… „Faust in der Hand“, „Zeugnistag“, „Und nun fängt alles das nochmal von vorne an“… - Klagelieder über die Schwere der eigenen Schulzeit und das Unverstandensein. Mit „Dr. Brand“ beleuchtet er nun auch einmal die Situation aus einer anderen Perspektive: Es gibt Lehrer, die ihren Schülern das Leben schwermachen – aber eben auch Schüler, die ebensolches mit ihren Lehrern tun. Und weil ich kürzlich in der Schulklasse meines Sohnes die Erfahrung machen musste, dass es heutzutage leider sogar von Eltern initiiertes Mobbing gegen Lehrpersonen der Kinder gibt, liegt mir persönlich dieses Lied ganz besonders am Herzen…

Jahre später hat Mey dann erfahren, dass Dr. Brand im Konzentrationslager den rosa Winkel tragen musste und das Kriegsende seine Rettung war. Diese Erfahrungen im Nationalsozialismus haben Dr. Brand geprägt, den gutmütigen aber verletzlichen Charakter hervorgebracht. „… errare humanum esse… es tut mir so leid, ich bin mit meinem Latein am Ende.“ singt Reinhard Mey. Und mahnt uns alle einmal mehr, sorgsam mit unseren Mitschwestern und -brüdern umzugehen.


Weitere Informationen:
www.reinhard-mey.de

 

JUNI 2016  Karen Sophie Thorstensen

Nadine Maria Schmidt: Aleyna - Kinder von Idomeni

Es gibt Lieder, die man im Vorbeigehen hört und die einem gefallen. Manchmal hört man morgens im Radio ein fröhliches Lied, das den ganzen Tag bei einem bleibt und gute Laune bringt. Von anderen Liedern bekommt man eine Gänsehaut und man wird still.

Lieder müssen und dürfen berühren und dieses Lied von Nadine Maria Schmidt geht unter die Haut. "Aleyna - Kinder von Idomeni" ist in seiner Schlichtheit geradezu sinnlich erfahrbar, denn man kann es riechen, hören, fühlen und schmecken und der Text lässt Bilder im Kopf entstehen, denen man sich nicht entziehen kann.

Die Bilder sind real, diese Kinder und ihre Mütter gibt es. Sicher auch Mädchen wie Aleyna im Lied. Es gibt die Männer mit den Gewehren und es gibt diesen langen, langen Weg ins Ungewisse, in das unerreichbare Ziel Europa. Beim Hören fühlte ich die Kälte, spürte den Schlamm und die große Angst. Das Kind erklärt die Welt, wie es sie sieht, das Begreifliche und das Unbegreifliche. Die Geschichte, die Nadine Maria Schmidt in ihrem Lied erzählt, fühlt sich real an. Sie zeigt die Welt, wie sie für ein kleines Mädchen in einem Flüchtlingslager aussehen muss.

Die Sängerin, die eine der ausdrucksstärksten Stimmen hat, die ich in letzter Zeit hörte, nimmt sich ganz zurück, sie flüstert das Lied beinahe. Sie stellt ihre Stimme in den Dienst dieses Liedes, damit der Text wirken kann. Die Begleitung ist minimalistisch; leise gezupfte Ukulelen und gegen Ende des Liedes eingestreute Töne einer Melodica. Und genau das macht die Geschichte, die Nadine Maria Schmidt uns erzählt, so sinnlich wahrnehmbar und so anrührend.

Weitere Informationen:
http://www.nadinemariaschmidt.de

Download Audio Single

 

APR 2016  Dieter Kindl, Kassel

Merle: Kirschblütenblätter

Totgesagte leben bekanntlich länger. Auch beim politischen Lied ist das so - obwohl viele Feuilletonisten nach dem Tod von Degenhardt, Hirsch und Danzer meinten, dass die Ära der politischen Liedermacher endgültig vorbei sei. Dem ist aber nicht so. Inzwischen ist eine junge Generation von Künstlern herangewachsen, die gesellschaftliche Probleme auf ihre ganz eigene Art beschreibt.

Eine dieser jungen Vertreterinnen ist Merle (Weißbach). Die studierte Musikerin macht Straßenmusik und ist im Netzwerk "Rotzfreche Asphaltkultur" aktiv. Sie beherrscht die klassischen Liedermacher-Instrumente Gitarre und Klavier ebenso wie ihr Lieblingsinstrument, das Cello. Auf ihrem Debütalbum "Zwischen drunter und drüber" kommt es des öfteren zum Einsatz. Das klingt nicht nur ungewohnt sondern hebt sich auch musikalisch wohltuend ab. Hinzu kommen poetische Texte mit reichlich Tiefgang.

