Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2010  Hans Reul, Eupen

Wenzel - Kamille und Mohn

Wenzel ist unter die Naturheilkundler gegangen: Auf einem massiven Baumast liegend und in sich ruhend über einem kleinen, scheinbar ruhigen Bach schmaucht er seine Zigarre oder welches Genussmittel auch immer. So schaut er einen von der ersten Seite des Booklets an. Blättert man weiter, dann entdeckt man Zeichnungen von Schafgarbe oder Ehrenpreis und erfährt auf 16 Seiten, wozu die Heilkräuter gut sind. Natürlich gehören dazu auch Kamille und Mohn, die einem Lied und der ganzen CD den Titel geben.

Die heilende Kamille und der rauschbringende Mohn: Damit sind Stimmung und Inhalt der CD treffend umschrieben. Die Musik ist in ihrer Vielseitigkeit, aber nie Beliebigkeit, typisch Wenzel. Die Texte sind nachdenklich, analysierend drohen aber nicht mit dem schrecklich erhobenen Zeigefinger, selbst in aktuellen gesellschaftlichen Analysen wie „Jugend in S.“ oder politisch noch direkter in „Krise“. Selbstverständlich treffen wir auch auf die sehr persönlichen Geschichten, wie in „Ohne Brille“, ein Lied über das Älterwerden, das Erinnern, die Liebe. Wenzel erzählt dies mit der ihm eigenen Poesie, anrührend aber ohne Kitsch oder Pathos. Leise Ironie und ein leicht sarkastischer Unterton sind stets zu spüren.

Kamille und Mohn ist das 30. Wenzel-Album: eine bemerkenswerte Zahl. Und ich kenne keine wirklich schwache Wenzel-CD. Der Mann verfügt wohl über eine nie versiegende Phantasie. Jedes Wort ist genau gewählt, jede Note stimmt. Dass er dabei keiner Mode hinterherrennt, ist wohltuend. Er ist authentisch, braucht sich nicht zu verbiegen. Gut, dass es noch solche Künstler gibt. 

NOV 2010  Karl-Heinz Schmieding, Saarbrücken

Bots - Was sollen wir denken

Es war Anfang 1982 in der SR-Reihe „Hanns Dieter Hüschs Gesellschaftsabend“. Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Liedermacher Lerryn alias Diether Dehm, begleitet vom Pianisten der Bots, am Schluss seines Auftritts ein neues Friedenslied sang: „Das weiche Wasser bricht den Stein“. In der Konzertatmosphäre des Großen Sendesaals folgte das Publikum Lerryns Aufforderung zum Mitsingen anfangs zwar noch ein wenig zögerlich, stimmte schließlich aber mehr und mehr ein und war am Ende so angetan von diesem Lied, dass es Lerryn und seinen Pianisten aus Holland gar nicht mehr von der Bühne lassen wollte. Erst wenige Monate zuvor, am 10. Oktober 1981, bei der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten, war der Song von der legendären holländischen Band Bots uraufgeführt worden. Der Text ist übrigens ein Gemeinschaftswerk des alten und neuen Bots-Produzenten Diether Dehm mit Dieter Hildebrandt, Hanns Dieter Hüsch und Günter Wallraff.

Bei ihren ersten Auftritten in der DDR (1976 und 1977) und beim Frankfurter „Rock gegen Rechts“- Konzert im Jahre 1979 hatten die Bots ihre „Hits“ noch holländisch gesungen, weil sie noch nicht über deutsche Texte verfügten. Ihre mitreißende Musik wurde dennoch so begeistert vom Publikum aufgenommen, dass sich schon bald eine Reihe namhafter Autoren daran machte, die Liedtexte ins Deutsche zu übertragen. Neben den bereits genannten trugen auch andere prominente Künstler, darunter Wolf Biermann, Udo Lindenberg, Henning Venske und Hannes Wader, durch ihre Übertragungsarbeit wesentlich dazu bei, dass die Songs in Deutschland populär wurden. Die Musik von den Bots und die bei Protestaktionen und Solidaritätskonzerten hunderttausendfach mitgesungenen Ermutigungshymnen wurden zum Leitmotiv der Generation der Friedensbewegung.

