Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.
Wo nimmt er das nur her – diese Einfälle, diese Leichtigkeit, diese Musikalität? Von Lied zu Lied lässt einen dieser verschrobene Poet aus dem ost-westfälischen Nirgendwo mehr staunen. Denn Sebastian Krämer kann zaubern. Wer daran noch zweifelt, möge sich die gesungene Liebeserklärung an seine Armbanduhr anhören. Die ist ein ziemlich nutzloses Gerät, wenn man es genau nimmt. Sie bleibt nämlich immer mal wieder stehen, hat dann aber meistens nur „zehn Minuten übersehen“. Der Besitzer nimmt’s ihr nicht weiter übel, auch wenn er sich der Realität fügen muss: „Ich stör ihren Traum nicht gern, doch auf drei stell ich die Zeiger neu.“ Diese Uhr erfüllt vielleicht nicht den Zweck, den Uhren gewöhnlich haben, dafür macht sie das Leben spannend und unvorhersehbar: „Nachts liege ich oft neben ihr wach, aufgrund des Verdachts, dass sie vielleicht gleich nicht mehr geht.“ Der Träger wird seine Armbanduhr auch weiter nicht wegwerfen, schließlich brauchen sich die beiden zur gegenseitigen Korrektur. Denn merke: Zeit ist immer auch subjektiv.
Sebastian Krämer scheut die großen Themen und besingt lieber die kleinen Dinge mit dieser dünnen, glasklaren Stimme, die klingt als wäre sie nicht von dieser Welt. Er feiert das Zweckfreie, das Unlogische, den kleinen Widerhaken in der durchrationalisierten Leistungsgesellschaft. Krämer schwingt sich auf zum großen Romantiker des deutschen Gegenwartslieds, frei nach Eichendorffs „Klingt ein Lied in allen Dingen“. Er richtet den Blick auf ein Detail und erschafft eine Welt daraus. Die schlanke Besetzung aus Klavier, Schlagzeug und Gitarre greift präzise ineinander wie ein Uhrwerk. Die Arrangements sind graziös, die Melodie ist so berauschend wie ein Beatles-Song vom »Weißen Album«. Man mag diesem Sänger Flucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorwerfen, artistische Spielerei, doch Krämers Lieder machen glücklich und halten die Zeit an – wenigstens für zehn Minuten.
„Einer von sieben Milliarden“ stammt von Schelpmeiers aktueller CD, die er schlicht die dritte nennt. Es gab sie ja tatsächlich, die Superstars des Rock’n’Roll, die mit 3 ½ Akkorden zu Reichtum und Weltruhm gelangten, doch das liegt meist Jahrzehnte zurück und war zudem abhängig von einem diffusen Zeitgeist sowie vom Zufall, im richtigen Augenblick am richtigen Ort die richtigen Personen zu treffen. Und dennoch: Der Protagonist des „Liedausdenkers und Musikerfinders“ Schelpmeier vertraut fest auf die unermessliche Kraft des Rock’n’Roll und ist felsenfest davon überzeugt, „dass es endlich an der Zeit ist, die Welt für dich bereit ist, glaubst immer noch an dich, dass du einzigartig bist…“ - so weit, so gut. Man wird ja nochmal träumen dürfen! Doch wenn es dann heißt „… dein Gesicht auf Titelseiten, über roten Teppich schreiten, alle Frauen werden kreischen…“, dann wird schnell klar, dass es sich um eine liebenswerte Persiflage handelt, eine durchaus selbstironische Schilderung des Rockzirkus‘. Schließlich ist man ja auch nur einer von sieben Milliarden auf diesem Planeten.
