Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.
Wir schreiben Dezember und da ist es einfach guter Brauch, eine Weihnachtsplatte zu empfehlen. Diese Tonträgerspezies anlässlich der alljährlichen Feier des christlichen Festes kam schon immer in den unterschiedlichsten Formen daher: vom schwülstig-kitschigen Gesülze über originelle, traditionelle Gesänge bis hin zu bitterbösen Beobachtungen unserer weihnachtlichen Unzulänglichkeiten und Exzessen. Wortfront zählen – welch Überraschung – eher zur letzteren Fraktion, obwohl sie sich nicht im Negativen verlieren. Sagen wir es so: Sandra Kreisler und Roger Stein vertreten weihnachtlichen Realismus.
Das Titelstück steht für das, was vielen am Fest stinkt, „Der Zug“ strahlt unausgesprochen die tatsächlich immer noch vorhandene melancholische Faszination jener Zeit aus und bei „Fridolin“ ist Sandra Kreisler einfach nur die makabere Tochter ihres Vaters. Musikalisch sitzen Wortfront klar, deutlich und stolz zwischen den Stühlen HipHop, Streicher-Klassik, Pop und Liedermacherei. „It"s Christmas“ trägt alle diese Elemente in sich.
Onkel Paul und Tante Berta werden die CD „Penetrant besinnlich“ wahrscheinlich nicht mögen. Wir jedoch, die ach so aufgeklärten und dennoch immer wieder in die Weihnachtsfalle tapsenden Zeitgenossen, wir erkennen uns und unsere Umwelt wieder. Alle Jahre wieder.
Nach Dat Shanty-Alb‘m (1976) und Klabautermann (1977) mit klassischen Seemannsliedern machte sich Achim Reichel schon 1978 daran, auf Regenballade deutsche Dichtung auf seine Art zu bearbeiten. Das fand vor vier Jahren seine Fortsetzung auf der CD Wassermann mit Texten u. a. von Heine, Mörike, Storm und Goethe, denen er ein modisches musikalisches Kleid verpasste - dazu trugen der englische Fiddler Peter Sage und der Multi-Instrumentalist Frank Wulff aus alten Ougenweide-Tagen bei. Wulff und Sage sind auch beim jüngsten Versuch des Hamburger Musikers dabei, einen frischen Zugang zum schier unerschöpflichen Vorrat an deutschem Liedgut zu finden. Volxlieder ist eine wahrlich „besondere“ Scheibe. Der mittlerweile 62 Jahre alte Achim Reichel hat sich dabei viele Freiheiten herausgenommen: Da wird lustig (hinzu) getextet, komponiert und arrangiert.
So verwandelt der „Volxmusiker“ Reichel das Stück „Der Rosenmund“ frei nach Brahms zu einem swingenden Countrysong, bei dem Kollege Stoppok für Bluegrass-Banjotöne sorgt. Nicht viel anders ergeht es Franz Schuberts Lied vom Lindenbaum. In der Version des Ex-Rattles wird aus „Am Brunnen vor dem Tore“ ein von Fiddle und Akkordeon geprägter Cajun-Schunkler. So unbeschwert wie er „Die Gedanken sind frei“ anstimmt, meint man den darin enthaltenen „Freigeist“ förmlich zu spüren. Mit viel Groove kommt „Röslein auf der Heiden“ daher. Mit alpenländischen Klängen präsentiert Reichel „Weißt Du wieviel Sternlein stehen“. Und der Reggaerhythmus von „No Woman, No Cry“ zieht sich durch „Im schönsten Wiesengrunde“. Auch Polka, Blues, Punk und natürlich ein Hamburger Shanty („Hammonia“) zum Abschluss fehlen nicht auf Volxlieder.
Achim Reichel ist frei von dem Verdacht, einem Modetrend zu folgen. Er hat sich mit seinem Thema intensiv beschäftigt, u. a. im Deutschen Volksliedarchiv recherchiert: „Die Auseinandersetzung mit diesen Liedern wurde für mich zu einer tiefen, ja fast magischen Begegnung“, heißt es im Booklet. Mit Volxlieder, bekommt ein Begriff wie „Heimat“ einen Klang, der Lust auf Mehr macht. Diese CD gehört in den Musikunterricht - zumal die Texte und Noten vorliegen. Unter den aktuellen Produktionen mit deutschen Volksliedern ragt Reichels CD Volxlieder heraus. Allein weil die darauf enthaltenen Stücke nicht nach verkrampft wirkenden Neubearbeitungen klingen, sondern einfach nach Achim Reichel.