Die Trackliste der neu eingespielten deutschsprachigen CD – zwei Lieder sind in holländischer Sprache – umfasst dreizehn bekannte Bots-Titel, darunter „Aufstehn“, „Sieben Tage lang“ und „Das weiche Wasser“. Die Fans werden die Neuaufnahme dieser Sammlung von Highlights sicher begrüßen. Denn die wichtigsten LPs der Bands, „Aufstehn“ und „Entrüstung“, und ihre späteren CD-Ausgaben, aus deren Repertoire die meisten der hier präsentierten Lieder stammen, sind nicht mehr im Handel erhältlich. Jenseits aller Gefühle von Erinnerungsseligkeit, die die alten Lieder wachrufen mögen, sollte jedoch nicht übersehen werden: die „historischen“ Protest- und Ermutigungssongs aus den Zeiten der Anti-AKW- und der Friedensbewegung sind angesichts nach wie vor ungelöster gesellschaftlicher Probleme überraschend aktuell – ein überzeugender Grund für das Bots-Revival. Das neue Album ist zugleich eine berührende posthume Hommage an den Sänger Hans Sanders, den Gründer und Frontmann der Band. Er starb im Jahre 2007 während der Arbeit an der CD. Die meisten der Lieder hat er noch selbst einsingen können. Vier Lieder wurden mit dem neuen Sänger Rik Polman aufgenommen. Hans Sanders hatte ihn als seinen Nachfolger noch selbst eingearbeitet.

Im Vergleich mit den Originalen aus den Achtzigerjahren klingen die modernen Aufnahmen naturgemäß wesentlich brillanter. Zudem sind die Arrangements, auch wenn sie weitgehend der musikalischen „Dramaturgie“ ihrer Vorbilder folgen, in den meisten Fällen deutlich rockiger angelegt als die der ursprünglichen Fassungen. Als Beispiele für den neuen Rocksound wären vor allem Titel wie „Aufstehn“ oder „Sieben Tage lang“ zu nennen und damit auch der neue CD-Titelsong nach der Melodie von „Sieben Tage lang“ – übrigens der einzige neue Liedtext auf diesem Album. Hans Sanders, Diether Dehm, der hier auch als Gesangssolist mitwirkt, und Manfred Maurenbrecher haben ihn geschrieben. Aus „Was wollen wir trinken“ wurde „Was sollen wir denken“ – mit zornigen Raps gegen Medienmacht und marktliberale „Meinungsmacher“, bravourös „sprech-gesungen“ auf Türkisch, Italienisch und Deutsch von Kutlu Yurtseven und Rosario Pennino, den beiden Gastsolisten von der Microphone Mafia.

Die nostalgisch-satirische Coverzeichnung nimmt übrigens das Cover-Motiv von „Aufstehn“, der ersten deutschsprachigen Bots-LP, wieder auf – mit einem wesentlichen Unterschied: der gerade „aufgestandene“ Bots- Fan im Schlafanzug, der damals vom Fenster seiner Behausung aus neugierig auf eine Demo der Friedensbewegung herabsah, blickt in der Neufassung der Zeichnung als überzeugter Friedensfreund offensichtlich ungläubig und „entrüstet“ hinunter auf einen selig schlummernden Kioskinhaber und die von ihm ausgelegten Tages- und Wochenzeitungen. Denn deren Schlagzeilen sind alles andere als friedensbewegt.

Die Bots sind in der Tat „wieder da“, wohl nicht zufällig in den Zeiten der viel diskutierten neuen „bürgerlichen Protestkultur“. Eine Bots-CD mit neuen demokratischen „Aufstehn“- Liedern als nächstes Projekt nach dem gelungenen „Klassiker“-Album – das wäre sicher nicht schlecht. 

OKT 2010  Danuta Görnandt, Krams

Blassportgruppe - Steil

Die BSG, so nämlich nennen Fans und Freunde die Blassportgruppe vertraulich, ist alles andere als konventionell. Ungewöhnliche Bläserensembles vom Balkan – ja die kennt man und die spielen auf jedem Festival die Kollegen an die Wand. Aber Blasmusik aus Deutschland und mit deutschen Texten – da kommen Fragen auf.

Die zehn Musiker der Blassportgruppe widmen sich einer speziellen Art der volkstümlichen Blasmusik und bestreiten einen ganz eigenen Weg. Den kann man als zärtliche Kampfansage ansehen. Den kann man aber auch als höchst gelungenen Stilbruch artikulieren. Marschmusik und Dixieland werden ad absurdum geführt, brachiale Bläsersätze wechseln mit virtuosen Improvisationen und münden mitunter in Anklänge von Chanson oder Walzer oder irgendetwas dazwischen. Doch damit nicht genug, denn jetzt kommen die Texte ins Spiel. Texte über das prosaische Ende eines wilden Rock‘n‘roll-Lebens, über die surreale Begegnung mit einer schönen Polizistin oder die Reise mit dem Staubsauger durch die Charts, nichts anderes als der Traum von der besseren Musik.