Dirk Schelpmeier aus Detmold, der übrigens auch ein exzellenter Fotograf ist - speziell im Musikbereich - ist ein präziser Beobachter, der seine Songtexte in klarer Sprache verfasst und geradezu minimalistisch, dafür aber umso wirkungsvoller, instrumentiert und interpretiert. Der entspannt-lässige Gesang wird unterstützt von Kontrabass, Schlagzeug und abgedämpfter E-Gitarre. Irgendwann nimmt man auch die zurückhaltenden, lediglich sparsame Akzente setzenden Wurlitzerklänge im Hintergrund wahr. Das fast nachdenklich anmutende Gitarrensolo am Schluss des Songs klingt ein bisschen nach Wishbone Ash. Der abrupte Schluss ist geeignet, den Hörer unvermittelt wieder in die Realität zurück zu transportieren. Der Rezipient findet nicht nur Vertrautes oder Bekanntes in Schelpmeiers Texten, er kann unter Umständen sogar einen gedanklichen Überschuss ausmachen, der sich für ihn später als Bereicherung herausstellt.
„Einer von sieben Milliarden“ ist zu gleichen Teilen eine augenzwinkernde Parodie des Popgeschäfts, als auch eine liebenswerte Huldigung des Rock’n’Roll.
Warum einen Text von 1939 zum Lied des Monats September 2015 machen? Weil man nicht merkt, dass rund 75 Jahre vergangen sind, weil der 2. Weltkrieg, der Korea,- Vietnam,- und Irakkrieg nicht Leid genug waren, dass wirklich alle den Frieden als alternativlos betrachten. Ein Blick um uns herum lässt uns erschauern: im arabischen Raum wütet der Islamische Staat, in Nigeria Boko Haram, in der Ukraine bekämpfen sich einstige Unionisten, in den USA erschießen weiße rassistische Polizisten schwarze Mitbürger.
Eine Welt in Aufruhr und jede Region hat ihre eigenen Barbaren. Denn wie schreibt Becher:
„ Ich sah sie kommen, tosend zog vorbei
Das Heilsgeschrei mit Trommeln und Fanfaren…“
Und damit sind wir im eigenen Land, wo sich die Dummen, Feigen, Uninformierten wieder zusammen scharen und erneut festlegen wollen, wer und was gut ist für dieses Land. Die den brauen Geist wieder herausbeschwören und – ich hätte es nicht geglaubt – Mitläufer und Befürworter finden in Gesellschaftsschichten, die sonst mindestens apolitisch sind. Aber es gibt wahrscheinlich in allen Ländern Geisteshaltungen, die wie Stammzellen sind: es kann alles daraus werden: was Gutes aber auch Schlechtes.
Wenzel erinnert uns mit „Barbarenzug“ daran, dass Geschichte sich immer wiederholen kann, wenn es nicht genügend starke Gegenkräfte gibt, die aufklären, schützen, die bunt gegen braun setzen und sich der Verantwortung bewusst sind, die Deutschland im Besonderen hat.
Das Lied bezieht seine Wirkung auch daraus, inmitten anderer poetischer Liebes- und Naturlieder zu stehen und Warnung zu sein, dass nichts sicher ist und wir achtgeben müssen, unsere Welt zu erhalten.
Im letzten Jahr begegnete mir irgendwann schon eine EP mit dem Lied „Wir waren hier“ und es fiel der Name Barbara Milou. Als ich nun mit dem Album „orange bis blau“ von „milou & flint“ bemustert wurde, erinnerte ich mich sofort an den Klang dieser Stimmen und war – begeistert!
„milou & flint“ sind Barbara Milou und Christoph van Hal. Bei Live-Auftritten werden sie von Multi-Instrumentalist Rocky Österreich unterstützt. Ihre Lieder haben eine positive Grundstimmung, klingen sanft und warm. Die beiden Gesangsstimmen ergänzen sich perfekt. Thematisch befinden sie sich oft im zwischenmenschlichen Paarbereich, auch Probleme werden in den Liedern nicht ausgespart – dennoch wird in jeder Schwierigkeit auch die positive Herausforderung gesehen!
Genauer betrachten möchte ich hier „Karussell“, zweites Stück des Albums und im August neu in die TOP 20 der Liederbestenliste eingestiegen. Ein Lied, das im ersten Moment einfach nur einen vergnüglichen Tag auf dem Jahrmarkt beschreibt: Zuckerwatte, Looping, Geisterbahn. Und eben das Karussell. Bei genauerer Betrachtung sehe und höre ich da aber eine viel tiefsinnigere Ebene, die vielleicht von den Künstlern gar nicht beabsichtigt war – oder eventuell doch!?