Ein Beispiel dafür ist das Stück "Kirschblütenblätter", in dem Merle die Oberflächlichkeit vieler Menschen anprangert. Dies tut sie ohne den Zeigefinger zu erheben - dafür legt sie ihn aber in offene Wunden. So sind beispielsweise Kirschblütenblätter unerwünscht, weil sie Parkraum für Automobile in Beschlag nehmen. Auch Menschen mit individuellem Charakter werden als störend empfunden oder gar freie Gedanken. Sie verwirren, stören den alltäglichen Trott, in dem viele leben. Um etwas dagegen auszurichten, müsste man die Scheuklappen-Mentalität ablegen und Emotionen und Kreativität zulassen. "Mag sein es gibt ein anderes Leben, aber du, he uns geht"s doch hier gut, wir funktionieren doch auch ohne Emotionen, und so machen wir die Münder einfach zu", heißt es am Ende des Liedes. Unterstrichen wird die ironische Botschaft durch ihr Cello-Spiel, das ihr übrigens in der Vergangenheit schon Preise bei "Jugend musiziert" oder der "Hoyschrecke" beschert hat.

"Lieder mit kritischen, nachdenkenswerten Texten und Musik, die sich nicht unbedingt an eingefahrene Hörgewohnheiten anlehnt" lautet das Motto der Liederbestenliste seit jeher. Merle erfüllt diese beiden Anforderungen in kongenialer Weise und ist, zumindest für mich, eine der Entdeckungen dieses Jahres.

Weitere Informationen:
www.merlecello.de
www.rak-treffen.de (Rotzfreche Asphaltkultur)

MÄRZ 2016  Silke Aydin

Herman van Veen: Willst du

„Fallen oder springen“ heißt das neue Album von Herman van Veen. Es lädt den Zuhörer ein auf eine Reise durch die Gedanken eines warmherzigen, liebevoll-naiven Weltverbesserers, der mit leisen Tönen versucht, ein bisschen Wärme in die oft so kalte Welt zu zaubern.

Das Lied „Willst du“ handelt dabei von Vertrauen und bedingungsloser Freundschaft. Eine Freundschaft, wie die zwischen Erik van der Wurff und Herman van Veen. 52 Jahre durften die zwei gemeinsam musizieren… das schweißt zusammen.

Beim ersten Hören erinnerte mich „Willst du“ sofort an das van Veen-Lied „Für Marie Louise“. Nur diesmal ist es noch radikaler…

„Willst du / willst du / wirst du mich rufen / wenn die Angst / dich lähmt“ – es wird nur das Geben thematisiert, das bedingungslose Angebot: wenn du mich brauchst, bin ich da!

Unsicher bleibt allerdings, ob der Angesprochene dieses „Geschenk“ auch wirklich annehmen wird… selbst wenn er es will… ob er es dann in dem Moment auch kann. Diese Sorge kann dem „lyrischen Ich“ keiner nehmen, es muss abwarten… hoffen, bangen.

„Willst du“ ist ein ruhiges Lied, klein und schlicht. Die begleitende Frauenstimme im Refrain verleiht ihm etwas Zerbrechliches, spiegelt die Unsicherheit der Thematik. Man könnte es auch als eine Fortführung des auf dem Album ein paar Lieder vorher vertretenen Stückes „Hilfe, Hilfe“ sehen, in dem es ebenfalls um dunkle Gedanken und Stimmungen geht…

Die Musik zu „Willst du“ schrieb Edith Leerkes, musikalische Partnerin von Herman van Veen seit vielen Jahren. Und ich werde mir die Zusammenarbeit der beiden in diesem Jahr noch mindestens ein Mal live anhören!

Herman van Veen – Willst Du
Album: Fallen oder springen
Universal [www.universal-music.de]
Empfohlen von Silke Aydin, Emsdetten

FEB 2016  Petra Schwarz

Jörg Kokott: Der Krieger über Fünfzig

 

Der Sänger und Komponist des Liedes, das ich hier persönlich empfehle, ist mittlerweile „schon“ 60. Aber: „… über Fünfzig“ gilt dann ja irgendwie auch immer noch :-).

Es ist ein Song, der für mich zu den wenigen zählt, die man e i n m a l hört und nie wieder raus kriegt aus dem Kopf. Gleich in den ersten Zeilen kommt die klare „Ansage“:

Ich bin nicht mehr mit Gold zu kaufen. / Ich stell mich nicht mehr unter Fahnen. / Muss nicht mit Ideen raufen. / Ich steh jetzt näher bei den Ahnen.

Der Text ist von Gerd Püschel, mit dem KO seit fast 35 Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Der Verlagsmann schreibt für ihn und für andere. Den „Krieger über Fünfzig“ hat er 2011 für einen Verleger-Freund zu dessen 50.Geburtstag verfasst. KO - wie ihn alle in der Szene nennen - hat den Text dann im Jahr 2012 zu seinem 40jährigen Bühnenjubiläum vertont. Mir scheint: Es ist eine Art Resümee…

Zu lang gekämpft für eitle Spinner. / Für Könige und Egomanen. / All die verlorenen Gewinner, die nun geheuren Größen wahnen.