Die Blassportgruppe gefällt sich darin in Retro-Fußball-Trikots aufzutreten. Vielleicht auch deshalb wurde die Band 2006 von FIFA engagiert, um die Fußball-WM musikalisch zu begleiten. Die Mitglieder der Band, allesamt in Klassik und Jazz versiert, spielen musikalisch souverän auf und lassen immer wieder erkennen, wie sehr ihnen der Schalk im Nacken sitzt. Auf ihrer neuen CD Steil spielen sie alle diese Vorzüge aus und schaffen Raum für neue musikalische Abenteuer. 

SEPT 2010  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Klaus Hoffmann - Das süße Leben

Nach 365 Liedern und 39 Alben ist der fein zwischen Gefühl und Verstand balancierende Sänger und Schauspieler Klaus Hoffmann immer noch der Poet, der er vor Jahrzehnten schon war, als er vor allem Frauenherzen mit LPs wie Was bleibt? oder Ich will Gesang, will Spiel und Tanz entzückte. Der tief in der Kultur seiner Heimatstadt Berlin verwurzelte Troubadour und Träumer hat sich eine kleine kreative Pause gegönnt – und lässt nun auf sein sehr schönes, stimmungsvolles 2008er Werk Spirit eine neue Liedersammlung folgen.

Das süße Leben ergibt, bei aller stilistischen Volatilität, ein angenehm rundes Ganzes. Da hört man die typischen gefühlvollen Hoffmann-Balladen (anrührend: „In diesem Augenblick“) neben flotten Folkpop-Nummern (in „Frei“ lässt Bob Dylans „Mr. Tambourine Man“ grüßen), das erotisch knisternde „Stiefel aus spanischem Leder“ im Salsagewand oder das kompromisslos engagierte „Bäng Bäng“, das Eindrücke darüber zusammenträgt, wie männliche Jugendliche durch Gewohnheit und Erziehung lernen, Gewalt als Teil ihres Lebens zu akzeptieren – ein Thema, das nicht erst seit dem Amoklauf im schwäbischen Winnenden brennende Aktualität besitzt.

Besonders gut ist Klaus Hoffmann, wenn er Männerbefindlichkeiten mit weiblicher Sensibilität schildert, wenn er für Einsamkeit, Sehnsucht, Glück und Verzweiflung so zarte wie geniale Worte findet. Immer wieder verschmelzen hier Bilder von Stadtlandschaften, die am Auge des Betrachters vorbeiziehen, mit intimen Bekenntnissen („Die Stadt hat heute dein Gesicht“). „Am Tag danach“ schmuggelt Schnappschüsse und Szenen von beendeten Wahlkämpfen (eingesammelte Plakate, ausgewechselte Fahnen, der Kandidat räumt Fehler ein…) zwischen Gedankenfetzen, die von Trennungsschmerz künden. Wie der anhaltende Zauber der Verflossenen sich gegen die Leere behauptet, zeigen sehr schön die folgenden Zeilen:
„Am Tag danach
wird von mir nichts mehr übrig sein
als die Erinnerung an dein Lächeln und dein Haar“.

Das ist kein Kitsch, nein, das ist pure Poesie. Und zum „süßen Leben“, das mehr ist als „dolce vita“, gehört bei Klaus Hoffmann ja immer auch die Melancholie. 

AUG 2010  Harald Justin, Wien

Dieter Kropp

Heutzutage können alle, so heißt es, auch die Deutschen, den Blues haben. Da gibt es den „November-Blues“, den „Steuer“ oder „Baby-Blues“. Egal, wann immer es schlecht geht, wird ein Wort aus der amerikanischen Umgangssprache zur Beschreibung bemüht. Dabei wissen die Bluesexperten natürlich längst, dass der Blues alles andere als eine traurig-stimmende Musik ist. Alles, was im Leben eine Feier wert sei, das sei der Gegenstand der Bluestexte, sagt die Fachwelt, und diese Erkenntnis muss sich eines Tages auch zu Dieter Kropp rumgesprochen haben.

