Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2017  Wolfgang Rumpf, Bremen

Georg Clementi: Keine isst wie du

Der Südtiroler Chansonier und Schauspieler Georg Clementi stimmt mit dem Song »Keine isst wie du« schon mal auf die Festtage und das Fest der Liebe ein. Da stört es auch nicht, dass der Gag des Songs schon im Titel verraten wird. Denn es geht um die Angebetete, die zunächst in verschiedenen Frauengestalten auftritt und vor allem beim Essen ihr wahres Gesicht voller Lust und Leidenschaft zeigt. Das macht den Erzähler zum "Liebesterroristen", der dann der Liebsten gänzlich verfällt, wenn sie Spaghetti isst. Der Song löst diese charmante Doppeldeutigkeit zwischen Sein und Essen, in dem er den Refrain langsam aufbaut und erst ganz am Schluss mit den Spaghetti auf dem Teller, den hungrigen Augen und dem hemmungslosen Hedonismus herauskommt. Clementi singt den von seinem Gitarristen und Arrangeur Tom Reif komponierten Song mit Verve und hintersinnigem Humor, Text und Dramaturgie sind dabei bestens aufeinander abgestimmt.

»Keine isst wie du« kommt in einem leicht spanischen angehauchten Bossa-Nova-Rhythmus ins Ohr, klingt entsprechend unbeschwert und benutzt im Refrain zur Verstärkung noch einen ironisch kommentierenden Background-Chor. Ein Lovesong der besonderen Art, den der Gewinner des Stuttgarter Chansonwettbewerbs Troubadour 2012 in einer lässigen Performance präsentiert. Macht Appetit auf mehr.


Weitere Informationen:
www.clementi.de

NOV 2017  Hans Reul, Eupen (B)

Manfred Maurenbrecher: Zu früh

Seit beinahe vier Jahrzehnten macht Manfred Maurenbrecher Musik und schreibt Texte, die Poesie und Direktheit zu einer unvergleichlichen Einheit führen. Und dabei trifft er immer den Nerv der Zeit. Auch bei seiner aktuellen CD »flüchtig« . Hier singt er über Flucht und das Flüchten in den unterschiedlichsten Formen. Wir sind alle ständig unterwegs, körperlich wie gedanklich. Hoffentlich, möchte man in letzterem Fall nur sagen.

Veränderung zeichnet unser Leben aus. Wenn wir uns verändern möchten, dann machen wir das freiwillig. Zumindest meistens. Aber das trifft nicht auf alle zu. Andere haben gar nicht die Wahl. Sie müssen sich verändern, sie müssen flüchten, um überhaupt leben zu können. Hier geht es nicht um den feinen Luxus des Reisens, hier geht es um existenzielle Fragen. Dann macht man sich auf den Weg, dorthin, wo das Leben sicherer und schöner scheint.

Nur dass jene, die dort wohnen, die Lebensbedrohten nicht unbedingt mit offenen Armen erwarten. Dass sich Herr Saleh aus Homs auf den Weg gemacht hat, ist ja noch für viele, aber auch nicht für alle, nachvollziehbar. Aber muss es ausgerechnet jetzt schon sein. Es ist doch viel zu früh. Nein! Ist es nicht. Es wundert Maurenbrecher - und auch mich - dass es erst jetzt soweit ist. Die Frage ist eher: Warum hat es solange gedauert? Aber da muss wohl noch einiges passieren, damit dies den Besitzstandswahrern ein- und auffällt.

»Zu früh« ist eine auf den Punkt gebrachte Situationsbeschreibung. Es wird, so fürchte ich, noch lange dauern, bis Ibrahim, der Herr Saleh aus Homs bei uns angekommen ist und sein Wunsch endlich Realität wird: „Es tut so gut, dass sich mal gar nichts ändert und dass man einfach ohne Angst durch eine schöne Straße schlendert“. Dass wir uns diese schönen Straßen und manch andere Bequemlichkeiten auf Kosten von Menschen wie Herrn Saleh leisten können, haben die meisten hier auch schon vergessen. Gut, dass Maurenbrecher daran erinnert. Erst wenn Herr Saleh hat ankommen dürfen, dann wird auch er dieses uns so wohlige Gefühl des freiwilligen Veränderns erfahren können.


