Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.
Danny Dziuk braut in seiner Küche auf seinem neuen Album einmal mehr exzellente Klangbilder und Textwelten. Im Lied „Weichen“ knüpft Dziuk bei Bob Dylans „Dark Eyes“ aus dem 1985er Album Empire Burlesque an (greift dabei aber nicht zur akustischen Gitarre sondern spielt am Klavier). Klagte Dylan …
„A cock is crowing far away and another soldier"s deep in prayer,
Some mother"s child has gone astray, she can"t find him anywhere.
But I can hear another drum beating for the dead that rise,
Whom nature"s beast fears as they come and all I see are dark eyes“,
so singt Dziuk vom
„Rufer dort von irgendwo
der Dir die Richtung gab
oh Dunkelheit & Irrsinn, die
Dir folgten wie ein Grab“.
Dziuk singt in „Weichen“ aber nicht über die Ausdruckslosigkeit und Wurschtigkeit der Menschen, sondern vielmehr über die „Weichen dieser Lebenszeit“, über die Entscheidungen frühmorgens und über die Helden aus einer anderen Zeit, und assoziiert in einer Strophe sogar „göttliche Verschwörung“ mit einem Film von Jean Renoir, der sich hier auf „grund-elementar“ reimt. Große Bilder in feinster Dziuk-Poesie, die mehr Gefühle denn etwas Greifbares vermitteln, spürt der Sänger in zehn vierzeiligen Strophen auf, z. B. vom Herz,
„von dem man sagt, nur das
gebrochne sei auch ganz
was brachte Dich vor langer Zeit
zur Welt so auf Distanz“.
Das düstere und hoffnungslose Element bei Dylan („all I see are dark eyes“) wandelt sich bei Dziuk in eine Dämmerung, die nur dann wenig wert ist „wenn du jetzt kapitulierst“, und so nimmt Dziuk den Hoffnungsschimmer am Horizont dankbar auf und bleibt allen Widrigkeiten zum Trotz, die einem „die Weichen dieser Lebenszeit“ oft bieten, einer, der doch noch an das Gute glaubt, und dass es eben wert sei, der Dämmerung entgegenzublicken.
„Bleib da, wo Du jetzt bist & dann sei stark & wart’s doch ab.“
Der Black war, als er noch ohne den bestimmten Artikel firmierte, die eine Hälfte des Duos Schobert & Black, das in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit gehobenem Nonsens und wahrhaft witziger Gesellschaftskritik große Erfolge feierte. Heute würde das wahrscheinlich unter „Comedy“ laufen, aber damit täte man den beiden Unrecht. Sie waren stets Tänzer auf dem Trennseil zwischen Klamauk und Kabarett.
Nun hat also der Black, im reifen Alter von über 60 Jahren, seine erste Solo-CD auf den Markt geworfen. Sie heißt Meschugge, und das Titelstück möchte ich den Hörerinnen und Hörern wärmstens empfehlen.
Der Song hat noch einen zweiten Titel: „Das neoliberale Bewusstsein“. Die Verse stammen von Blacks kongenialem Lieblingstexter und Freund Pit Klein, und natürlich hat das Thema den Black zu einem Blues inspiriert, jener musikalischen Ausdrucksform, die es wie keine andere immer wieder irgendwie schafft, Ängste und Leid überlebbar zu machen. Begleitet wird er dabei virtuos von Adax Dörsam auf Dobro, Lap Steel und Jazzgitarre.
In fünf Strophen singt uns der Black in unnachahmlicher Manier von dem, was vor fast 25 Jahren mit Kohls „geistig-moralischer Wende“ seinen Anfang nahm und heute gängige Lebensphilosophie vieler geworden ist – das Streben nach materiellem Gewinn ohne Rücksicht auf Verluste. „Da musch uffbasse, das musch gugge, / sonst wersch meschugge“, warnt er im Refrain, denn aus dem gemeinsamen Streben nach besseren Lebensbedingungen ist ein Kampf Mann gegen Mann geworden. Gewachsene Strukturen und Wertvorstellungen gehen über Bord. Menschlichkeit und Solidarität sind nicht mehr gefragt, Gewinnmaximierung ist die oberste Devise. Das gilt im Kleinen ebenso wie im Großen. Aus der sozialen ist, über den Umweg der „freien“, die totale Marktwirtschaft geworden.