Nah am Himmel heißt das neue, zweite Solo-Album von Elke Voltz. Nah am Himmel ist sie und doch fest auf der Erde. Ein Motiv, das in vielen ihrer Songs auftaucht, ist das Aufbrechen, Sich-Aufrappeln, Wieder-Einkriegen und dann mit "alter Neugier" nach vorn. Sehnsucht, Suche, Hoffen, Lust auf Leben - in ihren Liedern steckt viel Gefühl, sentimental aber sind sie deswegen nicht. Und sie lassen nach-denken, weit weg vom dämlich simplen "Think positive!".
Musikalisch bewegt sich das Album in eher ruhigen Gewässern. Zwischen Blues, Jazz und Pop gleiten die Songs dahin, schlicht und geradeaus und wohltuend schlank bis minimal instrumentiert. Das lässt dem Text viel Raum und natürlich ihrer Stimme. Es mag vielleicht komisch klingen: Es ist eine Stimme, die weiß, was sie singt, wovon sie singt, und trotzdem kann man sich wortlos in ihr verlieren. Eine Stimme eben selbstbewusst geerdet und nicht unweit dem Himmel.
Elke Voltz singt und schreibt wie ... Vergleiche? Da kommt man ganz schnell zu keinem Ergebnis, grübelt man den deutschen Raum ab ... wie Pe Werner? Nein. Katharina Franck? Macht was ganz anderes. Ina Deter? Barbara Thalheim? Auch nicht. Überhaupt: Wie viel gute deutschsprachige Liedermacherinnen - nein, in diesem Fall wohl besser: Songwriterinnen haben wir? Elke Voltz jedenfalls gehört zu diesen wenigen.
Biografisches: Die in Tübingen lebende Sängerin und Songwriterin Elke Voltz ist Mitbegründerin der Band Kick La Luna. Seit 1994 veröffentlichte sie vier CDs mit der Band. 1999 produzierte sie ihr erstes Solo-Album Melinja. Seit über 15 Jahren arbeitet sie als Gesangslehrerin und Stimmtrainerin, gibt Unterricht und leitet Seminare.
Es ist der Titel eins Kriminalromans, es ist die Bezeichnung für ein schlechtes Stück Straße im hinteren Rheintal und es ist der Titel der CD von Dodo Hug: Via mala - „der schlechte Weg“.
Auf Dodo Hugs CD geht es um den schlechtesten „Lebensweg“, den man wählen kann, um den des Kriminellen. Dabei demonstriert sie einen längst bekannten Tatbestand, nämlich, dass die Kriminalität international ist - nicht nur im wahren Leben, sondern auch im Lied. Der Song als Spiegel all der Gemeinheiten, Betrügereien und Verbrechen an Leib und Leben begegnet uns auf Via Mala auf Schritt und Tritt. Und der Hörer ist aufgefordert, seine Ohren zu spitzen, um neben den hochdeutsch gesungenen Liedern auch den schwyzerdytschen, den französischen und italienischen die gar grausigen Stories abzulauschen. Ankerpunkte für unser Wissen um das Kriminallied sind die Standards „Ohne Krimi geht der Jimmy“ und Friedrich Hollaenders „Kleptomanin“. Dazwischen gibt es eine Menge zu entdecken, was schon vor Jahrhunderten die Gemüter erregte oder was es auch heute auf die Titelseiten schaffen würde.
Nicht nur für Krimifreunde ist Via mala für einen Abend lang die Möglichkeit, einen Blick zu werfen in die menschlichen Abgründe - und das durchaus mit dem einen oder anderen Augenzwinkern.
Worte sind seine Leidenschaft. Und Sebastian Krämer würde nicht einmal zögern, ein solchermaßen ausgeleiertes Wort wie „Leidenschaft“ in den Mund zu nehmen. Dort, wo es passt. Auf der Klaviatur seiner verschiedenen Stilistiken haben viele Worte Platz: Die überlegten, poetischen, die Krämer wohl zu setzen weiß, die flockig-lockeren, die vielen seiner Lieder den Witz der Situationskomik verleihen; und nicht zuletzt die spontan entstandenen Wort- und Satzschöpfungen, die er bei Poetry-Slams extemporiert. Ob es um den Sonnenaufgang in Frankfurt/Oder, um „das erste Mal“ mit der Putzfrau oder um seinen Hund und Arafat geht, man schmunzelt, leidet mit und will mehr davon. Nur bei der letzten Strophe von „Meine Lieder“ regt sich Widerspruch: „Nur Lieder und Lieder und Lieder - und schon wieder hängt mir eins mehr zum Halse heraus....“
Das Lied von Sebastian Krämer, das mir zum Halse heraushängt, ist noch nicht geschrieben. Muss aber auch nicht sein.