Weitere Informationen:
www.maurenbrecher.com

OKT 2017  Tom Schroeder, Mainz

Oliver Scheidies featuring Michael Oertel: Groovezeit

Warum mir Groovezeit gefällt? Ganz kurz gesagt: Weil es da um Leben, Lieben und Tod geht, um Gott und die Welt. Und weil der Song verdammt gut abgeht. Etwas weiter ausgeholt:

In den guten alten Zeiten, als die Erde noch eine Scheibe war und Bob Dylan in Gestalt eines Reborn Christ den eifernden Missionar gab (drei Alben und viele vollgesprochene Konzerte lang), kursierten auch bei uns Musikerwitze wie der folgende. Es ging um die Frage: Wie viele Mitarbeiter braucht Bob Dylan, um eine Glühbirne einzuschrauben? Antwort: Acht! Einer schraubt die Birne rein, die anderen sieben danken dem Herrn.
Das ist jetzt fast vier Jahrzehnte her. Es wäre wohl auch längst vergessen, wenn His Bobness damals nicht so maßlos und rechthaberisch übertrieben und viele seiner Anhänger verprellt hätte. Denn die populäre Musik insgesamt wimmelt ja nur so von religiösen Bezugselementen. Ein paar Beispiele: Dylans Vorbild Woody Guthrie beschreibt Jesus Christus im gleichnamigen Song als politisch engagierten Arbeiter, den die Herrschenden immer wieder ins Grab bringen. Franz Josef Degenhardt attackiert in Gott der Pille die Sexualmoral der Katholischen Kirche.

In vielen Hits ist Bibel drin. Von Island In The Sun bis zu den Rivers Of Babylon, von Morning Has Broken bis zu Mrs. Robinson. In My Sweet Lord preist George Harrison den Herrn sicherheitshalber gleich doppelt, mit Halleluja und mit Hare Krishna.
Wer biblische Elemente im Lied verwendet, befindet sich also in illustrer Gesellschaft – wie Oliver Scheidies mit seinem Song Groovezeit. In den vier Strophen treffen wir auf gute Bekannte aus dem Alten Testament und aus dem Physikunterricht. Adam ist dabei, auch Eva, dann der Schöpfer, der Tod und Albert Einstein. Alle werden vom Sänger/Songschreiber Oliver Scheidies auch deshalb ins Spiel gebracht, damit er ein paar nette Pointen setzen kann. Einstein etwa verliert jedes Gefühl für Zeit und Raum, versucht es deshalb mit einem Strick am nächsten Baum – und scheitert relativ fröhlich und erfolgreich (eine Situation, die Scheidies liebt) frei nach dem Motto: Ich erhänge mich erst, wenn alle Stricke reißen…

Letztlich aber dienen die vier Strophen dazu, dass der Sänger immer wieder auf den Punkt kommen kann, also auf diesen Refrain: Es ist Groovezeit, komm lass uns gehen / Groovezeit, lass alles stehen / Es ist Groovezeit, bist du bereit, die Erde wird sich weiter drehen / Tanzt mit dem Mond, du wirst schon sehen / Es ist Groovezeit.

Groovezeit bedeutet hier auch: Zeit zum Tanzen. Und zum Mitsingen: Oliver Scheidies und sein Produktionsleiter Benjamin Riesterer hatten für ihre Liveaufnahmen dreißig Freunde und Freundinnen ins Studio eingeladen, die ohne lange Proben von Beginn an mit langem Atem mitgrooven. Das geht ab, fast wie einst bei den Non Stop Dancing-Partys des swingenden James Last. Zunächst hatte sich Last einen Namen als Bassspieler gemacht, genau wie später Thomas Walter Tscheschner. Der spielte u.a. in den Bands von Lydie Auvray und Pepe Lienhard und ist heute Musikredakteur beim Mainzer Radiosender SWR1. Tscheschner bezeichnet das Stück von Scheidies & Co. treffend als "Funky Groovy German Blues".