„Man vertraut nach wie vor auf die Märkte,
wenn sie auch willkürlich sind,
es sei denn, ein Staatsanwalt merkte,
wie kriminell Börsen schon sind.
Man muss heute sehr clever planen,
ganz ohne Leichtsinn und cool,
doch knattern die Schnäppchen-Fahnen,
auf geht‘s in den Risiko-Pool.“
Und wer trägt am Ende das Risiko? Wir erleben es gerade, wie Politiker auf der ganzen Welt der Wirtschaft geflissentlich zu Diensten sind und ihren Völkern die Kosten aufbürden, die von verantwortungslosen Finanzjongleuren verursacht wurden. Wie sie sich gleichzeitig ereifern über deren Machenschaften, was allerdings ohne die entsprechende Gesetzgebung, die sie selber zu verantworten haben, nicht möglich gewesen wäre. Und wenn man sich das klarmacht, kommt man sicherlich zum gleichen Schluss: „Da kannsch uffbasse, da kanns gugge, / da wersch eifach meschugge.“
Zu Beginn der persönlichen Empfehlung eine persönliche Erinnerung: Tübingen, Anfang November 2000. Ein Freitag. Einige der (damals SWR-)Liederbesten-Juroren treffen sich am Vorabend des Liederfestes beim Griechen. Mit in die Kneipe stiefeln an diesem saukalten Abend vier junge Musiker aus Berlin, so Mitte 25, die Band Herr Nilsson. Allen vieren steht die Verwunderung ins Gesicht geschrieben, warum hier im Südwesten – und das ist ja ziemlich weit weg von Berlin – sich Leute für ihre Musik interessieren. Das lässt sich schnell klären: weil sie frische Töne anschlagen, weil in ihren Liedern zwischen Pop und Chanson überraschende Geschichten, unverbrauchte Bilder stecken. Und weil ein netter Kolleginnen-Tipp aus Berlin kam: Da gibt‘s so ne ganz junge Gruppe, die hat ne CD Liebesleid und Fischigkeit in der Küche aufgenommen. Anhören!
Herr Nilsson, unter ihnen Mitbegründer und Sänger Jan Böttcher, hat am folgenden Abend das Tübinger Liederfest-Publikum sofort überzeugt. Ein runder, Funken überspringender Auftritt der Förderpreisträger. Noch im Ohr: das Lied über das unbedingte Badewasser-Einlassen-Wollen für die Angebetete. Soweit dies. Bis zur Auflösung sieben Jahre später hat Herr Nilsson insgesamt vier Alben veröffentlicht. Warum die Band nie so richtig über den Status „ziemlich bekannt“ hinauskam (und es übrigens auch dann nicht mehr in die Bestenliste schaffte), sei dahingestellt. Jedenfalls hat Jan Böttcher den Status überschritten – als Schriftsteller, ausgezeichnet u. a. beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 2007 – und er hat als Musiker weitergemacht und jetzt eine Solo-CD vorgelegt: Vom anderen Ende des Flures.
Dieses andere Flurende ist schummrig und rätselhaft. Von dort kommen mal traurige, mal beschwingte Töne mit melancholischen oder ironischen Untertönen. Und dort liegen die Räume, die Böttcher dem Hörer öffnet: die Klapse mit Bed & Breakfast, die Porno-Galeere, die Schlucht, die aus dem Paradies führt... Ein Lied geht in einen Zeit-Raum, nämlich den der Kindheit und Pubertät. Titel: „Die frühen Verluste“. Es ist ein Klagelied ohne Anklage. Über Schoko- und Fernseh-Verbot, in Arrest sperren, Ball wegnehmen, Schallplatten zerbrechen – über all diese allzu bekannten Erziehungsmaßnahmen von Eltern oder Erwachsenen, die ihre Kinder am liebsten einfrieren möchten, um sie als „zivilisierte“ Menschen wieder aufzutauen. Das Heranwachsen als Albtraum. Jan Böttcher bringt dieses verdammte Gefühl, das jede/r Jugendliche irgendwann einmal hat, auf den Punkt: Die Erwachsenen wollen einem eigentlich nur den Spaß am Leben nehmen. Und ganz hinten zwischen den Zeilen
„Wie die Weiden sich verneigen oder der Wacholderstrauch,
wie er sich biegt, als würd er zuhören, und vielleicht tut er das ja auch.