„Es ist Unterhaltungsmusik für Erwachsene. Für Menschen, die Spaß haben am Denken und am Staunen, am Lieben und am Feiern.“ So schreibt es die Leipziger Volkszeitung und trifft den Nagel auf den Kopf! Die Sieben Leben bieten mit Jeder weiß Bescheid wahrlich intelligenten Spaß. Eine Scheibe, die süchtig macht! Fünfzehn kraftvolle und sensible Songs werden unverwechselbar interpretiert von Manfred „Manne“ Wagenbreth, aus dessen Feder auch alle eigenen Stücke stammen; und von Susanne Grütz, die eine Röhre hat, dass eine Gänsehaut der anderen folgt.
Der Sound ist einmalig. Zwar schrummeln da immer noch Mandolinen und akustische Gitarren, zirpen Geigen und schmachten Akkordeons, darüber hinaus hat aber auch so mancher elektrifizierte Effekt Eingang ins Klangbild gefunden; es geht stellenweise um einiges härter zur Sache, und vom schlichten Folk ist (fast) nichts übrig geblieben.
Jeder weiß Bescheid - der Titelsong ist ein gecoverter Leonard Cohen - ist das erste Studio-Album der legendären Bierfiedler, die nun schon seit ein paar Jahren Die Sieben Leben heißen. „Es ist kein Mainstream-Pop trotz der Fülle von eingängigen Melodien, und bei aller sensiblen Poetik auch kein Chanson.“ Am besten: sofort anhören und süchtig machen lassen!
Der österreichische Sänger dunkelgrauer bis zartbitterer Lieder verbeugt sich auf seinem neuen Album In Ewigkeit Damen - dem Titel gemäß - vor Frauen, liefert dabei aber keineswegs ein einfach gestricktes Liebesliedalbum ab. In den zwölf Liedern (plus einem instrumentalen „Minirock‘n‘Roll“ als Zugabe) des Konzeptalbums begibt sich Ludwig Hirsch einmal mehr in die Tiefen der Wortspielereien, sowie in den erzählenden Ton groß angelegter Geschichten, die freilich im Liedformat abgehandelt werden. Musikalisch setzt Hirsch in gewohnter Manier auf seine langjährigen Weggefährten Christian Kolonovits (Klavier) und Johnny Bertl (Gitarren, Streicher-Arrangements), die genau wissen, wie ein Hirsch am Besten rüberkommt. Das Album beginnt mit Hirschs Erzählung, wie die Menschheit das Liebeslied erfand, inklusive einem starken Auftritt von Gastsängerin Rebekka Bakken, die mit ihrer Stimme enorme Atmosphäre einbringt.
Flapsige Wortspielereien a la „
Die Robbe küsst den Robbert
Languste küsst Langustav
Der Weberknecht die Webermagd...“
stehen hingegen im Mittelpunkt vom mehr Roll-igen denn Rock-igen „Adelheid“, in der die Liebe „zwitschert, bellt und brummt.“ Hernach geht Hirsch vermehrt musikalisch ruhige Wege, so z.B. wenn er in „Elisabeth“ eine verstorbene Liebe besingt, ohne im matschigen Kitsch zu versinken.
Diese ruhigen, besinnlich bis verruchten Momente sind die besten Hirsch-Momente seit etlichen Jahren, allen voran das hervorragende „Marion“ mit Textzeilen wie „...
bitte dem Radetzky
einen Tritt in seinen Marsch.“
und „
Lieber nackt durchs Leben gehen als in Uniform.“
Des Hirschens In Ewigkeit Damen erweist sich als ein musikalisch ausgereiftes und konzeptuell wohl durchdachtes Album, auf dem es sehr viel zu entdecken gibt. Ein Album, das man sich von Ludwig Hirsch zwar erhoffen, aber nicht mehr erwarten durfte.