Denn der Sänger und Mundharmonikaspieler, seit 1986 Profi, und nach Jahren des Singens von Trauerliedern in englischer Sprache, etwa „Sittin‘ & Crying“, hat seit 2005 auf die deutsche Sprache gesetzt. So bilden die vielfältigen Formen amerikanischer Musik weiterhin den musikalische Hintergrund, aber auf der Textebene hat sich einiges verändert, nicht zuletzt dank der Zusammenarbeit mit Felix Janosa.
Und das ist gut so. Denn nun wird – dem Blues ähnlicher als es bescheidene Geister glauben mögen – mit Augenzwinkern, Wortwitz und Ironie, jenseits von bemühten Reimen, zu Werk gegangen. Die Musik ist tanzbar und flott, die Texte ebenso. Sie lassen glücklicherweise jene Schwere und moralinsaure Dumpfheit vermissen, die allzu viele deutschsprachige Produktionen belastet. Wahrlich, eine Feier. Und sich dabei auf eine Augenhöhe mit Produktionen von Götz Alsmann oder Roger Cicero zu stellen, das ist keine geringe Kunst und verdient Lob. Es Dieter Kropp für Schönen Gruß vom Blues auszusprechen, fällt leicht. 

JULI 2010  Martin Steiner, Winterthur

Alex Miksch - Straße des Hundes

Wer hört eigentlich deutschsprachige Lieder? Engländer, Saudis, Polen? Und, wenn nein, warum nicht? Ist doch klar. Die verstehen deutschsprachige Lieder nicht. Aber, Hand aufs Herz, haben Sie einst Bob Dylan, als er kryptisch wurde, Wort für Wort verstanden? Und, haben Sie deshalb nie mehr Bob Dylan gehört? Falls ja, können Sie sich die Zeit sparen, diese Rezension zu lesen. Nichtösterreicher werden nämlich Alex Miksch aus dem niederösterreichischen Waldviertel beim ersten Anhören weit weniger verstehen als den näselnden Amerikaner. Macht nichts. Straße des Hundes ist zuallererst einmal großartige Musik: eine verrauchte Stimme, die an Tom Waits erinnert, und Musiker, die mal nach Blues, Trash, Klezmer oder nach allem zusammen tönen.

Da werden Spannungsbögen auf- und Abgebaut, Gitarren kreischen, Bläser stoßen voll ins Horn, nur um gleich wieder ganz locker
und leicht weiter zu spielen. Dieser Soundtrack wird verstanden – auch ohne Sprachkenntnisse. Ein Blick ins Beiheft der CD lohnt sich trotzdem. Bei „Esl Boogie“ etwa zeichnet Alex Miksch ein Bild der Bremer Stadtmusikanten, die ihren Kollegen unter ihnen arg zusetzen. Und wenn die Katze zum Tiger wird, ihre Krallen ins Fell des Hundes gräbt und die Gitarre laut miaut, weiß man nicht so recht, ob man da lachen oder weinen soll. Genauso ergeht es einem beim Lied „A schleichenda Prozess“, dieser Weltuntergangsmetapher, unterlegt mit einem schleppenden Blues. Bei aller Dunkelheit sind die Texte und die Musik doch erdig, voller Leben und Poesie. Sie kommen mit einem Augenzwinkern und schwarzem Humor daher. Musik und Text gehen bei Alex Miksch und seiner Band eine starke Verbindung ein. Wer sich Straße des Hundes ein paar Mal anhört, merkt, dass er Alex Miksch plötzlich versteht. Wie war das doch bei Bob Dylan?

Eine der intensivsten und eindringlichsten deutschsprachigen CDs seit langer Zeit. 

JUNI 2010  Kai Engelke, Surwold/Emsland

Bartsch & Band - Live im Objekt 5

Die Liedtitel der vorliegenden Paul Bartsch-CD lassen zunächst in erster Linie Privates vermuten: „Winter am Kamin“, „Häuschen im Grünen“, „Toscana-Blues“ oder auch „Traum vom Apfelbaum“. Achtet man aber auf die Texte – und das sollte man bei Bartsch unbedingt tun – so wird sehr schnell klar, dass da einer agiert, der es auf gekonnte Weise versteht, Individuelles und Gesellschaftliches miteinander zu verknüpfen. So entsteht eine überaus unterhaltsame und gleichermaßen in die Tiefe gehende Mixtur feinster Rockpoesie. Die Welt wolle er diesmal nicht verändern, lässt er sein Publikum zu Beginn des brillanten Konzertmitschnitts wissen, doch sein Blick auf die Realitäten bleibt wach und kritisch.