Für mich klingt dort in jeder Zeile das Leben durch. Das Leben mit seinen Höhen und Tiefen: „Mit rosa Zuckerwatte bin ich losgerannt. Gleich bei der ersten Fahrt verlor ich den Verstand. Bin im Looping gestorben, in der Geisterbahn erwacht. Wollten Masken mich bedrohen, hab ich dennoch gelacht.“ Zuerst hat man große Pläne, dann übertreibt man es. Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, man kommt zur Besinnung. Und erkennt hoffentlich am Ende, wohin man gehen kann. Nicht umsonst sagt der Volksmund „Das Leben ist wie eine Achterbahn…“.
„Karussell, fahr’n wir noch ‘ne Runde, los komm schnell, vielleicht morgen schon steht es still.“ Hier wird das Karussell zum Symbol für das Leben an sich. Das Leben, das morgen schon vorbei sein kann.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch noch das sehr ansprechend und liebevoll gestaltete Booklet des Albums, beim Karussell-Lied ist ein Kettenkarussell gezeichnet. Und Kabarettist Matthias Brodowy hat sich im Booklet mit einem handschriftlichen Kommentar verewigt, in dem er die Künste von milou & flint sehr lobend hervorhebt.
Die LIEDEMFEHLUNG im AUGUST möchte einen Künstler ins Bewusstsein der Lied-Gemeinde rufen, den die meisten mit Sicherheit (und auch zu Recht!) für einen "No-Name", für einen Unbekannten halten werden. Aber der in Hannover lebende Christoph Brehmer, der sich als Chansonnier einigermaßen rätselhaft "Tiffy en Silencio" nennt, legt auf der aktuellen CD mit dem (eigentlich etwas altbackenen) Titel "Balladesk bis grotesk" einen Titel vor, der ebenso amüsant wie grundsätzlich von einem der überaus alltäglichen Probleme jeder Form von Liedermacherei erzählt: vom Sänger nämlich, der sich einfallen lassen kann, was er will, und immer war da jemand vor ihm, der aus dem selben Thema und mit ähnlichem Material auch schon ein Lied gemacht hat.
Vielleicht sogar ein besseres - im vorliegenden Fall misst Christoph Brehmer die eigene Arbeit an der weitaus erfolgreicheren von "Silbermond".
Was also tun, fragt sich Christoph Brehmer in "Silbermond (alles, was ich schreibe, klingt nach)", wenn einem immer nur einfällt, was anderen auch schon eingefallen ist... und er schreibt einfach Stefanie Kloss an, die "Silbermond"-Sängerin. Das hat natürlich zunächst den erwartbaren Charme des ungleichen Paares - Mister Nobody will in Kontakt mit Frau Pop-Star treten. Doch bald entwickelt sich etwas anderes: forciertes Nachdenken darüber nämlich, warum eigentlich beim Themenkomplex der versammelten Emotionen und Leidenschaften, also Liebe, Passion, Hingabe, Herz und Schmerz, am Ende immer wieder ähnliche Bilder und Texte lauern. Brehmers Lied wird zum intelligenten Grübel-Stück über die Allgegenwart der Klischees; und im Umkehrschluss quasi zum Vademecum gegen genau diese Verführbarkeit zum Immergleichen.
Und dieses Lied, mit der kurios konstruierten Einladung darin zum Nachdenken über die eigene Fähigkeit zur Phantasie, könnten eine Menge Musikerinnen und Musiker sicher ganz gut gebrauchen. Auch ohne Anruf bei Steffi von "Silbermond" ...
