Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2020  Petra Schwarz, Berlin

FloBêr: Berg und Prophet

„Vorwärtsfolk“ nennen die Vier von FloBêr das, was sie künstlerisch machen.
Und ja: Andreas Albrecht (perc), Bernard P. Bielmann (akk), Florian Krämer (git)
und Christian Lutz (bass) gehen nach vorn. Im Song „Berg und Prophet“ geht
sogar ein riesiger Berg, „ein echter Gigant“ nach vorn. Warum tut er das? Nun,
„… er hatte eine Sehnsucht: Wollte endlich was spüren!“.

Zur selben Zeit machte sich ein einsamer Wanderer auf den Weg durch die Heide und sang zur Laute laut „die Wahrheit“. Der Berg verstand: „Der Prophet hat gerufen – Und der Berg hat zu kommen!“ Die Geschichte nimmt ihren Lauf… und letztlich kommt der „rasende“ Berg nach langer Reise glücklicherweise am Fuß des Propheten zum Stehen. Dieser erklimmt den Berg und tut kund: „Der Prophet hat gerufen – und der Berg ist gekommen.“

DIn einer altbekannten Redewendung heißt es ja sinngemäß: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg gehen. Bernard P.Bielmann, neben Florian Krämer einer der Mitbegründer von FloBêr (so viel zum Namen), dreht das Ganze in seinem Song also um: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten kommen. Der interessante „Dreh“ hier: Die Initiative geht sogar vom Berg aus: Dieser  f ü h l t e  sich gerufen und machte sich auf den Weg. Der viel Stärkere zieht also los und lässt sich durch nichts aufhalten.

Ein Song über einen Felsen, „also ein Rocksong“, wie Bernard P. Bielmann in einem Video zum Song augenzwinkernd sagt. Ganz am Schluss heißt es dann: „Seither ziehen wir durchs Land und wir spielen unsre Lieder – und so manch kleiner Kiesel findet uns wieder.“.

A ja 😉

„Scharfzüngiger Folk zwischen Polka und Gipsyswing, Balkan und Ballade“; so beschreiben die 4 Liedermacher, die sich vor ein paar Jahren als FloBêr zusammengetan haben, ihre Musik. „Vorwärtsfolk2, der – ich ergänze gern – noch dazu Spaß macht und zum Tanzen animiert. Eine vielfältige, bunte Mischung auf „SoWeit“, der zweiten CD der Berliner Gruppe FloBêr, die ich über „Berg und Prophet“ hinaus empfehle.


Weitere Informationen:
http://flober.eu/

NOV 2020 

Christina Lux & Oliver George: Haus

Im letzten Jahr dominierte die aus Karlsruhe stammende und heute in Köln lebende Sängerin und Komponistin über Monate die Liederbestenliste mit ihrem funky Song 'Was zählt für Dich?', indem man auch schon die Schatten einer vergangenen Love-Story spüren konnte. Ihre neue Single 'Haus' schreibt diese private Geschichte auf poetische und einfühlsame Art und Weise künstlerisch fort:„Am Ende ist es so gekommen, wie es bei mir immer kommt“, sagt sie, „ich bekomme den Salat aus Gedanken und Gefühlen nur geordnet, in dem ich einen Song daraus mache. Das schließt den ganzen Prozess quasi ein und ich komme zur Ruhe.“

Entstanden ist ein herbstlich anmutendes Lied, arrangiert mit Gitarre, Cello und Violine (federführend Oliver George) und Christina Lux' zurückhaltender, fast flüsternder Stimme. Im Kern dreht sich die fast akustisch anmutende Ballade um ein Haus, in diesem Fall eine Metapher für Heimat und Geborgenheit, für Zuhause sein an einem Ort des Vertrauens:„Wenn Du Dir vertraust, baust Du 'n Haus, in dem Du Dich aufrichten kannst, ohne Dir den Kopf anzuhau'n.“.