Immer wieder ermöglicht Bartsch in den Liedtexten seine ganz persönliche Sicht auf die Natur der Dinge. Er macht deutlich – und zwar ohne jegliche Besserwisserei – dass jeder Einzelne an seinem Platz tätig werden und nicht unerfüllbare Heilserwartungen an übergeordnete Instanzen richten sollte. Der Song „Arche“ thematisiert die ewige Hoffnung auf Rettung aus verfahrenen Lebenssituationen. In „Einerlei/Irgendwer“ geht es um die Sinnsuche menschlichen Daseins. Von Stillstand und Hoffnungslosigkeit ist im Lied „Irgendwo“ die Rede. „Irgendwo ist es besser“. Der Reggae-Song „Manchmal“ bringt die Problematik wieder auf den Punkt: Erwarte nicht Hilfe und Patentrezepte von anderen, tu selber etwas.

Im „Toskana-Blues“ schildert Bartsch zunächst die Annehmlichkeiten südlicher Lebensart, um am Ende des Liedes zu einer Erkenntnis zu gelangen, die eine der Grundlagen des Urchristentums beziehungsweise des Anarchismus sein dürfte: Jeder gibt, was er kann und nimmt, was er braucht. Eine schöne Vorstellung. Der „Traum vom Apfelbaum“ ist eine musikalische Verbeugung vor der legendären Renft-Combo, die zu DDR-Zeiten verboten war.

Angenehm sind auch die intelligenten, manchmal fast lyrischen Zwischenansagen. Bartsch hat eine Handvoll hervorragender Musiker um sich versammelt, die ganz wesentlich zum positiven Gesamteindruck dieser bemerkenswerten Produktion beigetragen haben: Jens Tannert (Perkussion), Gerd Hecht (Bass), Sander Lueken (Keyboard) und allen voran der famose Gitarrist Thomas Fahnert. Schade, dass die Liedtexte nicht im Booklet nachzulesen sind. So ist man gezwungen, genauer hinzuhören, was sich aber auch als ein Vorteil erweisen kann. Die Aufnahmequalität dieser 70-minütigen Live-CD ist hervorragend. Da geht wirklich keine Nuance verloren.

Bei aller inhaltlichen Bedeutungsschwere kommen diese Songs leicht und gleichzeitig kraftvoll dahergeflogen, bleiben eine Weile, um dann wieder auf die Reise zu gehen. 

MAI 2010  Petra Schwarz, Berlin

Duo Sonnenschirm - Duolektik

Ja, nach knapp fünf Jahren empfehle ich w i e d e r das Duo Sonnenschirm! Im September 2005 war es der Song „Brief aus Bagdad“ und jetzt möchte ich allen Liederfans die nagelneue komplette CD von Jürgen B. Wolff und Dieter Beckert ans Herz legen!

Ja! Es g i b t sie, die neue CD Duolektik, obwohl in der Rubrik „Duo aktuell“ auf www.duosonnenschirm.de am 22.April, da ich diese Zeilen schreibe, zu lesen ist: „Beckert/Wolff verbringen die kalten Tage im LTL-Studio mit der Arbeit an ihrer neuen Studio-CD Duolektik. Wir sind gut im Plan, will heißen, die Releaseshow in der MB am 1.4. (Gründonnerstag) sollte also gesichert sein. „MB“? Das meint – soviel ist klar – Moritzbastei und ist ein traditioneller Klub, nach eigener Beschreibung: „Die größte Studentenkneipe Deutschlands“ mitten in Leipzig. Was die Aktualität der Duo Sonnenschirm-Website betrifft, stellt sich die Frage: War die Release Show am 1.4. ein Aprilscherz?

Dazu findet man auf der CD Duolektik nichts, ansonsten scheint es dort aber k e i n Thema zu geben, dass die selbsternannten „Brachialromantiker“ nicht ansprechen. Musikalisch kommt das Ganze in gewohnt super-einfallsreicher und produktiver Sonnenschirm-Manier daher: Da erklingt ganz ursprünglicher Rock‘n Roll genauso wie Walzer (durchaus übrigens auch im s e l b e n Song „verhackstückt“!) oder eine leise Ballade und darüber hinaus fast alles, was es an musikalischen Formen so gibt. Bitte unbedingt selbst reinhören! Hier gilt nach wie vor: Worte sind einfach ein dürrer Ersatz für Töne! Noch dazu diese Töne mit prallem Sound vom Duo Sonnenschirm – ein neuerliches Meisterwerk der Multitalente Beckert und Wolff.