Ich bin von Anfang an - einem wunderschönen, klaren und richtig gut gespielten Gitarren-Intro - gefesselt. Ein Gefühl, das sich bis zum letzten Ton hält. Schon beim ersten Hören kam mir sofort der Satz von Bertolt Brecht: „ … das Einfache, das schwer zu machen ist.“ in den Sinn. Ein Fazit, das der Dichter bekanntlich in seinem „Lob des Kommunismus“ so formuliert hat, gilt für mich auch für dieses immens beeindruckende Lied.

Das Herz drängt noch nach fremden Ländern. / Der Kopf will noch ein Seltnes wagen. / Ich weiß ich kann die Welt nicht ändern. / Ich kann sie nur mit Lust ertragen.

Sehr intensiv und im „Brustton der Überzeugung“ singt KO diese Zeilen im Refrain. Ein Stück weit Pessimismus? Aber nein! Sofort darauf erklingt das Ganze noch einmal s o herum:

Ich weiß ich kann die Welt nicht ändern. / Ich kann sie nur mit Lust ertragen. / Das Herz drängt noch nach fremden Ländern. / Der Kopf will noch ein Seltnes wagen. /

Was für ein Optimismus - von einem Mann, der im Herbst 2013 die Diagnose Hirn-Tumor bekam. Bis zu seiner OP - zwei Monate später - hat KO die anstehenden 26 Konzerte gespielt … und stand vier Tage danach schon wieder auf der Bühne: ein Kämpfer eben!

Ich bin froh, dass einige meiner Jury-KollegInnen diesen Song bereits für sich entdeckt haben und sich „Der Krieger über Fünfzig“ von der CD „KO KOKOTT - SOLO LIVE“ (Ausschnitte aus seinem Geburtstags-Konzert vom 5.6.2015 in der Dreikönigskirche Dresden) schon in den TOP 20 - auf 18 - platziert hat!

Bleibt zu guter Letzt noch die KO-Maxime für 2016:
„ICH BIN ALT, MACHE ABER KEINEN GEBRAUCH DAVON!!!“

 

 

 

JAN 2016  Silke Aydin

Bodo Wartke – Dazwischen

Das aktuelle Album von Bodo Wartke besitzt wie gewohnt Klasse. Und beinhaltet ein Lied, das eine genauere Betrachtung verdient, fällt es doch durch seine vielschichtige textliche Aussagekraft besonders auf. Dabei ist es stellenweise amüsant, dann wieder nachdenklich machend bis tiefsinnig.

Welche Gemeinsamkeit haben Labskaus, ein in die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante gefallenes Handy, eine bestimmte Mann-/Fraubeziehung, ein Kind, ein Wachkoma-Patient, Migranten, Vincent van Gogh und die Aussage von diesem Lied selbst? - Richtig! Sie sind allesamt „Dazwischen“.
Bei den ersten drei Dingen hat die Geschichte, die sich um die „Begriffe“ rankt, noch eine lustige Pointe: bei Labskaus weiß der Nicht-Norddeutsche nicht unbedingt, was da wohl drin enthalten sein mag und isst es etwas angewidert. Das Handy fällt just in DEM Moment zwischen Zug und Bahnsteigkante, als sein Besitzer sich die Frage stellt, wofür denn wohl die Warnung „mind the gap“ hilfreich sein könnte – und die guten Freunde, die dann doch die Nacht als Paar verbringen, sind am Morgen danach irgendwo zwischen befreundet und verbandelt.

Mit dem Kind, das von seinen Eltern im Scheidungskrieg instrumentalisiert wird, schlägt Bodo Wartke dann jedoch inhaltlich gesellschaftskritische Töne an, was auch nachfolgend durch die musikalische Umsetzung untermalt wird: das Klavierspiel passt sich der Stimmung im Textinhalt an. Von leicht-locker zu dramatisch und ernst. Bis das vorletzte Kapitel nur noch A cappella besungen wird.
Auf das Scheidungskind folgt also der Wachkomapatient: jeder Tag kann der letzte sein, manchmal geht es ganz schnell. Und auch Migranten, die schon in zweiter und dritter Generation in Deutschland leben, sitzen immer irgendwie zwischen den Stühlen: hier als Ausländer betitelt und Diskriminierung ausgesetzt, in dem Land, aus dem sie stammen aber als „Deutsche“ (im Türkischen gibt es sogar ein extra Wort dafür, das abwertend mit „Deutschländer“ zu übersetzen ist…) bezeichnet und ebenso stigmatisiert.

Nur noch A cappella singt Bodo dann über Vincent van Gogh, der sogar in zweifacher Hinsicht das „Dazwischen-Kriterium“ erfüllt: persönlich und genre-mäßig.
Tja, und die Aussage des Liedes… liegt dann wohl zwischen den Zeilen!

 

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