Die Grenzgänger und Frank Baier laden ein zur Geschichtsstunde. Für die Grenzgänger ist es ihr drittes Projekt zu historischen Ereignissen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung in der Regel zumindest stiefmütterlich behandelt werden. Diesmal befassen sie und der Duisburger Arbeiterliedermacher Frank Baier sich gemeinsam mit dem Widerstand der Arbeiter an Rhein und Ruhr gegen jenen Militärputsch in Berlin im März 1920, der unter dem Namen Kapp-Putsch bekannt wurde. Neunzehn Stücke haben sie auf die CD gebracht, entstanden zwischen 1916 und 2004. Zum Teil stammen die Texte aus mündlicher Überlieferung durch Zeitzeugen, und Frank Baier, Michael Zachzial und/oder Jörg Fröse schrieben die Musik dazu. Aber auch Songs aus den 70er/80er Jahren des letzten Jahrhunderts, u. a. von Rio Reiser, fanden Verwendung. Hinzu kommen neue, eigene Stücke.
Die Zusammenarbeit mit Frank Baier erweist sich als Glücksgriff für die Grenzgänger. Seit den 60er Jahren befasst sich Baier unermüdlich mit der, nicht nur musikalischen Geschichte der Arbeiter vornehmlich in seiner Heimatregion, also dem Ruhrgebiet. Er besitzt ein reichhaltiges Archiv von Büchern, Tonbändern und Videos, das für dieses Projekt mehr als Gold wert war. Was die Grenzgänger und Baier daraus an Informationen gefiltert haben, findet sich im 68-seitigen, mit vielen historischen Fotos illustrierten, Booklet der CD.
Vor dreißig Jahren war es Mode, aber heute gibt es in Deutschland kaum noch Menschen, die sich mit solcher Besessenheit und gleichzeitig solcher Sachkenntnis für die Erhaltung proletarischen Liedgutes und damit für die richtige Einordnung wichtiger historischer Begebenheiten einsetzen. Den Grenzgängern und Frank Baier ist es mit dieser CD gelungen, den Widerstand gegen den Kapp-Putsch nicht nur zu dokumentieren, sondern gleichzeitig der offiziellen Geschichtsschreibung ein Stück „Geschichte von unten“ entgegenzustellen.
Wahrlich eine schillernde Figur, dieser Kurt Ostbahn, der sich einst unter dem Namen Ostbahn-Kurti den Ruf ersungen hat, Österreichs exotischster Rock-Darsteller zu sein, einer, der zugleich tief in der Heimaterde verwurzelt ist. Was Kunst ist und was Leben, lässt sich schwer auseinander halten bei diesem markanten Typen, der im Dezember 1948 im burgenländischen Stinatz als Willi Resetarits geboren wurde. Das fängt damit an, dass der Ostbahn-Kurti ursprünglich eine Kunstfigur war, entsprungen der blühenden Fantasie des Journalisten Günter Brödl - und zwar 1979 für das Musical Wem gehört der Rock‘n‘Roll?. Später dann hat Resetarits, der zum Stammpersonal der Polit-Rock-Kabarett-Pioniere Die Schmetterlinge gehörte, die Rolle quasi geerbt - und mit Leben gefüllt. Souverän meisterte dieser Kurti, assisstiert von Brödl, die Gratwanderung zwischen prollig und smart, gab den poetischen Songtexten aus dem Milieu der Wiener Vorstadt ein Gesicht und eine Stimme. So real wie die Ostbahn - die gleichnamige Bahnlinie führt durch die Wiener Arbeiterviertel Favoriten und Simmering - , so abenteuerlich die Legenden um Kurti, den Helden und Loser.
