Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

JUNI 2023  Michael Laages, Hannover

Erwin Grosche & Gerhard Gemke - STADTLIED (Wenn die Sonne aufgeht)

Der Eindruck ist wirklich sehr alt, jetzt aber wieder ganz frisch – beim Wiederhören mit Erwin Grosche. 1955 in Anröchte geboren und aufgewachsen in Paderborn, tauchte er Mitte der 80er Jahre als ewiges Talent der Kleinkunst auf; zu den wichtigen Auszeichnungen gehörte tatsächlich der Deutsche Kleinkunstpreis, gleich zweimal Grosche zuerkannt, erst als Förder- und 1999 als Haupt-Preis, verliehen vom „unterhaus“ in Mainz und ein bisschen auch von mir, weil ich damals in der Preis-Jury saß. In Erinnerung blieb Grosche als ewig großäugiges Kind aus Ostwestfalen, das die verrückte Welt betrachtet und immerzu staunt - aber das Bild ist zusehends verblasst, wie beharrlich Grosche auch immer noch über die Kleinkunstbühnen tingelt, aktuell mit dem Programm „Der Abstandhalter“. Das „Stadtlied“ kommt auch drin vor.

Eine Liebeserklärung wie diese an die Heimatstadt Paderborn durfte nie fehlen in Grosches Programmen; und immer war sie fein ironisch eigefärbt wie auch jetzt wieder – Grosche schwelgt in den Momenten, wenn die Sonne aufgeht über der lokalen Stute-Fabrik, die Früchte und Säfte in alle Welt verschickt, wenn das die Westfälischen Kammerspiele im Text auftauchen, das Theater der Stadt (aber eben auch ein Schauspieler beschworen wird, der hier schon lange nicht mehr engagiert ist!); auch der Dom spielt mit, der örtliche Fußball-Club SC, die Firma „Westfleisch“ und die Uhr am Bahnhofsgebäude, der ein Zeiger fehlt.

Der Weg in die Innenstadt ist hier immer kurz – weil es eigentlich gar keine gibt. Aber die Figur, die da singt zum Akkordeon für Kinder, liebt diese ganz private Provinz – eben weil sie Heimat ist. Neben vielen skurrilen Liedern, die immer wieder von schrägen Abwegen des Alltags erzählen, in diesem schwer durchschaubaren Leben hin zum Tod, ist das „Stadtlied“ von charmanter Zärtlichkeit; andere Lieder auf der CD sind eher vom Gefühl für Schmerz durchzogen. Und Förderung hat das Team um Grosche, Grosches Schauspiel-Tochter Lisa (in Marburg engagiert) und Musiker Gerhard Gemke vom Bestattungshaus Sauerbier erhalten.

Das ist mehr als eine Pointe. Das ist Paderborn. Und das ist Grosche pur – noch mit 68 ist er das ewig unentdeckte Talent geblieben. Was für eine Karriere … Glückwunsch!

Weitere Informationen:
https://erwingrosche.de

MAI 2023  Christopher Heimer, Hagen

Marian Kuprat - Sorry dafür

Im Begleitschreiben zu seinem aktuellen Album „Corleone“ schlägt Marian Kuprat netterweise gleich selbst vier Songs als Anspieltipps vor. „Sorry dafür“ gehört nicht dazu. Sicher, „Besser is nich“ mit seinem Uptempo-Rhythmus, der vertrauten Akkordfolge und dem schönen Klavier klingt poppiger. Und die toll arrangierte Ballade „Hart am Wind“ mit ihrem öffnenden Refrain ist so etwas wie das Herzstück des Albums.

Doch „Sorry dafür“ ist der Song, den ich nach knapp 38 kurzweiligen Minuten sofort nochmal anspiele. Das Arrangement absolut spartanisch: vier Akkorde auf einer stoischen Rhythmus-Akustik-Gitarre, bluesige Slide-Gitarren-Akzente und etwas Mandoline im Refrain, das war’s. Dazu singt Kuprat, Ruhrpott-Gewächs aus Essen, herrlich schnodderig und fast schon beiläufig von nichts anderem als dem menschengemachten Ende der Welt. „Sie glaubten ganz fest, dass Schule wichtiger sei als all die Proteste, die es gab zu der Zeit“, heißt es zu Beginn der zweiten Strophe. Und am Ende: „Die Menschheit zerrissen statt im Willen vereint, an der Spitze Narzissten, die Gefahr stets verneinen“. Eine klare Botschaft, die mit entsprechender Umsetzung aber auch kitschig oder plump wirken könnte. Doch wenn Kuprat im Refrain der nächsten Generation all die lockeren Sorrys für schmilzende Pole und brennende Wälder wie ein Mantra entgegen schnoddert, ist man davon ganz weit weg. Die Melodie fräst sich regelrecht in die Hirnrinde und wenn er schließt mit „Sorry, dass wir einfach dachten, das war’s – sorry für alles und nun weiter viel Spaß“ weiß ich gar nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Und so höre ich diesen heimlichen Hit einfach nochmal von vorne und freue mich, dass die Sonne aktuell noch scheint.