Es ist schon manchmal verwunderlich, was unsere deutsche Sprache vermag. Da heißt es z. B., jemand habe „das Herz auf dem rechten Fleck“, meint damit aber, dass es „auf dem richtigen Fleck“ sitzt. Soll heißen, dass seine Gesinnung eine rechte ist, also stimmt. Der richtige Platz für das Herz aber ist links in der Brust, nur ist links halt nicht „recht“, zumindest für viele in Deutschland, vor allem nicht für jene, die Macht und Einfluss ausüben. Spannend, wie dort mit Sprache jongliert wird, wie Sachverhalte verdreht werden.
Darum geht es letztlich auch in Bernd Köhlers Lied Geschmolzenes Blei, zu finden auf seiner aktuellen CD in dieser straße – das waterboarding-syndrom. Es erzählt zunächst die Geschichte eines Landes, das von Eroberern in Besitz genommen wird. Beispiele dafür gibt es ja leider sowohl in der Historie als auch aktuell mehr als genug. Die Menschen werden gezwungen, sich anzupassen oder ihr Land zu verlassen. Doch sie gehen nicht, sie passen sich nicht an, sie leisten Widerstand. Ihr Hass auf die Besatzer wird noch gesteigert, als sie Opfer von Todesschwadronen werden oder in Lager gesperrt. Und spätestens hier beginnt das gezielte Verwirrspiel der Besatzer: Die hasserfüllten Gesichter der Gefangenen werden als Beweis für deren Gefährlichkeit vorgeführt. Ob in den Nachrichten, im Spiel- oder Dokumentarfilm, in der Geschichtsschreibung, das „Sagengeschwür“ verdreht Sachverhalte bewusst und gezielt, wie es gerade zur Interessenlage der Herrschenden (egal ob links oder rechts orientiert) passt. „Das Spiel ist so alt wie der Menschenheit Streit, das geht so weiter und geht so weiter und geht so weit…“, konstatiert Köhler, und dann richtet er einen leidenschaftlichen Appell an die Hörer: „… dass ihr euch endlich besinnt und dafür sorgt, dass dieses Spiel, die Spirale aus Hass und Gewalt, Elend und Not, ein Ende nimmt, endlich ein Ende nimmt.“ Dieser Aufruf kommt von einem, der sein Herz auf dem linken Fleck trägt, und ich wünsche mir, dass viele Menschen ihn anhören und ihn befolgen.
„Raureif“ nennt Achim Reichel sein aktuelles Album. Das lässt auf einen gewissen Humor schließen, immerhin ist der Mann schon über 70 und die Gesichtsbehaarung hat längst alle Farbe abgelegt. Seine Züge sind nicht mehr vom Tau der Jugend benetzt. Sie sind von ewigem Dreitagebart bereift.
Mit einer gewissen äußeren und inneren Reife also schildert Reichel eine Straßenszene: Ein Paar in einem Cabriolet knutscht und lässt dabei die eine oder andere Ampelphase verstreichen. Passanten, Flaneure, Cafébesucher werden Zeuge dieses ausgedehnten Kusses, auf der Straße kommt es zu stockendem Verkehr mit zeitweisem Stillstand.
Soll immer wieder vorkommen so was, ab und zu. Und Momentaufnahmen flüchtiger Küsse hängen ja auch schon in Museen. Achim Reichel gelingt nun ebenfalls ein kleines Kunststück: Mit dem Titel lenkt er schon die Erwartung in eine bestimmte Richtung. „Es geschah am hellichten Tag“, so hieß ein erfolgreicher Kriminalfilm der späten Fünfziger (nach Dürrenmatts Roman „Das Versprechen“). Der Titel verspricht also Spannung, lässt einen Krimi erwarten.
Und dann ist sofort Reichel zu hören, mit Telefonstimme, der in der Akustik eines Telefonreporters in knappen Worten das „Setting“ schildert: Die Umgebung, die Atmosphäre, den Duft, das Wetter. Um abrupt die Perspektive zu wechseln und in seiner normalen Singstimme direkt ins Cabrio zu schalten. Dort sind zwei, die sich sehr lieb haben. Sie knabbert ihm am Ohr. Das Auto steht, die Ampel ist rot, wird gelb, wird grün, und es kommt der Refrain: Am Zebrastreifen, auf dem Gehsteig, in den Straßencafés flirrt die Luft, die Zeit steht still, die Spannung steigt.