Nun ist der Günter Brödl im Jahr 2000 gestorben, doch sein Freund Willi mimt weiter mit Bravour den „Springsteen aus Simmering“. Davon zeugt eine Live-Aufnahme, die schon im Oktober 2003 entstand, aber erst jetzt als Silberdiskus in die Tonkonserven-Umlaufbahn einbiegt. Mit seiner siebenköpfigen Kombo gastierte Resetarits damals im 15. Wiener Gemeindebezirk im Gasthaus Quell, das man auch als ein zweites Wohnzimmer des Sängers bezeichnen könnte. Entsprechend persönlich, echt klingt"s. Kurt Ostbahn & die Kombo spielen den unverfälschten „Favoriten "n" Blues“, (fast) unplugged mit Gitarre, Slide Guitar, Quetschkommode, Mundharmonika, Wurlitzer-Piano, Kontrabass, Schießbude und Percussion. Sie mischen alte und neuere Kurti-Hits mit eindringlichen Coverversionen. Hank Williams („A Haus Mitanand“), Thin Lizzys Phil Lynott („Na, so wirst ned oid“) und der britische Kneipen-Rocker Mickey Jupp („I brauch kan Dokta“) scheinen bei diesen Widmungen ihre wahre Heimat in Favoriten oder Simmering zu haben. Der Kurt singt ihre Weisen mit so delikatem Wiener Schmäh, dass der Stallgeruch rüberkommt, und dazu braucht man die in Worte gefassten Botschaften und G"schichten nicht mal zu verstehen.
An jenem „Abend im Gasthaus Quell“ war Kunst Leben und das Leben Kunst.
Eine überraschende Unternehmung - Ja und Nein.
Immer wieder sucht und findet Wenzel Kollegen für künstlerische Abenteuer jenseits der gerade erfolgreichen Arbeitszusammenhänge. Und immer wieder auch gibt es Veranstalter, Auftraggeber und Unterstützer, die sich solcherart Kreativ- und Unternehmergeist nicht entziehen wollen. Es scheint ein überaus glückliches Zusammentreffen gewesen zu sein - da im Burghof Lörrach, so poetisch, so feinsinnig, so professionell dramaturgisch komponiert wie dieser Abend daher kommt. Nicht so häufig hört man Lieder, die man kennt, mitunter seit so vielen Jahren, auch wieder ein bisschen neu: Der Bach-Choral, Gesualdos "Domine ne Pespicias", Schuberts "Frühlingstraum" oder eben auch Wenzels "Halb und Halb".
Wahrscheinlich sind das die wirklich großen Lieder, die auch, wenn sie in andere als die gesicherten Zusammenhänge gesetzt werden, funktionieren. Die in Text und Musik gerade dann Schichten freigeben, die vorher nicht so deutlich wurden. Die Jahrhunderte, die zwischen diesen Liedern liegen, werden ebenso unwichtig, wie die unterschiedlichen Stilistiken von Gesang und Ton. Solange die Winternächte also noch kalt und lang sind, sollte man sich auf diesen Abend einlassen, in Melancholie schwelgen und nebenher Kraft schöpfen - für den bevorstehenden Sommer.
Wer 17 Songs auf eine CD presst, der will eine Menge erzählen. Glücklicherweise hat Paul Bartsch auch etwas zu sagen. Wenngleich der Titel dieser CD doch ein wenig irre führend ist: Denn "in See stechen" bedeutet doch Aufbruch zu neuen Ufern, vorwärts zu neuen Gestaden.
Paul Bartsch & Band werfen in ihren poetischen Songs doch mehr Blicke zurück als nach vorn. Das tun sie allerdings mit schönen Geschichten und Bildern, mit Sentiment und Melancholie, aber auch mit Ironie. Die überwiegende Zahl der Texte widmet sich den Verlusten, die man im Leben erleidet, die Mann oder Frau besonders im Osten Deutschlands erleiden können. Die Themen reichen von den verlorenen Plätzen der Kindheit über den Verlust der Uniform der Freiwilligen Feuerwehr, die versäumten Revolutionen bis hin zu den verpassten Gelegenheiten, sich davon zu machen. Es sind keine Geschichten von Siegern der Geschichte, sondern eher von denen, die bei irgendeiner Gelegenheit die Unterlegenen waren. Dabei schiebt Paul Bartsch niemandem die Schuld zu, sondern sucht sie und findet sie bei sich, bei uns und den unausweichlichen Ereignissen, die ein jedes Menschenleben verkraften muss. Und wenn Hoffnung in einem Lied aufblitzt, dann klingt das so schön wie in vier Zeilen des Titelsongs "Stechen in See", die da heißen:
Doch in der Ecke, da ist noch ’n Zipfel
Von diesem trotzigen Blau zu sehn,
da fahr‘n wir drauflos, bis endlich die Gipfel
der Schatzinsel hoch überm Horizont stehen.