Beide sind – wie lange schon – gemeinsam die Autoren der Songs und haben die CD auch zusammen produziert. Sie singen und musizieren kraftvoll, mit – einschließlich Hund – sechs Gästen und erzählen einmal mehr wundervoll schräge Geschichten. Mit einem Sprach-„Witz“, wie man ihn vom Duo Sonnenschirm gewöhnt ist und erwartet! „Amok & Koma“, zwei junge Menschen, die sich ineinander verlieben, obwohl deren Familien seit ewigen Zeiten verfeindet sind, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes: die Zeile: „Hartzzeit vier
vor Vier“ aus dem Stück „Mitm Hund“. Und es gibt viel zu lernen: Zum Beispiel, dass Flüchtlinge am Strand von Heiligendamm „stranden“ und ein Säugling von einem „schneeweißen Bär“, der von Grönland her geschwommen kommt, gerettet wird. Ein Wunder – wunderbar!

Sehr zu empfehlen ist auch das Booklet der CD. Darin finden sich neben den Texten der Songs, die zumeist schon ein paar Jahre, einer sogar schon ein Vierteljahrhundert „auf‘m Buckel“ haben, schöne und interessante Fotos und Skizzen mit vielen Informationen und Anmerkungen „drumherum“.

Man sollte sich die Zeit nehmen, das „Werk“ mehrfach zu hören, denn selbst beim -zigsten Mal gibt es etwas „Noch-Nicht-Gehörtes“ wahrzunehmen. Und zu guter Letzt noch dies: Ob die Herren Beckert und Wolff denselben Aszendenten haben, entzieht sich meiner Kenntnis.
I h r  Glück aber scheint – ganz anders als es den Paaren in „Nachts auf dem kahlen Hügel“, dem ersten Song der CD, ergeht – von langer Dauer zu sein.

APR 2010  Michael Laages, Berlin

Schorsch & de Bagasch - Jedn Dog

Die Frage ist von haltbarer Bedeutung – funktioniert eigentlich der gute, alte, prinzipiell unkaputtbar erscheinende Blues, sobald er nicht in der Sprache seiner Erfinder gesungen wird? Klingt Blues nach Blues zum Beispiel in Brasilien, wo es eine kleine, verschworene Bluesgemeinde gibt, und mitreißende Diven wie Lu Vitaliano, deren quasi „nackter“ Blues so schmerzhaft wie lustvoll unter die Haut und ins Blut geht; und klingt Blues nach Blues in bayerischer Mundart? Georg Hampel, den die Münchner Szene (wie er sich selber) nur „Schorsch“ nennt, tritt den Beweis an. Mit „Jedn Dog“, der jüngsten CD, die Schorsch & de Bagasch vorlegen, erzählen der Sänger-Gitarrist und die Musiker der Band Bagasch einige der ganz alten Geschichten – aber sie spielen rund ums Isartor.

Der bluesübliche Macho-Männer-Ton macht sich breit, aber die Typen jammern sich bei Weißbier das ewige Elend mit den Frauen von der Seele. Sie sehen an irgendeiner Schwabinger Ecke das Mädchen ihrer Träume vorbei wehen und senden ihr verträumt-verzweifelte Liebeserklärungen hinterher. Und sie singen zwar nicht vom „House in New Orleans“, dafür aber – denn das liegt ihnen näher – von der schwer anarchistischen Geschichte, mit der ausgerechnet München ja mal gesegnet war, in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.

So entsteht eine etwas andere Theorie über den Blues – er klingt besonders eindringlich und stark immer dann, wenn er von den eigenen Dingen erzählt: von unerfüllter und erfüllter Liebe, von der Erkenntnis, dass die meisten schöneren Dinge im Leben mies enden, vom Schlecht-drauf-sein und von der Hoffnung; von der Stadt, der Welt, der Sprache, in der der Blues jeweils zu Hause ist. In Brasilien eben oder in Bayern – genau für diese globalisierende Vision des Blues als Lebenshaltung mit musikalischem Ausdruck ist Jedn Dog und sind Schorsch & de Bagasch vorzügliche Beispiele. Und der Blues ist überall.