Wie wird die Geschichte weitergehen, fragen sich alle. Voyeure, die wir sind. Nur so viel an dieser Stelle: Sie hat mehr von einem französischen Film der sechziger Jahre als von einem zeitgenössischen deutschen Fernseh-Tatort.
„Es geschah am hellichten Tag“ ist großes Kino in 2 Minuten und 30 Sekunden. Schnelle Schnitte, harte Perspektivwechsel, ein unglaublicher Plot, dazu völlig unverbrauchte Akteure, denen man sicher noch eine große Zukunft vorhersagen darf, und nicht zuletzt ein absolut treibender Soundtrack. Freudige Spannung pur. Mehr davon, bitte!
Nein, politisch korrekt war er nie, der Manfred Maurenbrecher. Den melodiösen Gesang kriegt er auch nicht (mehr) hin. Da ist er nicht der Einzige. Manche seiner Lieder sind ganze Epen. Auch da ist er nicht allein. Sprechgesang eignet sich hervorragend für Geschichtenerzähler. Doch gute Geschichtenerzähler diesseits und jenseits des Atlantiks können auch anders: kurze knackige Ohrwürmer schreiben nämlich. Und wenn diese gut sind, sprechen sie einem aus Kopf und Bauch. „Staubsauger”Ÿ ist so ein Lied.
Wer kennt ihn nicht, den Anblick und die darauffolgende Ohnmacht: „Flusen in der Küche, Haarbüschel im Bad, früher hab ich weggeschaut, mir fehlte guter Rat.”Ÿ Die Lösung des Problems ist einfach: „Da muss ein Staubsauger her!”Ÿ Ist die Wohnung mal leergesaugt, geht"s raus ins Treppenhaus. Doch wer zum Teufel macht die Tür auf? Natürlich, wer denn sonst Ë— der scheue Nachbar. Genau der mit den hässlichen Möbeln, den geschmacklosen Videos, dessen Gesicht man eigentlich nicht ausstehen kann. Das Hochgefühl erleidet schlagartig einen Dämpfer. „Da muss ein Staubsauger her.”Ÿ Ist auch das behoben, ruft die Straße: „Überall der Hundedreck, das ist mir richtig lieb. Komm her, du großer Pitbull, komm her, du kleines Frauchen, ich weiß, ihr habt es gern gesehn: mich vor euch verkrauchen...”Ÿ Nur gut, dass Maurenbrechers Staubsauger auch auf Batteriebetrieb seine Dienste tut. Das Glück ist greifbar nah. Aber da gab es noch Probleme mit der Liebsten. Sogar die kann weggeblasen werden. So einfach geht das, möchte man denken. Doch Maurenbrecher wäre nicht Maurenbrecher, wenn dem so wäre. „Jetzt steh ich auf den Feldern, und hinter mir die Stadt, alles gründlich leergeputzt, ich hab mich selber satt. Hab immer nur den Dreck gesehen, seit vielen vielen Tagen. Ich schau auf das Gebläse, und jemand andres hör ich sagen...”Ÿ
Der Schluss des Liedes sei hier nicht verraten. Nur so viel: dieser kleine freche Ohrwurm schleudert mehr Fragen in die Umlaufbahn als einem lieb ist und mündet sinngemäß in eine Endlosschleife.
„Staubsauger”Ÿ ist „aus der Hüfte geschossen”Ÿ (so der Pressetext über Rotes Tuch, Maurenbrechers neues Album) und trifft direkt auf das Bauchgefühl. So oder ähnlich hab ich mich doch auch schon gefühlt Ë— und schlussendlich ist alles noch komplizierter.
Die Band spielt das Lied rockig und knackig auf den Punkt. Maurenbrecher am Flügel wird von Andreas Albrecht (Schlagzeug, Percussion, Gesang), Marco Ponce Kärgel (Gitarren) und Tobias Fleischer (Bass) begleitet.