Jedenfalls brennt er nicht und spricht nicht, dazu sind wir auserkoren.
Man sieht sich immer zweimal – wer das glaubt, hat schon verloren.“
Da scheinen Assoziationen auf. Brennender Strauch oder Busch, der spricht – Moses – die Zehn Gebote. Da zeigt sich ein brillanter Texter: Den wirklichen Reim muss sich der Zuhörer machen. Und wie ist der Schluss zu knacken? Hat gewonnen, wer endgültig Abschied nehmen kann? Überraschende Geschichten, unverbrauchte Bilder. Da hat sich jemand weiterentwickelt am anderen Ende des Flurs.
Künstlerinnen und Künstler aus Österreich haben in jüngster Zeit in der Liederbestenliste deutliche Spuren hinterlassen. Mit Tini Trampler und die dreckige Combo sowie Georg Breinschmid sind zwei in der aktuellen Top 10 vertreten. Miksch und die Koda Komisch Kombo sind die CD des Monats. Thomas Raab, Hubert von Goisern, Faschings Kuchlradio, Ernst Molden gehören zu den weiteren Österreichern, die sich in der Septemberausgabe der Liederbestenliste finden. Und dann ist da die Wienerin Eva Jantschitsch alias Gustav. Ihre Klangmischung aus modernen Samples und traditioneller Instrumentierung – darunter ein ganzes Blasorchester – könnte man als so eine Art zeitgemäßen Liedermachersound bezeichnen. Hinzu kommen Texte, die wohl gefeilte politische Stellungnahmen enthalten. Von diesem Ansatz war schon ihr 2004 erschienenes Debütalbum Rettet die Wale geprägt, für das sie den Amadeus Award, den Preis der österreichischen Musikindustrie, bekam.
Als jemand der einen Großteil seiner Zeit im Großstadtmoloch New York verbringt, sind Gustavs – mit gesanglicher Unterstützung von MP Kopflos von der Band Glutamat – im Titelstück ihrer neuen CD zum Ausdruck gebrachten Gefühle nur zu gut nachvollziehbar: Menschenfeindlichkeit und Kälte in Straßenschluchten aus Asphalt und Beton. Ein Symbol für die Gesellschaft in der wir leben.
Das Lied handelt – O-Ton Gustav im Interview mit der Zeitschrift Jazzthetik – von der Unmöglichkeit, in diesen von uns gebauten Städten ein lebenswertes Leben zu führen „aber gleichzeitig auch von der Suche nach einem Leben außerhalb dieser Architektur, einem .life in the woods‘, einer Essenz, einem .nackten Leben‘ , das wir im .Dickicht der Städte‘ nicht mehr finden.“
Dabei stellt Eva Jantschitsch aber auch außer Frage, „dass selbst die Flucht ins Rurale keine Lösung ist, da dies bereits von Heimatfolklore besetzt ist.“ „Verlass die Stadt“ ist musikalisch wie textlich wahrlich eine Liedempfehlung!
Selten ist es mir so schwer gefallen, eine persönliche Liedempfehlung zu schreiben. Nicht aus Mangel an Gutem, sondern wegen Überfluss an Liedern mit Niveau. Das muss auch einmal gesagt sein. So, wie ich Ernst Molden und sein „Wiesenliegen“ empfehle, könnte ich den LiedfreundInnen drei, vier Lieder für den Monat August an Herz und Ohr legen. „Wiesenliegen“ trifft allerdings am besten die Stimmung im Juli. Die lähmende Sommerstimmung in einer Großstadt wie Wien.