Groovezeit: 3 Harmonien, 8-taktige Strophen, 8-taktiger Refrain, Gesamtdauer 5 Minuten. In den ersten Momenten seiner 1’45 langen Gitarrenintro weiß Scheidies noch nicht genau, ob es nach Andalusien oder nach Louisiana gehen soll, also Flamenco oder Blues? Dann doch Blues, ganz nach der alten Devise The Blues Had A Baby, And They Named It Rock ‘n‘Roll. Und im Schlussapplaus nennt der Sänger es dann „Rock ‘n‘ Roll !“ Sein brillanter Begleiter Michael Oertel beweist in einem fast 2-minütigen Gitarrensolo, dass er weiß, wo der Hammer hängt (und auch der Bonamassa, der Clapton und Mark Knopfler).

Die Sängerin Anne Schaarschmidt, Lebensgefährtin des Sängers, ergänzt ihn auch musikalisch auf eine schöne, heitere, leichte und leicht melancholische Art, sie passen zusammen „wie der Boogie zum Woogie“ (Manfred Miller).

Oliver Scheidies, 1968 in Hamburg geboren und seit knapp zwei Jahrzehnten in Freiburg zuhause, hat sich in diversen Berufen versucht und bewährt – z.B. als Schauspieler, Clown, Musikkabarettist, Kästner-Interpret, Lehrer an einer Waldorf-Schule …
Seit Anfang des Jahres ist er im Hauptberuf "Songpoet und Liedermacher für alle Fälle", ein "maskuliner Bassbariton mit viel Volumen": „Immer wieder blitzen … die großen Themen des Menschseins durch, Tod und Vergehen, das Spiel der Zeit, Einsamkeit und Scheitern, Liebe und die Euphorie eines Augenblicks“ (Dorothee Philipp, Badische Zeitung, 24.04.2017).

Es verwundert denn auch nicht, dass er den möglicherweise peinlichen Augenblick, in dem er kurz seinen Text vergessen hat (natürlich in der Strophe mit Adam und Eva) nicht nachträglich aus der Live-Aufnahme rausgeschnitten hat, sondern einfach weitersingt und prächtig weitergroovt. Oliver Scheidies will es einfach wissen, wie man lernt, „immer besser fröhlich zu scheitern“. Dafür bleibt ihm noch sehr viel Zeit. Denn – das deutet sich in der letzten Groovezeit-Strophe an, das hat er mir im Telefongespräch auch gerne bestätigt – er glaubt fest an ein Weiterleben nach dem Tod.

Das soll einen Heiden wie mich nicht daran hindern, Groovezeit zu mögen und weiter zu empfehlen. Das Lied könnte vielleicht sogar einem Zweifler wie Woody Allen gefallen: „Ich glaube nicht an Reinkarnation, aber zur Sicherheit habe ich immer Ersatz-Unterwäsche dabei“. Oder auch einem Bekenner wie Ben Süverkrüp: „Ich bin Atheist. Und zwar katholischer Atheist“. Mitgrooven würde sicherlich ein Weiser wie Werner Schneider: „Ich glaube an gar nichts. Deshalb halte ich auch nichts für unmöglich“.


Weitere Informationen:
www.oliver-scheidies.de

SEPT 2017  Mike Kamp, Bad Honnef

Köster & Hocker: Et Selfie Elfie un dr Twitter Pitter

Generell gilt: Eine Köster Hocker-CD ist musikalisch immer so solide wie das Fundament vom Kölner Dom, zuverlässig bereitgestellt von Frank Hocker. Das muss auch so sein, denn auf diesem Fundament tobt sich ein Gerd Köster aus und zwar mit den beiden Talenten, mit denen er gesegnet ist: Mit einer dieser Reibeisenstimmen, die sich im Ohr festkrallen und dann mit seinen Texten. Ach, was sag ich hier Texte! Das ist Fabulierkunst pur im Spannungsfeld von Lokalkolorit und Allgemeingültigkeit. Das ist dreckige, sprachliche Wollust mit einer schon fast orgiastischen Wortwahl. Oder vornehm ausgedrückt: spürbarer Spaß an der kölschen Sprache. Das gilt für alle Lieder und natürlich auch für das von Elfie und Pitter, diesem Märchen vom Pärchen aus dem Hier und Heute mit Emoticönchen bis zum Erbrecheln. Cajun-Akkordeon und eingängiger Sound passen zu diesen etwas einfach gestrickten Protagonisten, die wie so viele von uns heute über die Möglichkeiten der mobilen Telefone ein wenig den Bezug zur Realität verlieren, in diesem Falle dummerweise mit fatalen Folgen. Dafür reichen chartskompatible knappe drei Minuten. Das kann man als rabenschwarze Sozialsatire interpretieren oder als zwei weitere, nun leider verblichene Figuren aus dem urkölschen Kosmos des Gerd Köster. Ich tendiere zu letzterem, ohne ersteres auszuschließen.