Der Song schaut zunächst zurück auf Vergangenes („Wir sind zu oft gestrandet, zu selten gelandet“), versinkt aber nicht in düsteren Melancholien, sondern schwingt sich bald auf zu neuen Ufern, aus dem Herbstlied wird plötzlich ein Song mit heiterem Vorwärtsdrang:„Ich will alles (von Dir), Ich will Dich ganz.“.

Christina Lux ist ein verträumter, märchenhafter Song gelungen, der sowohl textlich als auch musikalisch überzeugt und vor allem durch den dramatischen Aufschwung in der Mitte mitreißend wirkt. Sogar das lässig hineingeworfene 'Yeah Yeah Yeah, ey' zu Beginn der Strophe verweist bereits darauf, dass das Leben in der 'Überlebenskiste' immer wieder mal eine Überraschung bereit hält. Man muss eben nur vertrauen.

Perfekt darauf abgestimmt ist das vergnügliche Animationsvideo von Tine Kluth (Stuttgart, London), das den märchenhaften Charakter mit drolligen Hasen und Tausend und eine Nacht-Schlösschen unterstreicht und das ganze Haus am Ende mit einem Ballon in eine neue Welt entschweben lässt. Weggeblasen ist spätestens dann der ganze Ärger von gestern.


Weitere Informationen:
https://www.christinalux.de/

OKT 2020  Hans Reul, Eupen/Belgien

Prinzessin & Rebell: Zusammen!

Ein neues Duo mit zwei guten „alten“ Bekannten: Die Prinzessin ist Anna Katharina Kränzlein (Geigerin und Multiinstrumentalistin während gut 20 Jahren bei der Mittelalter-Folkband „Schandmaul“), der Rebell ist Florian Kirner, der als Prinz Chaos schon seit Jahren die Szene aufmischt. Franz Josef Degenhardt nahm ihn 2000 symbolisch in die Bruderschaft der Sänger auf , 2013 verfasste er mit Konstantin Wecker den „Aufruf zur Revolte“. Bei Weckers Label „Sturm & Klang“ erscheint jetzt die CD „Boomende Stadt“ von Prinzessin & Rebell.

Dass Florian Kirner nicht nur ein versierter Texter und Liedermacher sondern ein ebenso streitbarer Aktivist ist, zeigt sich einmal mehr in dem Lied „Zusammen“. Die Melodie ist bestens bekannt - die Geschichte von „Prinz Eugen, dem edlen Ritter“  stammt aus dem frühen 18. Jahrhundert - und geht dementsprechend leicht ins Ohr.

Kirner hat nun einen neuen Text geschrieben, der direkt auf den Punkt kommt. In jeder der sechs Strophen wird ein aktuelles Thema aufgegriffen. Immer im Blick, das Gemeinsame, nur „Zusammen“ schaffen wir es, diese Welt zu verändern und ein Stück besser zu machen.

Da sind zunächst die Roten - und in Frankreich - die Gelben Westen, die nur dann die Gesellschaft sozial gerechter machen, wenn die vielen Millionen zusammen den Weg gehen. Respekt verdienen jene, die uns allen durch ihre Arbeit und ihren Einsatz das Leben erleichtern und verschönern, aber auch jene, die am Rande der Gesellschaft stehen. Da ist auch das Plädoyer gegen die Homophobie und für die Anerkennung der Geflüchteten, auch für die, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen müssen, die „vor den Kriegen flüchten, die die Herren des Geldes züchten“.

Und Konstantin Wecker und Jo Barnikel lassen es sich nicht nehmen beim Bonus-Track der CD das Lied „Zusammen“ mit Prinzessin & Rebell zu interpretieren.