Ernst Molden ist Wiener, arbeitet als Journalist, Schriftsteller und Sänger, aktuell tourt er unter anderem mit Harmonikaspieler Walter Soyka. H.C. Artmann nannte ihn einmal den „letzten Victorianer“. Was seine ganz große Stärke ist: Ernst Molden kann beschreiben, Stimmungen erzeugen, man riecht seine Lieder, man schaudert, ekelt sich bisweilen oder kriecht hinein in die Welt der verwobenen, dennoch nüchternen Texte. „Wiesenliegen“ zeichnet die Stadt Wien – und das, was man an einem Sommertag darin erleben kann, wenn alle Sinne dazu bereit sind. Da nimmt man stinkende Kanäle genauso wahr wie zerplatzende Taubeneier, fühlt mit den Trostlosen der Stadt – „ es wird dämmrig unter Männern, die sich nicht mehr wehren“ – und fühlt das Pistazieneis den Handrücken entlanglaufen. Ist es Genremalerei? Ist es harte Dokumentation? Ist es feinsinnige Poesie? Sicher von allem etwas. Grandios – dieses Lied: Auch wenn es Filmer, Fotografen oder Maler arbeitslos macht. „Wiesenliegen“ ersetzt sie – poetisch und musikalisch.
Black oder, wie er neuerdings und noch ein wenig gewöhnungsbedürftig heißt, „Der Black“ aus dem legendären Duo Schobert & Black ist wieder da. In den Siebzigerjahren feierte der Liedermacher, bürgerlich: Lothar Lechleiter, zusammen mit Wolfgang „Schobert“ Schulz spektakuläre Erfolge. Das Programm des Duos: gesellschaftskritische und politische Lieder ebenso wie die Gattungen des „Höheren Blödsinns“: Nonsens-Songs, vertonte Limericks und Klapphornverse. 1985 trennten sich die beiden Künstler voneinander. Im Jahre 1992 starb Schobert. Black hat nunmehr, nach langen Jahren der Zurückgezogenheit, in denen er aber hin und wieder Liveauftritte absolvierte, seine erste Solo-CD herausgebracht.
Das Eröffnungslied mit dem programmatischen Titel „Grundsätzliches“ stammt, wie die meisten Lieder dieser CD, aus der Feder des ehemaligen Rundfunkjournalisten Pit Klein, mit dem Black bereits vor einigen Jahren ein viel beachtetes Fritz Graßhoff-Album veröffentlicht hat. Der bissig-satirische Song ist eine Art neoliberales „Abendgebet“ bundesrepublikanischer Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den brennenden Problemen dieser Welt. Traditionelle Gebetsformeln und Kirchenlieder-Zitate, in harten Kontrast gesetzt zur zynischen Realität, verleihen dem Lied seine besondere satirische Schärfe: „Komm Heilger Geist, kehr bei uns ein/ und trink ein gut Glas Aldi-Wein./ Die halbe Welt hat nichts zu fressen,/das liegt in unseren Intressen.“ Das böse Erwachen für uns alle, auch für die unverbesserlichen Interventionsstrategen mit Atomschlag-Optionen, wird nicht auf sich warten lassen: „Was machen wir an mayday zwei?“
Mit politisch-satirischen Songs wie diesem bleibt Black der aufklärerischen Liedtradition treu – kongenial unterstützt von seinem künstlerischen Partner Pit Klein. Der Titel „Grundsätzliches“ ist sicher die treffendste der gesungenen Satiren auf unsere schöne neue Shareholder-Value-Welt, wobei der virtuose Gitarrist Adax Dörsam, der auch fürs Arrangement verantwortlich zeichnet, einen ganz wesentlichen Anteil am Gelingen dieses Songs hat. Und noch eines: Blacks schöne und klare Gesangsstimme – sie kommt seiner parodistischen Vorliebe für die liturgische Floskel in besonderer Weise entgegen – hat in all den Jahren nichts von ihrem viel gerühmten Glanz verloren.