Nach ”ŸStaubsauger”Ÿ folgt das gedankenverlorene, versöhnliche „Aufbruch”Ÿ, Maurenbrechers Lieblingslied der CD. Das passt.
Der Liedermacher Sergej Master aka Ganef wurde in Odessa geboren und wuchs auch dort auf. Seit 1993 lebt er in Berlin und ging künstlerisch mehr und mehr in sein Alter Ego Ganef auf. „Ganef“ ist jiddisch, steht für „Dieb“ und lt. eigenen Aussagen singt Ganef „kriminelle Chansons“, stilistisch etwa in der Tradition eines Wladimir Wyssozki.
Achten Sie einmal drauf, wenn Sie das nächste Mal vor dem Fernseher sitzen und sich Ihren Lieblingskrimi ansehen: Er kommt immer öfter. Dieser eine Satz. Die Ermittlungen treten auf der Stelle, das Kommissaren-Duo – einer immer entspannt, der andere immer wutentbrannt – tauchen zwecks weiterer Befragungen im Haus einer Verdächtigen auf. Fragen: „Ihr Sohn war um 22 Uhr noch immer nicht zu Hause – und da haben Sie sich gar keine Sorgen gemacht, Frau Müller?“. Pause, ein konsternierter Blick der moralisch so fies von oben herab Drangsalierten, ein gepeinigter Blick aus einer gepeinigten Seele. Und dann der Satz, die Gegenfrage, nein, bereits eine trotzige Unterstellung: „Haben Sie Kinder, Herr Kommissar!?“ Gute Kommissaren-Schauspieler erkennt man an dem nun folgenden, enorm belämmerten Blick. Natürlich hat er oder hat sie – auch weibliche Kommissare kriegen seit geraumer Zeit privat nichts mehr auf die Reihe - keine Kinder. So zerrissen wie Kommissare laut moderner TV-Dramaturgie sind, haben sie lediglich die immer gleiche abgespeckte Klamotte am Leib, mehr an Fels in der Brandung ist nicht drin. Eine Antwort auf die aggressive Gegenfrage gibt es nie, stumm und belämmert drein blickend steht der kinderlose Chefermittler im Raum. Und wünscht sich er hätte Kinder. Oder, halt, nein, besser nicht, werden doch eh nur Verbrecher draus, führt ja zu nichts Gutem, dieses allgegenwärtige Kindergehabe.
Und was hat das alles nun mit Götz Widmann zu schaffen? Nun, Götz Widmann gelingt mit dem Stück „Für Euch“ ein fulminanter Befreiungsschlag, formuliert er doch, was wir alle, nicht nur Kommissare, über Kinder denken. Aber eben selten sagen.
Ich hab immer grün gewählt für euch
Ich hab mich mit dem Einwegpfand herumgequält für euch
Für wen hab ich es getan in meinem naiven Wahn
Für euch für euch
Für euch zu deinem Wohle
Aber dich interessiert nur deine gottverdammte Spielkonsole
Um die Menschheit scherst du dich einen Dreck
Was du wirklich willst ist ein neuer Mac
Ja, nicht aufregen, wir wissen doch alle: Unsere Kinder sind unser Glück. Sie sind unsere Zukunft. Sie sind das Wertvollste, was wir haben. Und so weiter und so fort, man kennt diesen immer wiederkehrenden Sich-seiner-selbst-Versicherungssermon. Der aber, so macht Götz Widmann nun auf geradezu kathartische Art und Weise klar, vermutlich nur deswegen so eifrig und penetrant wiederholt wird, da wir selbst nicht so ganz dran glauben. Da wir angesichts nachfolgender Generationen am liebsten versinken möchten vor Kummer und Scham und Schande. Und, oha: Wut.
Ich hab meinen alten Volvo auf den Schrott gefahren für euch
Und das hat richtig wehgetan für euch
Wollten wir ne lebenswerte Zukunft gestalten
Den Ozelot in freier Wildbahn erhalten
Aber ich hab mittlerweile längst kapiert
Dass sich keiner von euch für den Ozelot interessiert.