Auch wenn sich Paul Bartsch eine exzellente Band an seine Seite geholt hat, so bleibt er doch Liedermacher mit all seinem Denken und Fühlen. Nur - er kann mit Hilfe seiner Musikanten seine Meinung lauter sagen. Und das ist gut so.
Auf ihrer zehnten CD präsentiert sich die Band des stimmgewaltigen und wortmächtigen Schweizer Songpoeten Endo Anaconda zum ersten Mal in Quartett-Besetzung: Gitarre, Bass, Schlagzeug, Sänger. „Diese Formel ist nicht zu schlagen“, sagt Anaconda und verweist auf Rock-Klassiker wie The Kinks, The Doors oder die Red Hot Chili Peppers. Das künstlerische Ergebnis der Neuformation mit René „Schifer“ Schafer (Gitarre), Samuel Jungen (Bass) und Martin Silfverberg (Schlagzeug) ist beeindruckend. Die melancholischen und doch zugleich so kraftvoll-rockigen Moll-Töne - „Schifer“ Schafer bezeichnet sie als „Blue“ - sowie die Schnörkellosigkeit und Geradlinigkeit des Arrangements erweisen sich als die ideale musikalische Form für Anacondas grotesk-komisches Panoptikum in berndeutscher Mundart. Wenn es das Berndeutsche nicht gäbe, für Anaconda, seine urwüchsige dichterische Kraft und seine unvergleichliche stimmliche Performance, müsste man es erfinden.
Er könne „stundenlang nur beobachten, vor allem Menschen“, hat der Stiller Has-Sänger und Textautor einmal in einem Zeitungsinterview auf die Frage nach den Voraussetzungen für seine Ideen-Findung geantwortet. Gleich das erste Lied auf der neuen CD - es heißt „Fänschterplatz“ - scheint dieses Bekenntnis voll zu bestätigen, indem es obendrein den Beobachter in die Handlung miteinbezieht. Der beschreibt aus der Perspektive seiner Wohnung im Berner Stadtviertel Wyleregg ein tragikomisch-trostloses Szenario, dessen Einzelsequenzen fast etwas Mechanisch-Kinematographisches haben: da sind die im blauen Licht der Monitore händefuchtelnden EDV-Leute von gegenüber; da ist der einsame Jogger, der vor lauter verbissenem Gesundsein schon fast krankhaft den Block umrundet; und da ist schließlich die alte Dame, die „stockfuchtelnd, mitten auf der Kreuzung einem nabelfreien Kampfhund mit dem Tod droht“. Das Leben als eine Art Daumenkino-Groteske. Und mittendrin, sich eingesperrt fühlend „wie im haseschtall“ (wo sonst!), ihr Beobachter.
Auch wenn Anaconda in den verschiedenen Liedern in wechselnde Rollen schlüpft - sein Grundthema ist das gleiche: der letztlich unerfüllt bleibende Traum des Individuums vom Ausbrechen aus dem deprimierenden Alltagstrott - „i bi so truurig“ - und der Enge einer be-drohlich wirkenden menschenfeindlichen Welt. „Ds läben isch e geischterbahn“ - und unter all den lebenden Masken bekennt sich der Künstler folgerichtig zur Rolle des Clowns.
Dass sich die ernsten Töne auf dieser CD daher immer wieder mit lebensprallen, derb-komischen mischen, wie im Song vom „alten Has“, der sich einen „neuen Arsch“ wünscht, weil der alte „es loch het“, versteht sich bei Endo Anacondas ausgeprägtem Spaß an drastischen Bildern von selbst. Schließlich sind auch die Lieder aus dem Bereich der Magie, der Märchen und der Mythen - sie bilden einen weiteren Themenschwerpunkt dieser CD - geprägt von Komik und Ironie. Bevor die ersehnte Flucht aus unserem tragikomischen Jammertal im Schlusslied von Geisterbahn zumindest auf der Märchen-Ebene endlich möglich zu werden scheint, kehrt das „fäderliecht“ gen Himmel schwebende „lyrische Ich“ letztlich doch lieber wieder zurück auf die Erde. Begründung: „Oben gibt‘s nur Päpste, Abstinenzler, Bessermacher und Gott weiß von nichts.“
Übrigens - als zusätzliches musikalisches Bonbon neben den elf Songs dieses Albums sei den Stiller Has-Fans der „hidden track“ nach dem letzten Lied empfohlen: eine dynamisch fulminante e l f minütige Instrumentalversion des Titelsong-Ohrwurms