Liedermacher schilt man häufig Jammerlappen. Sie klagten nur über die ach so schlechte Welt, sagt man. Götz Widmann aber freut sich, dass er leben darf, und das, ohne je Soldat gewesen zu sein – und fast ganz legal. Das Lied entstand, nachdem sich Widmann mit seinem Freund und Kollegen Stefan Stoppok bei einem Spaziergang durch Aachen über ihr Leben als Musiker ausgetauscht hatte. Es schildert, wie er sich noch vor der so genannten mündlichen Anhörung bei der Musterung durch die Gesetzesmaschen schmuggeln konnte und dafür Ersatzdienst „bei Omas und Opas“ leistete. Es beschreibt, was man aus „Saving Private Ryan“ kennt und ihm erspart geblieben ist. Sogar der Ausbildung an einer Waffe konnte er sich entziehen.
Seiner Erzählung fehlt jegliches schlagerhafte, bei solchen Themen oft gehörte, überschwengliche, frömmelnde Pathos einer religiös verbrämten Pseudodankbarkeit. Bei Widmann drücken Text, Melodie und Gitarrenarrangement mit einem rockigen Zwischenteil sein persönliches Empfinden – Glück, Stolz, Selbstbewusstsein und Lebensfreude – aus.
Das Lied ist – musikalisch – ein relativ komplexes Stück. Die Melodie fällt auf, denn sie ist keine Allerweltsmusik. Erstmals verwendet hier Widmann auf seinem Instrument nicht die Standard-Stellung, sondern ein open tuning und ist dabei auf seinen Fingersatz sehr stolz. Mit seiner sechssaitigen Gitarre zupft er sechs Mal ein D. Der rockige Zwischenteil illustriert dann die Anfangsszene in von „Saving Private Ryan“ in Widmanns Interpretation.
Hat man „Ich durfte leben, ohne Soldat gewesen zu sein“ mehr als einmal gehört, wird das Lied leicht zum Ohrwurm.
Lieder und Balladen der prosperierenden deutschsprachigen Rock- und Popmusik finden in der Liederbestenliste so gut wie nicht statt. Bedauerlicherweise. Denn so manches, was in den letzten Jahren gerade von jungen deutschsprachigen Rock- und Popmusikern jenseits von „Liedermacher & Co.“ veröffentlicht wurde, ist mehr als nur hörenswert. Hier artikuliert sich eine ganze Generation in einer Intensität und spannenden wie überraschenden Originalität, wie ich sie bei einigen Liedermachern und Songbands zunehmend vermisse. Denn das Lied, die Ballade – sie sind längst neu definiert. Höchste Zeit, dass die Liederbestenliste sich ihnen nicht länger verschließt.
Und so nutze ich die Gelegenheit, einen Song von Udo Lindenberg zu empfehlen. Ich weiß: Udo Lindenberg polarisiert und auch ich zähle mich keineswegs zu seinen Fans. Seine Art zu singen, sich zu geben, sein ganzes Image: Man muss das alles nicht mögen, nur wissen, dass sich hinter der Fassade auch ein etwas „anderer“ Udo verbirgt.
An seinem neuen Album Stark wie zwei (in den Charts auf Anhieb auf Platz 1) kommt niemand vorbei, der sich mit deutschsprachigen Liedern und Balladen beschäftigt. Nehmen wir „Was hat die Zeit mit uns gemacht“. Eine gesungene, altersweise Reflektion des 62-Jährigen, zu der ihn der 26-jährige Simon Triebel von der Band Juli inspirierte. Ein Generationenwerk, wie das ganze Album. Triebel und Lindenberg haben einen sehr einfühlsamen, nicht überfrachteten und dabei doch poesievollen Text in balladeske, wehmütigere Töne gesetzt. Ob zuerst die Musik vorhanden war oder erst der Text – das ist unerheblich. Geschrieben hat den Arezu Weitholz, die sich bereits als Textdramaturgin Herbert Grönemeyers und als Texterin der Toten Hosen hervorgetan hat. Inhaltlich geht es in dem Song um Entfremdung, einem hierzulande gern heruntergespielten Phänomen zwischenmenschlicher und zivilgesellschaftlicher Beziehungen.