Weitere Informationen:
www.prinzessin-rebell.de

SEPT 2020  Richy Thorstensen, Halle

Jens Böttcher & Das Orchester des himmlischen Friedens - Haben oder sein

Es ist das erste Mal, dass ich den Namen Jens Böttcher höre und dabei ist er schon längst kein Unbekannter mehr - und das gleich in verschiedener Hinsicht. Er ist Schriftsteller, Singer, Songwriter und Fernsehschaffender. Aus seinem neuen Album begeisterte mich sofort der Titelsong „Haben oder sein“. Denn gerade in dieser jetzt schwierigen Zeit tut es sicher weh, auf so manche Annehmlichkeit zu verzichten. Andererseits muss man sich die Frage stellen, ob es wirklich so gut ist, alles haben zu müssen, immer schneller und höher hinaus zu wollen, bis man zu guter letzt – weil man alles erreicht hat und sich auch die Macht der Gewohnheit eingeschlichen hat, einfach nur noch fallen kann, so wie dies Jens Böttcher gerade in diesem Stück mit dem Orchester des himmlischen Friedens ausdrückt.
Das solch eine Leere entstehen kann, konnte ich mir durchaus an Hand des Stücks gut vorstellen.

Der Song animiert förmlich dazu, selbst einmal kontrollierend in sich zu gehen, aber auch über die Ambitionen unserer Gesellschaft und Kultur nachzudenken. Haben, haben oder eben einfach nur mal sein. Dem Stück fehlt es auch nicht an einem gewissen Witz, wenn es dort heißt, man hätte uns vor den Handys warnen sollen. Da ist wohl sicher was dran.

Sehr gut gefällt mir die wunderbar aufeinander abgestimmt Begleitmusik. Sie ist ausgewogen und sticht nicht gegenüber dem Gesang hervor. Die Melodie ist eingängig und man bekommt eigentlich sogar Lust, mitzusingen. Mehrmals habe ich mir das Stück angehört und ich muss sagen, dass mich die Musik schon ein wenig an die eines Jakob Dylan erinnert hat.
Also: Bitte unbedingt anhören

Weitere Informationen: www.jensboettcher.net/musik

AUG 2020  Katja Klüßendorf, Berlin

Maike Rosa Vogel - Unser Geld ist wichtiger als ihr

Das Lied ist nicht mehr ganz so neu und vielleicht hat es die eine oder der andere schon auf einer Fridays for Future-Demo gehört, aber nun ist es auch endlich auf eine CD gebracht! Mit „Unser Geld ist wichtiger als ihr“ liefert die Liedermacherin Maike Rosa Vogel auf ihrem neuen Album „Eine Wirklichkeit“ (VÖ: 1.5.2020) den aktuellen Soundtrack zu Berlin - oder wohl auch jeder anderen deutschen Großstadt. „In Deutschland nehmen Menschen Mieten von anderen Menschen, die nicht die Sorge haben, sich zu überlegen wie sie ihr Erbe investieren, in Immobilien in Berlin, denn bei der Bank gibt es sowieso keine Zinsen. Und damit die mit soviel Geld überhaupt noch was verdienen, zahlen andere die immer höheren Mieten. Selber kaufen können sie nicht, denn aus kapitalistischer Sicht bist du frei genug zum Miete zahlen, aber gehören tut dir dadurch nichts.“

Die Wahlberlinerin, die in einem linken Haushalt in Frankfurt/Main aufwuchs und ihren zweiten Vornamen Rosa Luxemburg verdankt, singt wütend über den verfluchten Kapitalismus. Dabei ist Maikes konkret gefasste Gesellschaftskritik derart aussagekräftig, dass sie als Schlüsselsong für eine, für ihre, für unsere Generation herhalten kann: gut ausgebildet, aber nur irgendwie über die Runden kommend, von einer bedrohten Umwelt umstellt. So sind wir „die, die mit den letzten 70 Euro endlich die Welt retten wollen, wenn es doch sonst keiner macht. Menschen sitzen auf Milliarden, tun nichts außer zu planen, wie aus einem Haufen von Milliarden noch ein zweiter werden kann. Sie sagen, schuld am Elend sind dann andere, die genauso wenig haben, und die keine Taktik fahren, die uns alle ruiniert. Und Schuld sind immer auch wir selber, weil wir warten wie die Kälber, und während wir warten beuten wir noch mit die Allerärmsten aus.“

Trotz der ernsten Themen gibt der Song – genauso wie das gesamte Album – die notwendige Wut und den Mut, die bestehenden Verhältnisse verändern zu wollen, die Gewissheit, dabei nicht allein zu sein und die Kraft, niemals seine Träume zu verlieren.