APR 2023  Hans Jacobshagen, Köln

Heiter bis Wolkig - Krone der Schöpfung (feat. Klaus der Geiger)

Heiter bis wolkig waren vor zwei Jahren mit dem Folk-Klassiker "Edelweißpiraten" in der Liederbestenliste vertreten, dieses Mal haben sie mit Klaus von Wrochem, der sich Klaus der Geiger nennt, zusammengearbeitet. Marco Gödde von HbW hat zeitgleich eine CD der Band und eine von Klaus dem Geiger produziert. Zwei Lieder von diesem sind dabei gleichzeitig auf seiner und auf der CD der Punk-Band gelandet. Eines davon habe ich mir für die Liedempfehlung des Monats herausgesucht:

"Krone der Schöpfung". Entstanden ist dieser Song bereits in den frühen 80er Jahren bei einem Protest gegen die Abholzung von Bäumen, die einem Tiefgaragen- und Bunkerbau am Kölner Kaiser-Wilhelm-Ring weichen sollten. Das Interessante daran ist: Das Lied ist auch ohne dieses Hintergrundwissen aktuell verständlich und klar wie nie. Die Menschheit will einfach nichts lernen bei dem mittlerweile erkennbaren Klimawandel. Es werden weiter Naturlandschaften eingeebnet, Betonbauten errichtet, die Autos werden größer und verbrauchen mehr Sprit als zum Beispiel ein VW Lupo aus den späten 90er Jahren. Das ist alles vergessen denn wir sagen uns: "Wir können nichts dagegen tun". So belügt sich die "Krone der Schöpfung" ständig selbst aus Nachlässigkeit und Unwissenheit und um den aktuellen Wohlstand nicht zu gefährden. Wir waren da - zumindest in Teilen der Gesellschaft - schon einmal weiter. Klaus der Geiger folgert: "Du hast ein Herz und ein Hirn/Frag Dein Herz dein Hirn Deine Seele/Sonst werden wir alles verlieren." Man kann das gar nicht oft genug sagen. Und so ist dieses alte Thema Inhalt eines brandaktuellen Protestlieds, dem man eine zahlreiche Zuhörerschaft wünschen möchte. Welche Version des Liedes die bessere ist, mag jeder selbst für sich entscheiden.

Mehr Informationen: www.heiterbiswolkig.org

MÄRZ 2023  Petra Schwarz, Berlin

Die Seilschaft - Wenn man liebt

Mal ganz anders: Ich empfehle ein Liebeslied. Denn vielleicht ist es gerade in diesen Kriegs- und Krisen-Zeiten wichtig und auch richtig, mal kurz innezuhalten!? Mit einem zarten Klavier-Intro beginnt dieser hoch emotionale, melancholische Song, in dem auf einer sehr eingängigen Melodie, sparsam instrumentiert mit einem eindrücklichen Streicher-Arrangements von Anne de Wolff, Liebende in drei ganz verschiedenen Situationen besungen werden:

  • Da ist das Liebespaar im Stadtpark, "das sich seit zwei Wochen kennt und Kinder machen will. Und dabei übersehen hat, die Zeit steht heut nicht still."
  • "In den Schlafzimmern ergeben sich Soldatin und Soldat. Leidenschaftlich sterben beide ihren kleinen Tod ..."
  • Und: "Sie ist erst fünfzehn und er begehrt sie sehr. Küsse nachts im Garten machen ihr den Abschied schwer."

Die Seilschaft hatte mit Gerhard Gundermanns schon große Erfolge in den 90ern und nun ist seit 2008 Christian Haase deren Sänger, aus dessen Feder dieses kleine, große Lied stammt: "Wenn man liebt bleibt doch die Zeit einen Moment stehn Wellen werden Spiegel und die Flüsse werden Seen Die Toten tanzen Polka und die Alten werden Kind Ein Gefühl, wenn man`s verloren hat, nie mehr/man selten wiederfind." Einfach hören, bitte!

Mehr Informationen: www.dieseilschaft.de

FEB 2023  Dieter Kindl, Kassel

Wolfgang Buck - Hä?