Weitere Informationen:
www.gerd-koester.de

AUG 2017  Petra Schwarz, Berlin

Heike Mildner: Landschaft

Ja, es ist ein Song über eine ganz besondere Landschaft. Und: auch wieder nicht. Heike Mildner, die seit vielen Jahren in dieser Landschaft lebt, zeichnet in nur gut 3 Minuten ein ganz besonderes Bild vom Oderbruch.

Sie haben keine Ahnung, was das Oderbruch ist? Nun: „Einer Oase gleich liegt in den märkischen Sandfeldern (50 – 80 km östlich von Berlin) das Oderbruch, ein fruchtbarer Landstrich, der vor seiner Urbarmachung ein wüstes Gebiet war, durchzogen von vielen Armen der Oder. Mitten hindurch wälzte der Strom seine Fluten, die Seen und große Lachen bildeten, aber auch wenigstens zweimal jährlich für gewaltige Überschwemmungen sorgten. … Unter Friedrich II. entstand unter komplizierten Bedingungen eine Kulturlandschaft, die noch heute beeindruckt.“ - so ist es in der Tourismus-Werbung zu lesen.

Heike Mildner vermittelt in »Landschaft« eine Ahnung von dieser Einzigartigkeit, ohne wirklich über diese Landschaft zu singen. In einer ganz eigenen Sprache und Tonalität beschreibt sie, was die "Landschaft" dort jetzt - mehr als 25 Jahre nach der sogenannten "Wende" 1989 - ausmacht. Vor allem für  d i e  Menschen, die noch dort sind. "Looser-Paul" zum Beispiel, den die Verwandtschaft - nun aus dem Westen kommend - manchmal besucht, eben: „wegen der Verwandtschaft und wegen der Landschaft“. Jene sind für Heike Mildner „Suppenhühner unter Geiern“ die „… ihr’ n privaten Western jetzt in Westfalen oder Bayern“ drehen.

Die Liedermacherin, die sich in »Landschaft« selbst und nur ganz sparsam auf der Gitarre begleitet, sodass man dem dichten Text ganz konzentriert folgen kann, hat mich mit diesem Song (und ihrer ersten CD, die gerade im eigenen »Verlag Drei Wege« erschienen ist) staunen gemacht. Wir kennen uns aus Singeklub-Zeiten in der DDR und hatten uns aus den Augen verloren. Nach gefühlten hundert Jahren habe ich sie im November vorigen Jahres in Hoyerswerda wieder getroffen. Sie trat als eine von acht WettbewerberInnen bei der "Hoyschrecke" auf, gewann diesen und konnte mit einer metallenen Hoyschrecke zurück in das Oderbruch fahren „Die Interpretin überzeugte vor allem mit ihren bodenständigen, poetischen Liedern aus dem Leben im Oderbruch, wunderschönen Melodien und einer sympathischen Ausstrahlung.“ (www.hoyschrecke.de)

Ein Wort noch zur CD, auf der der empfohlene Song zu finden ist: „»verloren - gefunden« bezieht sich auf mein Zurückfinden zur Musik, zum Liederschreiben und Singen. Ich bin beruflich vor allem als freie Journalistin im ländlichen Raum Ostdeutschlands unterwegs, arbeite viel für den Dorf- und- Familien-Teil der Bauernzeitung, einer Wochenzeitung für Landwirte. Das merkt man einigen Texten sicher an…“ - so beschreibt sie ihr "Comeback".