Digital erhältlich oder als CD plus Buch mit Texten und Akkorden

Weitere Informationen: http://www.maikerosavogel.com

JULI 2020  Michael Lohse, Köln

Manfred Maurenbrecher - Isso

Was haben wir nicht alles an spaßigen Corona-Liedchen über uns ergehen lassen müssen, die ganzen Kalauer über gehamstertes Klopapier, Masken-Zwang oder „Flatten the curve“ - so viele wohlfeile Ergüsse unterbeschäftigter Bühnenkünstler, dass ich in Manfred Maurenbrechers neues Werk fast gar nicht mehr reingehört hätte.

Dabei liegen Welten zwischen solchen Smalltalk-Witzeleien und seiner neuen Single „Isso“. Die stößt direkt vor in die Tiefen unserer kollektiven Seele. Der sprachgewaltige Monolog mit Klavierbegleitung, in dem das Wort „Corona“ übrigens kein einziges Mal fällt, entfaltet einen unheimlichen Sog. Von einer Seuche berichtet Maurenbrecher da, die zunächst weit weg ist – eine unwirkliche Meldung nur, die uns nichts angeht in unserer westlichen Hybris. Dann aber kommt „eine leichte Trübung in die Welt“. Und Maurenbrecher malt ein grandioses Gemälde der kollektiven Verwirrung, die nun langsam aber sicher die ganze Gesellschaft erfasst, bis keiner mehr der Erkenntnis entgehen kann: „Alles wird anders – isso“.

Neben denen, die sich auf den schwierigen Weg des „Irrens und Lernens“ einlassen, tummeln sich auf allen Kanälen aufdringliche „Kurzzeitphilosophen“ neben „Frühwarnoffizieren“ mit wiederauferstandener Blockwartmentalität. Und dann sind da noch die, denen das Übel ganz gelegen kommt: „machtgeile Potentaten“, die das Spiel mit der Angst beherrschen. Maurenbrecher versteigt sich weder zu kruden Verschwörungstheorien noch macht er auf Merkels singenden Regierungssprecher. Was ihn umtreibt, ist die drohende Spaltung der Gesellschaft, die immer tieferen Risse, für die der Kitt fehlt. Und wenn er in seiner Ratlosigkeit ausruft: „Gotthilf Fischer, Du wirst dringend gebraucht!“, so meint er das keineswegs nur ironisch. Denn der Chor steht bei ihm für eine gesellschaftliche Utopie, in der die unterschiedlichsten Persönlichkeiten zu einer vielstimmigen Gemeinsamkeit finden. Maurenbrecher selbst sagt über sein neues Werk, es beschreibe "vielleicht die Suche nach einer Gemeinsamkeit zwischen uns allen.

Auf das wir was draus machen, was Bessres". Und so beschwört er in „Isso“ am Schluss ausgiebig die Kraft des Gesangs und lässt, bevor etwas Neues entstehen kann, noch einmal die Fragmente der alten Welt nachhallen – von Lili Marleen über Rio Reiser bis zu Rolf Zuckowski. Fast zehn Minuten dauert dieser apokalyptisch-philosophische Rundumschlag. Zu lang für eine Single? Warten wir’s ab: Bob Dylan hat es mit seinem 17-Minuten-Song über die Ermordung John F. Kennedys schließlich auch gerade an die Spitze der Billboard-Charts geschafft.

Weitere Informationen: https://maurenbrecher.com/
Liederbestenliste | Juli 2020

JUNI 2020  Nikola Pfarr, Berlin

Die Sterne - Der Sommer in die Stadt wird fahren

Krisenstimmung vs. Solidarität, feinstes Frühlingswetter vs. Quarantäne, renommierte Virologen vs. Aluhut-tragende Köche – das Frühjahr 2020 ist von Gegensätzen geprägt. Der große gemeinsame Nenner ist da lediglich eine enorme Unsicherheit hinsichtlich dessen, was die kommenden Monate wohl bringen mögen.  In solchen bewegten Zeiten sehnt man sich nach Gewissheit – was ein Glück, dass Die Sterne diese gleich in doppelter Hinsicht liefern!.