Produzent Andreas Herbig tut nichts, was dieses zerbrechliche Lied zerbrechen könnte. Im Gegenteil: Er hat es sogar geschafft, dass Lindenberg nicht den coolen Nuschler gibt, sondern einen suchenden, eher grüblerischen Zweifler. Großartig und glaubwürdig. Selten haben sich Sound und Arrangement so dicht an Text und Gesang angeschmiegt. Keine elektronischen Spielereien, keine Effekte – die pulsierende Kraft dieses Songs kommt ausschließlich aus ihm selbst. Eine Dramaturgie, die übrigens allen Titeln dieses spektakulären, deutschsprachigen Albums zu Grunde liegt, auch den rockigeren. Ich kann mir nur wünschen, dass sich ein Lied aus Stark wie zwei auch in der Liederbestenliste wieder findet. Es würde sie zieren.
Pigor singt und Benedikt Eichhorn muss begleiten – dieser zunächst ungewöhnliche Name für ein Duo, dass inzwischen zu dritt ist, steht schon seit einigen Jahren für eine der intelligentesten Schöpfungen und Darbietungen im deutschsprachigen Lied und Kabarett. Und nicht wenige gibt es, die halten Pigor für den einzigen deutschen Rapper, der wirklich etwas zu sagen habe. Seine Wortkaskaden pulsieren und treffen zugleich, egal ob es wie auf der jüngsten CD Volumen 6 um maulende Rentner, Pseudokontrolleure im öffentlichen Nahverkehr, die IT-Branche oder inkompetente Jungentscheider geht.
Und während das Land unter einem lang andauernden Streik der Lokführer stöhnte und die Kritik je nach Standpunkt den Bahnvorstand oder die Lokführergewerkschaft traf, schrieben Pigor und Eichhorn ihr Lied über „Bahnhofsarchitektur“. Mit nicht mal 50 Sekunden Länge steht es nicht nur in krassem Gegensatz zur Streiklänge, es liefert in acht Zeilen treffende Beschreibung und aus Erfahrung gespeiste Klage über diesen so zentralen und doch bislang unverständlicherweise wenig beachteten beton- und glasgewordenen bahn-deutschen Zustand. Ein kleines Meisterstück!
Ach ja, Klaus Hoffmann. Unverbesserlicher Romantiker, passionierter Globetrotter, bekennender Berliner. Der deutsche Liedersänger mit der Ader für die große französische Chanson-Tradition hat gewiss nicht immer, aber sehr oft doch die Kurve gekriegt von sentimental zu gefühlvoll, von verträumt zu visionär, von der eigenen Innenschau zum Formulieren von Wahrheiten, die in seinen Zuhörern eine spezielle Saite zum Klingen bringen.
Im neuesten Band von Hoffmanns Erzählungen, dem Album Spirit, ist das Wort „Traum“ einer der am häufigsten verwendeten Bausteine im Versgerüst. Doch das Fantasieren bedeutet hier nicht Flucht, nicht Wegbeamen in eine idyllische Parallelwelt. Nein, der bald 57-jährige Hoffmann registriert die Realitäten und lässt sich von ihnen anregen zu Träumereien oder Erinnerungen, die dem Vordergründigen eine bereichernde Dimension hinzufügen; er stellt den bloßen Augenschein infrage und gelangt so immer wieder zu durchaus überraschenden Einsichten.
Ein starkes Stück ist diesbezüglich der Titelsong „Spirit.de“. Hier treibt Hoffmann ein raffiniertes Spiel mit Menschen und Orten, mit Vergangenheit und Zukunft, Gefühlen und Gedanken, Zeichen und Dingen. Ist das jetzt eine Liebeserklärung an die Heimatstadt Berlin, die es ihren Verehrern nicht einfach macht, oder eher eine Bestandsaufnahme der eigenen Rastlosigkeit, der abgeschlossenen Liebschaften? Da streift Hoffmann mal in Gedanken „die Gänge im Bezirksamt, den Paternoster, die unfreundlichen Bemerkungen der Aktenverkoster“, die „Bezirke, bis zum Erbrechen mit Fotos voll“, dann plötzlich sinniert er „Junge sucht Mädchen, Mädchen tut weh ...“
Zu diesem Jonglieren mit Assoziationen passt das eigenartige Tempo von„Spirit.de“: schnell, treibend irgendwie, aber auch langsam genug, um zum Nachdenken anzuregen. Hawo Bleich als Arrangeur für die Hoffmann-Band und die Münchner Philharmoniker haben da ebenfalls einen feinen Job gemacht.