»Landschaft« ist ein - mit einer wunderbar eingängigen Melodie - starker Song, der mit überraschenden Formulierungen spielt und diese wirkliche Wende im Leben der Menschen im Osten - noch dazu im ländlichen Raum - sehr sensibel beschreibt. So nehme ich Heike Mildner hundertprozentig ab, wenn sie am Schluss singt: „Nein, fürs Glück braucht’s keine Millionen. Nur Landschaft“.


Weitere Informationen:
www.mildnerlieder.de

JULI 2017  Dieter Kindl

DUO handinhand: Zimtschnecken

In Österreich sagt der Volksmund: "Gutes Essen lässt Sorgen vergessen".
Aber was zeichnet ein gutes Essen eigentlich aus? Es kommt vor allem auf die Zutaten an. Viele müssen es nicht unbedingt sein. Weniger ist da oft mehr. Richtig zubereitet, wird daraus ein leckeres Mahl.

Und wie ist es bei einem guten Lied?
Auch da kommt es auf die Zutaten an. Und auf die Mischung. Diese einfachen Grundregeln der Speisenzubereitung haben Beate Wein und Annett Lipske vom Duo Hand in Hand bei ihrem neuesten Album berücksichtigt. »Lust auf Genuss« haben sie es genannt. Zwölf Lieder haben sie darauf versammelt. Musikalisch sind neben Pop- und Chanson- auch Jazz- und Funk- sowie NDW-Anklänge zu hören. Die Themen: neben dem Üblichen wie Navigationssystemen, Wetterphänomenen und gescheiterten Beziehungen, Songs über Genuss und Lebenslust.

In »Zimtschnecken« beispielsweise zelebriert das Duo die Zubereitung eben jenes Backwerks. Gänzlich ohne Instrumente. Nur mit ihren Stimmen (und der von Stefan Otter). Nach und nach geben die Drei Kardamom, Zimt, Butter, Zucker, Mehl, Ei, Hefe, Salz und Milch in die musikalische Schüssel und vermengen alles miteinander. Zweieinhalb Minuten brauchen sie, um ihr Rezept für Zimtschnecken a capella vorzutragen. Das machen sie in einer fürwahr harmonischen Weise, dass die Zuhörer geradezu animiert werden, sich einmal selbst an das Backen der süßen Köstlichkeit heranzuwagen.
Die ausführliche Zutatenliste finden »Lust auf Genuss«-Interessierte im Booklet des Albums.


Weitere Informationen:
www.duohandinhand.de

JUNI 2017  Michael Kleff

Matthias Brodowy: 1984

Ich bin kein großer Freund der aktuellen Kabarett- und Comedyszene. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch denke ich bei diesem Genre mit Wehmut an vergangene Zeiten. Doch der Titel »1984«von Matthias Brodowys aktuellem Album »Gesellschaft mit beschränkter Haltung« hat es mir wirklich angetan. In meiner Folker-Kolumne „Michael Sez“ schreibe ich mir schon seit langem die Finger wund zu diesem Thema. Das Orwell-Jahr liegt lange hinter uns. Schon damals, und Brodowy selbst weist darauf hin, wurde von vielen Journalisten und Zeitgenossen Entwarnung gegeben, weil sich Orwells Visionen angeblich nicht erfüllt hätten. Wie falsch diese Einschätzung war und ist, zeigen u. a. aktuelle Bücher wie Dave Eggers‘ The Circle oder Yvonne Hofstetters Sie wissen alles. Doch weder sie noch Orwell – ganz angesehen davon, dass der Großteil der heutigen Internet-Generation gar nicht weiß, wer das ist – halten offensichtlich die Menschen – vor allem die Jugend – davon ab, ihre persönlichen Daten freiwillig jedem zu geben, der danach fragt. Das hat sich selbst Orwell nicht vorstellen können: einen Überwachungsstaat ganz ohne Zwang und Gewalt. Matthias Brodowy greift dieses Thema nun auf seine Art auf. Wie immer sich selbst am Klavier begleitend, bringt er die Problem der digitalen Welt eindrucksvoll und sarkastisch auf den Punkt: „Wirklichkeit ist virtuell. Wir haben 1984.“ Um dann dazu aufzurufen, „Wie wärs mit nem Neustart – es ist an der Zeit / Life reloaded“. Bleibt zu hoffen, dass sich der eine oder die andere diese Aufforderung zu Herzen nehmen. Also Finger weg von WhatsApp, keine Bestellungen mehr bei Amazon, Google ade … Schön wäre es allerdings auch, wenn Matthias Brodowy hier mit gutem, Beispiel voran gehen würde. Diese Zeilen „Und Du wirfst zuerst nen Blick / In die Facebook-Timeline rein / Könnten ja paar neue Likes / Für Dich da sein“ verlieren ihre Ernsthaftigkeit, wenn Brodowy selber auf seiner Website genau für diese Facebook-Likes wirbt. Ich finde das Stück dennoch gut. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir es nicht dabei belassen, uns zu amüsieren, ohne etwas zu unternehmen. Sonst ist die totale Kontrolle, an denen Leute wie Mark Zuckerberg arbeiten, schon bald Realität. Es ist so wie bei den unzähligen TV-Parodien auf Donald Trump. So virtuos und tröstend beispielsweise Alec Baldwin als Präsident auch ist, Trump wird so jedes Mal ein Stückchen normaler.