Gewissheit Nr. 1: Der Sommer in die Stadt wird fahren

„Der Sommer in die Stadt wird fahren“ beginnt nicht nur mit einem funky Keyboard-Intro, sondern auch mit einer denkbar pessimistischen Bestandsaufnahme des Status quo: Unmut über Lügen, Phrasendrescherei und allgemein eine ausgeprägte misanthropische Grundhaltung sorgen erst mal für keine sommerliche Stimmung. Dass der im Refrain beschworene Sommer dann doch kommt, scheint Sänger Frank Spilker erstmal nicht so richtig glauben zu können. Das wird von wunderschönen Zeilen wie „Die Glieder würden wieder warm/ Wir zögen uns nicht so blöd an/ Das Eis es schmölze in den Getränken/ Der Schweiß er tröffe von den Wänden“ in der grammatik-gewordenen Unsicherheit konjunktiv illustriert. Am Ende des Liedes regnet es zwar immer noch Lügen, aber der blanke Pessimismus weicht immerhin Akzeptanz und der Gewissheit, dass es Sommer wird.

Gewissheit Nr. 2: Gute Musik

Zum schlichten wie dann doch aussagekräftigen Titel des Albums äußert sich die Band auf ihrer Website wie folgt: „Selbstbetitelt. Der Titel ist ein Statement.“ Gut, das kann man so stehen lassen. Teamwork makes the dream work – in diesem Sinne ist die Platte ein Gemeinschaftsprojekt diverser Musiker*innen wie z.B. den fantastischen Düsseldorf Düsterboys. Auch „Der Sommer in die Stadt wird fahren“ ist eine Kollaboration. Bei diesem Lied sorgen die Streichklänge des Kaiser Quartetts für die nötige Opulenz und der musikalische Tausendsassa Erobique steht mit Keyboard-Kompetenz zur Seite. Musikalisch bewegen sich sowohl Stück als auch Album hauptsächlich im Dreieck zwischen Indie-Pop, Disco und Funk. Von den eingangs erwähnten Gegensätzen kommt man auch im Song nicht los. Durch die Streicher, die Tonart und den Text schwingen ein gewisses Drama und eine diffuse Sehnsucht mit, die im gleichen Moment aber auch durch Selbstironie gebrochen werden.

So oder so, der Sommer kann und wird kommen.


Weitere Informationen:  www.diesterne.de

MAI 2020  Michael Laages, Hannover

Jens Thomas - Diese Fragen

Bevor vom Lied die Rede ist, muss vom Sänger geschrieben werden. Auch weil diesen Jens Thomas in der Gemeinde der Lied-Begeisterten kaum jemand kennen wird – der Pianist, Multi-Instrumentalist und Sänger stammt aus Braunschweig und ist vom Jahrgang 1970. In Hannover ist er aufgewachsen, in Hamburg hat er studiert; und zwar bei Dieter Glawischnig, dem aus Graz stammenden damaligen Leiter sowohl der NDR Bigband als auch des Jazz-Studiengangs an der Hochschule für Musik und Theater. Und nicht nur dank dieses Lehrers war Jens Thomas Mitte der 90er Jahre eines der vielversprechenden jungen Meister-Talente der deutschen und europäischen Jazz-Szene.

Das allein jedoch war nicht genug – Thomas begann in Inszenierungen des Theater-Regisseurs Luk Perceval mitzuwirken, improvisierte live (was wirklich selten ist im Theater!) und sang. Seither reist er viele Jahre schon mit dem Schauspieler Matthias Brandt durchs Land; die „Musikalische Lesung“ haben die beiden zu neuen Qualitäten geführt. Am Schauspielhaus in Bochum hat Jens Thomas Konzertreihen kuratiert; bei einem der wichtigsten deutschen Jazz-Labels erschienen CD’s von ihm, ausgerechnet dort würdigte er auch Heavy-Metal-Ikonen der eigenen Jugend. Zuletzt wurden die Film-Kompositionen von ihm begeistert gerühmt, die den Freiburger „Tatort“ grundierten: „Ich hab im Schlaf geweinet“.