Geladen ist er, der Widmann, in diesem brachialen Rockgeschoss, mit dem er dem Nachwuchs just jene Watschn gibt, die Eltern ihren Kindern qua Gute-Gesellschaft-Ideologie schon lange nicht mehr geben dürfen. Sicherlich, einige Vorbildväter und Latte Macchiato-Mütter werden not amused sein über die hemdsärmelig zupackenden Zeilen von „Für euch“. So spricht man doch nicht in einer aufgeklärten, in einer gutgesinnten, vor allem einer linksintellektuellen Gesellschaft. Tja, man vielleicht nicht. Widmann schon.
Und wir dürfen ihm dankbar sein dafür, führt er zerrissene Kommissare mit ausgeprägtem Privatlebenfluchtsyndrom und überforderte, von der jahrelangen Aufzucht ihres Nachwuchses schwer gezeichnete Verdächtigtenmütter doch zusammen wie das vermutlich noch keinem deutschen Liedermacher zuvor gelungen ist. Kinder sind eine noch immer erstrebenswerte Aufpeppung der eigenen Vita. Das Zeug zu Hoffnungsträgern und Heilsbringern haben sie indes nur bedingt. Egoismus und Elternschaft müssen sich nicht beharken. Nein, sie können Hand in Hand gehen. Götz Widmann ist Vater, der Autor des vorliegenden Textes nicht. Ob uns das etwas zu sagen hat, ja ob es überhaupt von Bedeutung ist beim Hören von „Für Euch“ – konnte bis Redaktionsschluss leider nicht abschließend analysiert werden.
Mit drei, vier Jahren hat er schon wahnsinnig gern gejodelt. Am Liebsten auf der Toilette, da es dort so schön hallte. Etwas später bekam er dann eine Mundharmonika geschenkt, die von da an sein stetiger Begleiter war. Mit 12 kam die Klarinette dazu - bis heute sein Lieblingsinstrument. Mit fünfzehn, sechzehn hat er dann noch Gitarre gelernt. Nach Noten zu spielen liegt ihm allerdings bis heute nicht, er improvisiert viel lieber.
Nun hat Tinu Heiniger sein 16. Album veröffentlicht: »Scho so lang«. Ein passender Titel, denn der Schweizer Liedermacher ist nun schon seit fast vier Jahrzehnten auf den Bühnen der Schweiz unterwegs. 1976 erschien sein erstes Album »Es schysst mi a«. Protestsongs hatten zu jener Zeit Hoch-Konjunktur. Heiniger zeichnete sich jedoch schon damals als der dichtende Sänger unter den liedernden Aktivisten aus.
Auch heute noch sind seine Texte poetisch und gleichzeitig politisch, privat und ebenso auf die Gesellschaft bezogen. So auch bei »Aut (Alt)«, der Eröffnungsnummer des neuen Albums, die ich empfehlen möchte. Darin beschäftigt sich der 69-jährige Liedermacher mit dem Älterwerden, der Vergänglichkeit des Lebens: »U chuum bisch cho, u chuum bisch hie, isch aues scho verby, isch aues o scho gsy (Und kaum bist du gekommen, kaum bist du hier, ist alles schon vorbei, ist alles auch schon gewesen)«. Das Lied ist eine Bestandsaufnahme des Daseins auf Erden. Und das ist nun mal vergänglich.
Und darüber zu sinnieren ist menschlich. Tinu Heiniger findet dafür wunderbare Bilder und Worte: »Im Bahnhof dert, wo ni jetzt bi, dert, wo mir einisch aui sy ir dere fyschtre Zone dert, wo nume der Nachtexpress verchehrt. Dert fragi, wenn der nächscht Zug geit. Ha Goffere packt u bi bereit für mini letschti längi Reis. Der Zug steit scho abfahrtbereit wyt hinger uf em Stumpgleis. Dasch aues, wo ni gseh u isch aues wo ni weiss (Im Bahnhof, dort wo ich jetzt bin, dort, wo wir irgendwann alle mal sind, in dieser finstren Zone, wo nur noch der Nachtexpress verkehrt. Dort frage ich, wann der nächste Zug fährt. Hab" die Koffer gepackt und bin bereit für meine letzte lange Reise. Der Zug steht schon abfahrbereit, weit hinten auf dem toten Gleis. Das ist alles, was ich sehe und alles, was ich weiß)«.