MÄRZ 2010  Eva Kiltz, Berlin

Snorre Schwarz - Petit Berlinois

Seit fast 20 Jahren ist Snorre Schwarz nun als Schlagzeuger unterwegs und, glaubt man der langen Liste seiner Gastauftritte, bestens im Geschäft. Mitte der Neunziger noch als „Punk’n’Roller“ mit den „Fremden“, heute mit der Berliner Folk-Pop-Klezmer-Balkan Band Di Grine Kuzine um Frontfrau Alexandra Dimitroff, wo er auch schon ab und zu die Stimme erhoben hat. Nun hat er mit Petit Berlinois sein Debütalbum als Sänger vorgelegt. Es ist ein poetisches, ein feines Popalbum von Einem geworden, der sich als Musiker längst nicht mehr beweisen muss.

Der „kleine Berliner“ Snorre Schwarz benötigt nicht mehr als ein Fender Rhodes, Gitarre, ab und an einen Flügel und elf deutsche Texte um ein kleines Kunstwerk zu schaffen. Insgesamt wirkt das Album sehr reduziert aber dennoch nicht einfach. Die feine Rhythmik der Texte spiegelt sich in den leichten Arrangements wider, die Liedform folgt dem Text, man könnte vermuten, dass Snorre sich am klassischen Kunstlied orientiert hat. Vielleicht findet sich hier ein Hinweis auf den Schlagzeuger wieder, oder Snorre Schwarz hat einfach ein Faible für Poesie.

Überhaupt prägt der weiche Klang des Fender Rhodes, das Künstler von the Doors bis Herbert Grönemeyer eingesetzt haben, um psychedelische oder entrückte Effekte hervorzurufen, den Klang des Albums. Bei Snorre Schwarz überwiegt der verträumt-verspielte Anteil, garniert mit so exotischen Instrumenten wie Maultrommel, Balalaika und Glockenspiel. (Ob sich diese allerdings in den „sonstigen Instrumenten“ verbergen, die Snorre Schwarz angibt, eingespielt zu haben oder ob der Fender auch solche Klänge hervorzaubern kann, bleibt leider offen.)

Von der Grundstimmung her strahlt das Album gespannte Ruhe aus, ein Gefühl wie das zur Ruhe kommen der Natur nach einem gewaltigen Sturm. Der beinah gesprochene Gesang bleibt immer gelassen; beiläufig introvertiert behandelt Snorre die großen Gefühle Angst, Tod, Leere, Hoffnung.

Zwischendurch ist Entertainment angesagt. Der Chansonnier hat die Oberhand gewonnen über den Melancholiker, der dem Fährmann zwischen den Welten flüsternd ausrichtet „ich weiß genau ich muss geh‘n“, der sich Schlaflieder vorsingen lässt und sich die Flügel an der Sonne verbrennt.

Mitten drin passiert dann noch mal reine Poesie. „Blitschitz“, ein Monolog mit Mundorgel, erinnert entfernt an die humoristischen Morgensternschen oder dadaistischen Schwitterschen Spiele mit der deutschen Sprache. Und siehe da, Wikipedia zitiert Kurt Schwitters mit den Worten „Was Kunst ist, wissen Sie ebenso gut wie ich, es ist nichts weiter als Rhythmus.“ Es bleibt die Frage, wie viel vom Schlagzeuger Snorre Schwarz in die Songs des petit berlinois eingeflossen sind.

Absolut hörenswert ist das sowieso.

FEB 2010  Michael Kleff, Bonn

Roger Trash - Liebe & Desaster

„Wer in dieser Zeit nicht seine Stimme erhebt für eine friedvolle Welt und gegen den Wahn der Menschheit, sich selbst und die Erde durch Gier und Dummheit gezielt zu vernichten, der hat es nicht verdient, eine öffentliche Stimme zu haben.“ Das schrieb Konstantin Wecker jüngst in einem Gastkommentar für den Folker, in dem er gesellschaftlich und zukunftsrelevante Musik forderte. Von diesem Ansatz lasse auch ich mich in der Regel bei meinen Beurteilungen der Musik für die Liederbestenliste leiten. Doch da gibt es noch eine andere Seite an mir; eine die sagt, dass man die Welt nicht rund um die Uhr retten kann. Es braucht auch Musik, die einen aus dem Sessel der Nachdenklichkeit hochscheucht und den Körper im Rhythmus der Beats bewegen lässt.