Wer mag, kann das Motto dieses Gedichts von Heinrich Heine als Motto setzen über die aktuellen Lieder auf der CD von Jens Thomas (die auch seinen Namen trägt) – diese Texte, musikalisch auf verschiedenen Instrumenten durchweg in melancholischen Tönen unterfüttert, schauen selbst beim analytischen Blick nach außen, auf die Welt, wie sie ist, immer auch und vor allem nach innen: in den Menschen hinein. All die Unerklärbarkeiten um uns herum haben Echos im Ich – und als Autor wie als Komponist versucht Jens Thomas, diese Echos in Liedern zu bannen. „Diese Fragen“, der zweite Titel auf der CD, ist so ein Echo-Lied.

„Wohin / woher / bin ich nichts – oder ist da mehr / wohin woher wie viel wie sehr“ … so klingt (und liest sich) eine Text-Passage aus „Diese Fragen“. Thomas will sich selbst auf den Grund kommen,  er forscht; Ergebnisse und Antworten findet er nicht. In zwei Motiv-Liedern sieht er sich selber als Alchemisten – aber nicht um Gold zu gewinnen in der Retorte, sondern um die Zutaten zu erforschen, die das ausmachen, was wir „Mensch sein“ nennen. Momente gibt’s, wo die suchende Melancholie nicht weit weg ist von esoterischer Selbstfindungs-Philosophie, vor allem, wenn gelegentlich doch mal Antworten formuliert werden: wie „Ich bin nichts als ein Tropfen im Meer“ im „Diese Fragen“-Song. Aber im Gegenüber von Text und Musik gelingt es Jens Thomas doch fast immer, die Phantasien zu erden; den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren.

So lernen wir eine neue Stimme kennen im Geschäft der Liedermacherei; Jens Thomas, dieses Chamäleon der musikalischen Künste, nimmt uns mit auf die Reise ins kollektive Ich.

Weitere Informationen: www.jensthomas.com



APR 2020  Dieter Kindl, Kassel

Rafael Nyffenegger - Kartei

Achtzehn Lieder aus eigener Feder hat der in Olten lebende Liedermacher Rafael Nyffenegger auf seinem Debüt-Album „Bösguet“ zusammengetragen. Das Spektrum der Texte reicht von Alltäglichem bis hin zu Skurrilem.

Ein wenig ernster geht es in "Kartei" zu. Was früher als Utopie galt, ist heute schon längst Wirklichkeit. Egal, was wir machen, sagen, wollen, suchen, kaufen - alles landet im Archiv. Dazu braucht es keineswegs Jemand, der dies über uns zusammenträgt. Diesen Job haben längst Algorithmen übernommen, die alles, was wir in der virtuellen Welt unternehmen, registrieren und aus den gewonnenen Daten Entscheidungen für und über uns treffen. Unsere Privatsphäre haben wir schon längst der Wirtschaft vermacht. Rafael Nyffeneggers Wunsch lautet daher:

hoffentlich blybe de wenigschtens
üsi Wünsch u Gedanke no frei
[hoffentlich bleiben zumindest unsere Wünsche und Gedanken noch frei]

Beim Erzählen seiner Geschichten richtet Nyffenegger des öfteren den Blick nach innen und lässt sich von den teilweise abstrusen Gedanken und tiefen Gefühlen inspirieren. Die sind mal witzig, mal sarkastisch, dann wieder ernst und tiefsinnig. Die Beschränkung auf Stimme und Gitarre tut gut und ist keineswegs langweilig. Im Gegenteil! Weniger ist halt manchmal mehr. Für mich ein absolut empfehlenswertes Album.