Weitere Informationen:
www.brodowy.de

MAI 2017  Dieter Kindl

D!e Gäng: Bla Bla Bla

Wir alle haben es schon gemacht. Ganz viel in jungen Jahren. Mit zunehmendem Alter war es dann eher peinlich. Erwachsene tun es fast nie. Außer sie haben Nachwuchs. Dann sind Kinderlieder wieder angesagt.

Viele dieser allgemein bekannten Lieder stammen aus dem 19. Jahrhundert. Erst in den 1970er-Jahren kamen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, neue Lieder hinzu. Und mit ihnen kamen die, die diese Lieder singen: Kinderliedermacher. Eines ist den Liedern, ob nun alt oder neu, gemeinsam - sie alle wurden von Erwachsenen für Kinder geschrieben. Lieder von Kindern findet man eher selten.

Eine Ausnahme besonderer Art ist das gleichnamige Album von »D!e Gäng«, das Ben Pavlidis, Sänger der Berliner Band Ohrbooten, gemeinsam mit einer "wilden Kinderhorde" und einigen Gastmusikern aufgenommen hat. Entstanden sind die Lieder bei einem Spiel, das er mit seiner Tochter Chaja seit einigen Jahren spielt: Liederausdenken. In den Texten geht es um das, was Kinder beschäftigt: Tiere, Süßigkeiten und vor allem: nervige Erwachsene.

»Bla Bla Bla«, meine Lied-Empfehlung für diesen Monat, kommt mit einem treibenden Skabeat daher, der zum Tanzen einlädt. In dem Song geht es um eine dumme Angewohnheit von Erwachsenen. Sei es nun die Mutter, die eine Freundin trifft; der Vater, der Ewigkeiten telefoniert oder spontaner Besuch, der die Eltern davon abhält ihre Kinder ins Bett zu bringen. Sie sind immerzu am Reden. Das nervt Kinder total. In der Schlussstrophe heißt dann auch folgerichtig:

Mein Ohr ist schon ganz dicht von dem ganzen Gelaber
Ihr seid doch nicht ganz dicht, ich schick" Euch zum Psychiater
Immer was bereden, könnt ihr nicht mal toben?
Ihr tut mir ja schon leid, ihr armen Großen!

Ihr macht Bla Bla Bla
die Großen machen immer Bla Bla Bla

Darüber sollten Eltern einmal nachdenken ...


Weitere Informationen:
www.facebook.com/gaengdie

APR 2017  Karen Sophie Thorstensen

Klaus-André Eickhoff: Selber denken

Selber denken, das ist eine anstrengende und zeitraubende Angelegenheit! Wieso muss man das überhaupt, warum können das nicht andere für einen erledigen? Es gibt doch so viele, die sowohl klüger als auch bedeutend mutiger sind als man selbst.  Denn neue und womöglich kontroverse Gedanken zu äußern, kann viele unangenehme Folgen nach sich ziehen. Und gerade ist es doch so gemütlich dort, wo man gerade ist. Aber irgendwo nagt doch ein schlechtes Gefühl, man sollte doch vielleicht …