Für Nicht-Schweizer ist der Emmentaler Dialekt, in dem Tinu Heiniger singt, alles andere als leicht verständlich. Für ihn allerdings ist er immens wichtig: so ist er näher bei sich und bei dem, was er spürt, was er träumt, wie er denkt, sein will - wie er einmal in einem Gespräch verriet. Und die Sprache an sich hat schon eine schöne Klangfarbe, ist eigentlich selbst schon Musik. Begleitet wird er auf dem Album von Schlagzeuger Gert Stäuble und Bassist Wolfgang Zwieauer sowie von Multi-Instrumentalist Pudi Lehmann, mit dem der Liedermacher schon etliche Jahrzehnte zusammenspielt. Ergänzend greift Reyn Ouwehand, der das neue Heiniger-Album in einer zum Studio umfunktionierten Kirche bei Amsterdam produziert hat, in die Tasten.
»O we de no so dranne chläbsch, du weisch, dass d’hie nit überläbsch (Auch wenn du noch so daran klebst, du weißt, dass du hier nicht überlebst)«, resümiert Tinu Heiniger. Auch wenn neben »Aut« noch einige weitere Lieder eher melancholisch klingen: Heinigers Album «Scho so lang» strotzt nur so vor Lebensfreude und Heiterkeit. Und das macht für mich das ganze Werk zur Empfehlung des Monats.
Es gibt viele, die glauben, die Demokratie scheitere an der unabwendbaren Dummheit der Menschen. Wie alle ehemals guten Ideen und Konzepte ja immer von den Idioten unterwandert werden. Christoph & Lollo haben diese Klagen übers politische System auf ihrem neuen Album einmal ganz wörtlich genommen und mit „Demokratie“ eine Alternative für die Köpfe zur Diskussion gestellt, die das Diskutieren eigentlich für problematisch halten. Gewählt werde überdies ja ohnehin nur von denen, die schlecht informiert und desinteressiert sind – dann könnte man es ja auch gleich sein und den Profis das Ruder überlassen. Das provoziert seitens eines differenzierteren Gesprächspartners natürlich einige Fragen:
„Warum lebst du nicht in Nordkorea? Warum lebst du nicht im Iran? Warum lässt du dich denn nicht in Weißrussland nieder? Warum lebst du nicht im Sudan? (...)“
Das sehr gekonnt überspitzte Stück lebt nicht nur davon, dass es den ständigen Nörgler ohne sinnvolle Gegenangebote auf‘s Korn nimmt, sondern natürlich auch davon, dass ein Körnchen Wahrheit in der Nörgelei steckt, die wir alle schon mal gehört oder womöglich selbst im Frust des gesellschaftlichen Angesichts zum Besten gegeben haben. „Demokratie“ funktioniert als Lied aber auch in einer viel allgemeingültigeren Form und richtet sich an so viele, die sich über Umstände beklagen, von denen sie profitieren und die sie eigentlich auch unter keinen Umständen verlassen wollen. „Man wird doch wohl nochmal sagen dürfen“ ist der vielbeschworene Ausklang einer solchen Litanei. Und so ist es auch in Christoph & Lollos „Demokratie“.
War ja gar nicht so ernst gemeint. Man hat ja nur mal sagen wollen,
„Demokratie“ ist, wie auch das ganze Album „Das ist Rock‘n‘Roll“, ein herrlich schwarzhumoriges Stück mit doppeltem Boden, das als ganz kecke Erwiderung für die nächste Diskussion über Dummheit und Demokratie mit Sicherheit seine volle Wirkung entfaltet!