Weitere Informationen: www.rafaelnyffenegger.ch


MÄRZ 2020  Hans Jacobshagen, Köln

Manfred Maurenbrecher - Jetzt auf einmal geht's

Eine freundliche Vision der Apokalypse: Wenn nicht mehr geht, was Mensch sich wünscht, geht ́s eben doch. Maurenbrecher zeigt uns, wo die Gier uns hinführt. Die Welt ändert sich, das Meer überflutet die Länder, die Polkappen schmelzen. Es gibt keine Autos mehr und keine Billigflüge. Mobilität schwindet. Der Mensch wird sich darauf einrichten. Die Vernunft setzt sich durch. Maurenbrecher beschreitet einen schmalen Grad zwischen Ironie und Realitätsbeschreibung. Was er sagt ist denkbar aber doch unglaublich. Kann das wirklich so kommen?

Das Album, auf dem dieses Lied veröffentlicht ist, heiß „Inneres Ausland“. Und so führen die Gedanken, die der Dichter entworfen hat, dazu, dass ich mir sagen muss: Ja das könnte so kommen. Aber will ich das wirklich so? Oder ist es nicht besser, jetzt dagegen zu steuern. Kann ich das? Die Klimaleugner gibt es in Maurenbrechers Vision von der Zukunft immer noch: Sie sitzen in geschlossenen Räumen und sind virtuell vernetzt mit ihren Lebensträumen, gehen dort auf Kreuzfahrt, Raserei im SUV und Großwildsafari. Die Unbelehrbaren bleiben unbelehrbar. Und obwohl so vieles für den Menschen fragwürdig wird in dieser Zukunft, singen die Heimatchöre „Gott erhalt ́s“.

Das großartige an diesem Lied ist, das es wachrüttelt ohne dass der Zeigefinger erhoben wird. Man kann, nein muss über jede Zeile nachdenken. Das Ende ist offen.

Maurenbrecher zeigt Dir den Weg nach Deinem eigenen Innen. Wenn Du angekommen bist, denke nach, ob Du an dieses Ziel willst oder findest Du eine Abzweigung? Entscheiden musst Du selbst.

Weitere Informationen: maurenbrecher.com

FEB 2020  Fredi Hallauer, Bern

Chlyklass – Nid üses Revier

Das Berner Rapper Kollektiv hat sich wieder einmal zusammen getan um ein neues Album gemeinsam aufzunehmen. Es ist dies das dritte Mal in 20 Jahren. Sonst haben und hatten die Musiker ihre eignen Combos und Projekte und sind auch Solo unterwegs. Chlyklass heisst Kleinklasse und das ist eine Schulform, welche gerade im Kanton Bern bis vor 10 Jahren üblich war für verhaltensauffällige, oder schöner gesagt, verhaltensoriginelle Kinder (heute wünscht man sich diese Form zurück). Da waren jeweils 6 bis 8 SchülerInnen in einer Klasse und soviele Rapper sind auch in der Chlyklass.

Die Texter des Kollektiv erklärten mir vor ein paar Jahren, dass sie die Mundartliedermacher der 70iger Jahre, welche ja auch gesellschaftsrelevant waren, zu ihren Einflüssen zählen. Rapper sind nach ihrer Sicht, die neuen Liedermacher.

Nun zum Lied. «Nid üses Revier» heisst schlicht und einfach: «Nicht unser Revier». Das Lied fällt durch eine Thematik auf, welche bei Rappern in Mundart oder Deutsch wenig angesprochen wird, in der heutigen Zeit und Situation aber durchaus wichtig ist. Es ist die Tierhaltung, hier am Beispiel der Hunde, aber natürlich auch die Rückkehr der Wölfe, welche für einige Schweizer ein Problem zu sein scheint, sonst würde sie man nicht abschiessen wollen oder es sogar tun. Das Lied beginnt mit einem Vortext , welcher übersetzt so lautet: «Der Mensch ist dem Menschen sein eigener Wolf; der Wolf ist am nächsten Verwandt mit dem Hund, also ist der Hunde dem Wolf sein eigener Mensch». Schon dieser Satz ist stark und zeigt die Qualität, dieser Raplyrik. Es wird darin erzählt vom Hundehalten mit Liebe zum Tier und es dann freilassen mit Tränen in den Augen und hoffen er kommt zurück, aber auch von Tierquälern wo die Hunde ausreissen. Der Refrain zeigt, dass die Hunde hier nur ein  Beispiel sind für Natur und unser kranker Umgang damit, denn er lautet: «Es wird Zeit dass sie zurückschlagen, wir haben es nicht anders verdient. Die weiten Wälder sind nicht unser Revier». Die ganzen Reime sind in mittlerem aber fliessendem Tempo mit raffinierten einfachen Beats und zum Schluss einem gestrichenen Kontrabass, welcher die Worte buchstäblich unterstreicht, gehalten. So schafft es Rap einmal mehr zum Nachdenken anzuregen.