»Selber denken« befindet sich auf dem aktuellen Album des hessischen Liedermachers Klaus-André Eickhoff, der kein Neuling in der Liederbestenliste ist.  Der Titel des Albums, »Hier stehe ich – ich könnt auch anders«,  lässt ahnen, dass hier Martin Luther im Spiel ist. Hätte mir jemand weisgesagt, dass ich ein Lied aus einer CD zum Thema Luther empfehlen würde, hätte ich dies ohne weiteres als großen Unsinn zurückgewiesen. Nach neun Jahren und im absoluten Finale der Luther-Dekade in diesem Jahr, könnte es sein, dass man hier in Mitteldeutschland auf jeden Fall allmählich die Nase voll hat. Gibt es irgendeine Seite des Reformators, die nicht beleuchtet, vermarktet und bejubelt wurde?

Das Album und dieses Lied im Besonderen faszinieren, weil Klaus-André Eickhoff in Liedern und Texten auf eine sehr moderne Art darüber berichtet, wie Martin Luther zum großen Reformator wurde und wie steinig und schwer der Weg dort hin war. Beim Hören erscheinen die Protagonisten jener Zeit als ganz normale, heutige Menschen mit allen Gefühlen und Herausforderungen, die wir ebenfalls im Leben heute zu meistern haben. Und Eickhoff missioniert nicht, er erzählt uns, wie es Martin Luther möglicherweise damals empfand.

Die Lieder werden durch Texte verbunden, in denen über Luther berichtet wird. Mit den Liedern zusammen erzählt er musikalisch und textlich eine 500 Jahre alte Geschichte, mit einfühlsamen und sehr humoristischen Liedern und Texten in einer Sprache, die gerade jüngeren Hörern sehr vertraut sein müsste. Die Instrumentierung von »Selber denken« ist einfach, ein Klavier und ein Cello begleiten den Sänger und die Melodie geht ins Ohr.  Echt gelungen!


Weitere Informationen:
www.ka-eickhoff.net

MÄRZ 2017  Barbara Preusler

Tobias Thiele: Unerhört

In diesen Zeiten kommt uns Einiges an Nachrichten unerhört vor und unerhört sind die Warnungen vor der schleichenden Unterwanderung rechter Populisten im Alltag. Der Eingangssong »unerhört« aus dem gleichnamigen Album, des Berliner Liedermachers Tobias Thiele passt. Unerhört, ein vieldeutiges Denkwortspiel.

Mir gefällt das Spiel mit diesem Wort. Das Lied wirkt nicht aggressiv oder erzieherisch. Es zählt all die Dinge auf, welche in den Medien täglich oder in der Kneipe nebenan zu erfahren sind. Wir hören ununterbrochen über Krieg, Korruption, Bankenpleiten, Mord, menschliches Versagen. Wir hören täglich die Nachrichten, essen fürstlich oder fahren Auto dabei – und schon verblassen Wort und Bild. Schliesslich trifft es uns nicht. Es geht an uns vorbei. Wir hören weg und vergessen uns im neuen Tagesschlamassel der Ungereimtheiten. Ich höre eine gewisse Machtlosigkeit aus dem Text von Tobias Thiele, doch auch den Aufruf, Dinge verändern zu wollen: Tun wir doch endlich was! Es stinkt bereits zum Himmel.

„Hört man zu oder hört man nicht hin / verschliesst man Ohren, Augen, Sinn / es tönt so laut, es gibt kein entrinn / die Mauern und Grenzen schreien bis zum Himmel hin ...“

Wir hören die Sehnsucht seiner Generation nach Sicherheit, Hoffnung um eine lebenswerte Zukunft.

Griffig ist der Text und lyrisch. Virtuos und feinsinnig spielt er sein Hauptinstrument, die Gitarre. Seine angenehme Stimme und die klare Art seines Gesanges erinnert an das gute klassische Liedermacherhandwerk.

Meine persönliche Empfehlung: Dieses Lied sollte unbedingt nicht „ungehört“ bleiben.