Hier kommt Roger Trash mit seinem neuen Werk ins Spiel. Mit Liebe & Desaster kann man/frau unbeschwert auf einen musikalischen Roadtrip gehen – bei runtergedrehter Scheibe mit locker raushängendem Arm: „die Lieder für die rechte Autobahnspur“ („Zu gut für diese Welt“). Die Songs von Roger Trash gehen fast ausnahmslos dermaßen ab, dass ich mir wünschen würde, ich hätte „Gut am Glas“, „Sei meine Nr. 2“ oder das „Bengellied“ als 45er-Vinylsingles – Hinweis für die jüngeren Musikfreunde: Singles, das waren diese kleinen schwarzen runden Dinger mit einem Loch in der Mitte, bei denen die Teens und Twens einst bis zum Umfallen tanzten unter lautem Mitsingen der Refrains.

Die Songs auf Liebe & Desaster würden sich in meiner Musikbox gut neben einigen Oldies der goldenen Ära der 45er machen. Aber die Texte…, mag der eine oder die andere jetzt einwenden. Meine Entgegnung: Was ist denn so falsch daran, wenn jemand sich einmal durch die Höhen und Tiefen des Verlassen-, Verliebt- und Enttäuschtsein singt. Hand aufs Herz: Die Geschichten von Liebe und Desaster sind doch Teil unser aller Alltags. Und wenn der einmal grau ist, dann bietet Roger Trash 54 Minuten und vierzehn Sekunden lang mit Rock‘n‘Roll, Blues, Country und Balladen unterhaltende Ablenkung auf hohem Niveau, die neue Energie verleiht.

JAN 2010  Peter Eichler, Leipzig

Thomas Felder - 40 liederliche Jahre

Beim schwäbischen Dialekt denkt man gemeinhin zuerst ans erfolgreiche Ländle BaWü, an Porsche, Mercedes und an den Spruch: Wir können alles, außer Hochdeutsch. Schwäbisch gilt vielen – und da schließe ich mich nicht aus – als Inbegriff für schaffe, schaffe, Kehrwoche und zu Hause bleibende, Kinder erziehende Ehefrauen. Das eine oder andere Vorurteil mag da durchaus vorhanden sein, aber auch ein Stück Lebenswahrheit.

Einer, der zu seinem Dialekt steht – oder ist es eine Mundart – ist Thomas Felder. Sein erstes Lied, das ich kennen lernte und das mich beeindruckte, war der „Luftpfennig“. Das war Anfang der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Jetzt blickt Felder zurück auf 40 Jahre Bühnen- und Medienpräsenz. Er blättert auf seiner aktuellen CD ein Kaleidoskop von Liedern auf, die zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen entstanden sind. Das gibt dem CD-Programm die Farbe und den Bogen über vier Jahrzehnte deutscher Geschichte und Gegenwart. Der Hörer erfährt im ersten Lied „Hao lang braucht zum komma“ Grundsätzliches über Thomas Felder. Er ist zwar blitzgescheit, aber bei ihm dauert es eben immer etwas länger, bis er an Ziel kommt – davon unabhängig, betrachtet er sich immer noch als unterwegs Seiender.

Felder lässt den Hörer teilhaben an seinem Lebensweg von Deutschland über England zurück in die Heimat. Dabei erfahren wir auch, dass der Schwabe seine ersten Spuren auf englischen Tonbändern hinterließ. Das Lied „Volksrealhaoptobrschal“ nahm er neben anderen Liedern für den englischen Schulfunk auf. Das war dann die Initialzündung, dass auch der Prophet begann, im eigenen Ländle etwas zu gelten. Thomas Felders Laufbahn als Songpoet mit öffentlicher Wahrnehmung begann. Seit dem, seit 40 Jahren also, blickt Thoams Felder auf seine Mit-Schwaben, auf ihr Tun, vor allem aber auch auf ihre Eigenheiten. Und so sollte jeder, der Thomas Felders CD in die Hand bekommt, neben den bereits genannten, den „Kulturnachtwächter“ als eines der ersten Lieder hören, kurz danach aber auch „Land voll Läaba“.

Lebensreise und Musikreise zugleich ist Thomas Felders neue CD 40 liederliche Jahre. Eine Empfehlung nicht nur für die, die des Schwäbischen mächtig sind. 

Die Top 20 der
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