Weitere Informationen:
www.chlyklass.ch

JAN 2020  Dieter Kindl, Kassel

Suli Puschban und die Kapelle der guten Hoffnung - Wir stehen auf

Suli Puschban und die Kapelle der guten Hoffnung - Wir stehen auf
Album: Rette mich!!!
New Tone


"Kinder lieben Musik. Und sie lieben Kinderlieder." Vor einem halben Jahr schrieb ich diese Zeilen, anlässlich der Veröffentlichung des Hommage-Albums "Zugabe" an Fredrik Vahle.

Was aber macht ein Kinderlied aus? "Es gefällt Kindern und wird von ihnen gesungen", sagt die Kinderliedermacherin Suli Puschban. Und auch: "Kinderlieder sind kein Kinderspiel!". Womit sie recht hat, denn allzu häufig wird in diesem Genre das Bild einer heilen und zuckersüßen Kinderwelt gezeichnet. Dass das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, merken Kinder relativ schnell. Umso erfreulicher ist es, wenn es Menschen gibt, die sich der Realität annehmen und darüber singen.

Die Wahlberlinerin Suli Puschban macht dies schon seit fast 20 Jahren. Die Inspiration für ihre Lieder findet sie bei ihrer Arbeit als Horterzieherin in einer Kreuzberger Grundschule. "Von dort kommt ihre Musik und für dort, also für die Kinder dort, sei ihre Musik", war jüngst in einem Interview mit ihr zu lesen. Ihr geht es darum. Kinder "zu unterstützen engagierte Menschen zu werden, die mit Courage für Vielfalt und eine freie Gesellschaft eintreten." Dafür hat die gebürtige Wienerin 2019 den Musikautorenpreis der GEMA in der Kategorie »Text Kinderlied« erhalten.

Nur einen Song aus ihrem nunmehr vierten Album "Rette mich!!!" zu empfehlen, erwies sich schwieriger als gedacht. Letztendlich habe ich mich für das Lied "Wir stehen auf" entschieden. "Ein Lied, das Mut macht, uns einzumischen, uns einzubringen, um unsere Gesellschaft bunt und schön zu erhalten", wie es auf der Crowdfunding-Seite heißt. Das Lied hat Suli Puschban für die Heinrich- Zille-Grundschule in Kreuzberg anlässlich deren Aufnahme in das Netzwerk »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« geschrieben. Schüler*innen und das Kollegium der Schule haben auch beim dazugehörigen Musik-Video mitgewirkt.

wir stehen auf wir mischen uns ein
wir stehen auf du bist nicht allein
wir stehen auf und mischen uns ein
ein Ja ist ein Ja ein Nein ist ein Nein
wir stehen auf
der Tropfen höhlt den Stein

heißt es Refrain und zum Schluß:

nur einer ist ein Tropfen auf dem heißen Stein
ein Meer wollen wir sein ...

Suli Puschban und ihrer Band, die Kapelle der guten Hoffnung, gelingt es, Kinder zum Nachdenken anzuregen, sie zu Toleranz, Vielfalt und Anderssein ermutigen. Und Eltern hoffentlich dazu, es ihren Kindern gleichzutun.


Weitere Informationen:
www.sulipuschban.de
www.youtube.com/watch?v=o4rZbJ_WFu0 (Musikvideo)

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