Und das „.de“? Nun, wer „Spirit.de“ in die Adresszeile eingibt, gelangt zu einer EDV-Beratungsfirma. Bei Klaus Hoffmann reimt sich www meist auf „Mädchen tut weh“ (s. o.). Der Rest ist Poesie...
„Toubabodou“ heißt in der westafrikanischen Mandinka-Sprache soviel wie „gelobtes Land“. Das Lied erzählt von den geplatzten Träumen, den vielen Entbehrungen und dem Leid eines Schwarzen auf der langen Reise nach Europa, dem Kontinent der Träume. George Leitenberger verzichtet darauf, die Geschichte mit pädagogischem Zeigefinger vorzutragen. Das, was er erzählt und wie er es tut, spricht für sich. Ein Fazit bleibt der Sänger schuldig.
Die Kraft der Worte wirkt dadurch umso stärker. George Leitenberger verzichtet auch darauf, dem Klangbild afrikanische Töne beizumischen. Seine dunkle, fast beiläufige Stimme und die locker hingeworfenen Gitarrenakkorde erinnern an J.J. Cale. Der ideale Sound also für ein Roadmovie. Wer genau hinhört, kann sich dem inneren Film, der unweigerlich abläuft, kaum entziehen. „Toubabodou“ ist das wohl eingängigste Stück einer CD, die beim zweiten Zuhören eine starke Kraft entwickelt.
Eigentlich soll hier nur ein Lied empfohlen werden und kein Porträt verfasst, aber ich muss zugeben, es fällt mir schwer, mich bei einer so vielfältig engagierten Sängerin, Veranstalterin, Komponistin und Moderatorin wie Tanja Ries auf wenige Worte zu beschränken. An anderer Stelle wird sie als Antichanteuse, Poetin, Engel, postmoderne Diva oder Elfe bezeichnet.
Vermutlich um zu verdeutlichen, dass hier Eine nicht einfach nur die Tradition des Chansons weiterführt, sondern es anreichert, weiterentwickelt, ausbaut, sprengt.
Auch der Name Kronstädta, dessen Beats dem gemeinsamen Album Liebe Mich Fundament und Herzschlag geben, steht für diverse nicht nur musikalische Projekte und Tätigkeiten, zusammengefasst unter dem Namen p-pack, allerdings beheimatet in einem ganz anderen Genre, dem HipHop. Auch er lotet die Grenzen des Genres aus, erweitert sie nach belieben, unter anderem mit seinen musikalischen Projekten Bruda&Kronstädta oder Department.
Die Zusammenarbeit beider resultiert, glaubt man dem Blog der Chansonniere Ries, aus einer zufälligen Begegnung mit Kronstädta, die die kreative Pause der Sängerin Ries unmittelbar beendete. Entstanden ist eine gelungene Mischung nicht nur zweier ungewöhnlicher musikalischer Ansätze. Es treffen auch zwei Berliner Musikwelten aufeinander, die bisher den Kontakt miteinander nicht unbedingt suchten: Neues Chanson trifft Club/HipHop-Underground.
Das Ergebnis ist erfrischend leichtfüßig arrangiert und dennoch vielschichtig, tieftextig und trotzdem einfach, überrascht mit vielen kleinen musikalischen Ideen und hinterlässt dennoch einen rundum stimmigen Gesamteindruck. Kurzum: Timbre und Texte dieses Albums haben mich ge- und berührt. Damit gehört es zu den wenigen wertvollen Aufnahmen, denen es gelingt, die intime Atmosphäre eines Konzerts zu transportieren, obwohl es im Studio entstanden ist.
Besonders empfehlenswert: Track 4 „Für M.M.“