Weitere Informationen:
www.tobias-thiele.com

FEB 2017  Michael Lohse

Loosefit: Die Hoffnung stirbt im Netz

»Die Hoffnung stirbt im Netz«. Ein geniales Wortspiel, bei dem man sich fragt, warum vorher noch keiner darauf gekommen ist. Loosefit haben ein Lied geschrieben über die Schattenseiten des Internets. Das Ergebnis ist weder Blödel-Song noch moralinsaure Anklage. Das kreative Berliner Frauen-Duo findet einen ganz eigenen Ton zwischen selbstironischer Lässigkeit und resignativer Wehmut. Dabei böte das Thema Sex im Internet reichliche Vorlagen für süffisante Anspielungen oder voyeuristisch-heuchlerische Distanzierung. All das umschiffen Loosefit, indem sie einfach von sich singen: „Ich habe mich im Netz verloren, Liebe finden war mein Ziel.“ Das erfordert Mut. Ja, das Internet mit seinen Dating-Portalen, Partner-Foren und Porno-Seiten hat Suchtfaktor, kann zur Droge werden, zum runter ziehenden Zeitfresser. Es tötet romantische Träume und verführt zu asozialem Verhalten: „Verloren im Netz gilt kein Gesetz, virtuell und vor allem schnell.“

Wo alles geht, ist alles egal. Die große Freiheit des Internets erweist sich als Fluch. Diese Erfahrung übertragen Loosefit auch auf andere Lebensbereiche: Das Internet lähmt die eigene Kreativität, weil es scheinbar alles schon gibt. Da kann man es ja gleich lassen. Vor allem ist im Netz ein beängstigender rechtsfreier Raum entstanden. Dort findet Radikalisierung statt im Namen von Religionen und Ideologien: „Im Netz wirst Du zum Patriot, forderst digital den Tod, weil andere stets anders sind, das Paradies gewinnt.“

Die Musik passt sich dem Sujet an mit coolem Drum-Computer und funkigen Keyboard-Sounds. Getragen wird das Ganze jedoch von Caspar Gutsches tiefer Stimme, die einen sofort gefangen nimmt. Dieser Stimme glaubt man einfach, weil man hört: Da hat jemand gelebt. Die ausgefeilten Arrangements von Pianistin Karolin Roelcke schmiegen sich an wie eine gut sitzende Jeans – Loosefit eben. So jedenfalls nennt sich das vor gut zwei Jahren gegründete Chanson-Duo, weil zwischen den beiden sofort alles passte. Ihr Debut-Album ist randvoll mit originellen und eingängigen Nummern, die das Lebensgefühl der Großstadt atmen und den Zeitgeist reflektieren. 


Weitere Informationen:
www.loosefit.berlin

JAN 2017  Dieter Kindl

Caro Kiste Kontrabass: Bringst du mir was mit?

„Caro Kiste Kontrabass heben sich wohltuend von dem ab, was in den etablierten Medien alltäglich musikalisch geboten wird. Da ist noch einiges möglich auf der nach oben offenen Liederskala“, hieß es unter anderem in der Begründung als das Trio 2012 mit dem Förderpreis der Liederbestenliste ausgezeichnet wurde.

Jetzt hat die Combo ihr zweites Werk fertig gestellt. Aus der Zuversicht von damals ist nun Gewissheit geworden. Den Stilmix aus Swing, Folk, Jazz und Balkangroove haben sie beibehalten und dennoch klingt es anders beim Erstlingswerk. Auch die Texte der Songs sind gereifter, direkter. 

"Bringst du mir was mit?" setzt sich beispielsweise mit der Lebensmittelverschwendung in unserer Konsumgesellschaft auseinander. Die Idee für den Refrain kam den Dreien an „einem schweinekalten Wochenende“ in Berlin. Bis aber letztendlich „ein Song daraus wurde, dauerte es zwei Jahre.“ Sängerin Caro Wendel hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt, hat, wie sie selbst sagt, viel recherchiert. „Ich wollte es den Leuten um die Ohren hauen.“ Das ist ihr gelungen. Ohne den Holzhammer herauszuholen oder oder gar wehleidig zu klingen - trotz der ernsthaften Problematik. 

Für mich ist nicht nur dieser Song eine Empfehlung wert, sondern das ganze Album. 

Weitere Informationen:
www.carokistekontrabass.de 

Video:
www.carokistekontrabass.de/video.html

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