Bsuffne Männer lassn siech vo ihre nachdblindn Frauen hamfohrn; Der Ding & sei Woä; Viednam is vull; Iech wär dann do; Ned su schnell; Kummdmernaham; Ned schborn; Wenn af amol die Leem; Verdrauen; Schaunernoo; Wer do foddfährd; Hilfd nix; Der Kabljau; Hä?

So lautet die Titelliste von Wolfgang Bucks inzwischen 13. Album. "Visäwie" hat er es genannt. Es ist ein Rückblick auf die vereinsamende Coronazeit und auf die Menschen, denen man lange Zeit nicht begegnen konnte. Der fränkische Liedermacher singt von Weltreisenden, Daheingeliebenen, Großzügigen, Geizhälsen, Liebe, Vertrauen. Musikalisch ist einiges vertraut, Wolfgang geht auf diesem Album neue Wege. Wie zum Beispiel das Lied, das ich empfehlen will.

"Hä?", das letzte Stück auf diesem Album, strotzt nur so vor Wortakrobatik und kommt musikalisch ganz entspannt daher. Das Gegenteil ist aber der Fall. Dahinter versteckt sich nämlich ein kleiner "Fränggisch"-Sprachkurs. Buck klärt detailliert über die Eigenheiten der fränkischen Mundart auf. Für ihn sind diese regionalen Spracheigenheiten selbstverständlich und kann deshalb nicht glauben, dass andere ihn nicht verstehen:

wu kummsdn na du her
dass du des ned verschdehsd


wo kommst du denn her
dass du das nicht verstehst

Wer Wolfgang Buck nach dieser Nummer immer noch nicht verstehen kann, ist selbst schuld! Die Songs auf diesem Album sind es jedenfalls wert, sich in diesen wunderbaren Dialekt einzuhören.

Mehr Informationen:
https://wolfgang-buck.de

JAN 2023  Fredi Hallauer, Bern

Fräulein Luise - Eusi Stadt

Fräulein Luise ist eine junge Band. Die zwei Frauen und zwei Männer sind um die 20 Jahre alt,
teils darunter. Wieso das erwähnenswert ist? Wer den Text von diesem Lied hört glaubt kaum an
das fast jugendliche Alter der Band oder man erschrickt ab dieser Reife und ab diesem Text.
Schon der Refrain:

"Süchtig wäg de Einsamkeit, und einsam wäg de Sucht, es seg en verdammte Tüfelschreis, wod
nieme usechunsch. Süchtig wegen der Einsamkeit und einsam wegen der Sucht, es ist ein
verdammter Teufelskreis wo du niemals mehr hinauskommst."

Ich glaube Sucht kann nicht treffender beschrieben werden. In dem Lied wird von einer Stadt
erzählt, es ist klar, dass es Zürich ist, könnte aber manche andere Stadt in Westeuropa sein, in
der Strassenmusik lizenzpflichtig ist (auch in Bern so), Status mehr Wert hat als Glück, Euphorie
ein Fremdwort ist und jeder sein Leiden unterdrückt. In so einer Stadt hat eine Süchtige in einer
öffentlichen WC-Anlage bei den Frauen diesen Refrain Satz an die Wand geschrieben und hofft,
dass es jemand liest, wie es in dem Lied heisst. Es werden weitere negative Punkte dieser Stadt
die über dem Strich lebt und alles darunter, fallen lässt, aufgezählt. Dann kommt die Erkenntnis
der Dichterin, welche wahrscheinlich auch die Erkenntnis vieler von uns ist:

"I dere Stadt wo alles sin Platz hät, Und woni wohlbehüetet uf bin cho, I dere Stadt wo kei
Problem hät, Oder mindestens weissi nüt devo. In dieser Stadt wo alles seinen Platz hat und wo
ich wohlbehütet aufgewachsen bin, in dieser Stadt die keine Probleme hat, oder mindestens
weiss ich nichts davon."

Das Lied findet auch einen Schluss, die Dichterin liest den Satz in der WC-Anlage, versucht die
Süchtige zu verstehen, fühlt sich kurz schuldig und verlässt dann die Räumlichkeiten.

Die Musik zu diesem unter die Haut gehenden Text ist lockerer Liedermacher Pop oder IndiePop,
im Vordergrund ist die Sängerin, welche mit Harmoniegesang von ihren Kolleg*innen unterstützt
wird. Ein starkes, gut getextetes und komponiertes Lied.

Weitere Informationen: fraeulein.luisee[at]gmail.com

Die Top 20 der
deutschsprachigen
Liedermacher

Jeden Monat aktuell