Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2012  Steffen Kolodziej, Saarbrücken

Wolfgang Buck - Genau underm Himml

Wolfgang Buck ist wunderbar. Ein präziser Gitarrist, guter Beobachter, humorvoller Zeitgenosse und freundlicher Frange. Pardon: Franke. Vielleicht muss man zwangsläufig diesen angenehmen Eindruck von ihm bekommen, wenn man seine Lieder hört, denn er singt ja auch auf fränkisch, und da werden audomadisch die Spitzen weich, die Granteleien verbindlich und die Pointen verschmitzt. Oder es liegt daran, dass Buck gelernter Pfarrer ist und von daher eine gewisse verständnisvolle Art kultiviert hat.

Jedenfalls hat er wieder eine neue CD vorgelegt, die zehnte innerhalb von 24 Jahren, wenn ich richtig gezählt habe. Sie heißt Genau underm Himml und es ist kein Solo-, Duo oder Livealbum und auch keines mit unüberschaubar vielen musikalischen Gästen – all das hat Buck in den letzten Jahren schon herausgebracht – , sondern eine Produktion der bestens eingespielten Wolfgang-Buck-Band. Sechs wunderbare Musiker, nicht aufdringlich virtuos, sondern zurückhaltend im Dienst der Stücke und der Texte und dabei sehr wandlungsfähig. Dass zwei der sechs was von Tuten und Blasen verstehen, trägt entscheidend dazu bei, ist aber nicht das ganze Geheimnis, denn auch Bass, Gitarre, Keyboard, Schlagzeug verstehen was von Dynamik und vom Unterschied zwischen laut und leise, langsam und schnell.

Sie können wie eine Rockband klingen oder wie ein kleines Unterhaltungsorchester aus längst vergangenen Tagen. Mal rollt der Blues, mal tänzelt der Swing, mal startet die Orgel Jet-mäßig durch zu schwerem Beat – je nachdem, ob der Text Gefühlsverstärkung braucht oder Illustration oder einfach ein musikalisches Gerüst.

Erstaunliche Dinge passieren so: zwei der 16 Stücke hatte Buck für eine frühere CD schon solo aufgenommen. Hier, mit der ganzen Band eingespielt, klingen sie wie neu. Und eines davon, „Di oldn Schlachdn“, wird zu einem der zentralen Stücke der CD: Ein atmosphärisch dichter Soundtrack zu einem Text, der erst mal biografisch daher kommt und sich dann zu einem höchst hinterfotzigen Kommentar zum Thema Nostalgie und Traumata wandelt – Niedeckens „Jupp“ in der Version 2.0, wenn man so will.

Buck schreibt aber nicht nur spitzfindige Kommentare zu Zeitgenossen, Phrasendreschern und sonstigen Landplagen, sondern auf diesem Album auch auffallend viele eher besinnliche Miniaturen: über Süße und Salz in der Beziehung, zwei Menschen zwischen Meer und Himmel, das Glück, das immer grad da ist, wo man es nicht erwarten würde – und übers Essen. Genauer: über den Schweinebraten, von dem all jene nichts verstehen, die auch von einem Salatblatt schon satt werden und sich geschmacklos leicht reden.

Mag sein, dass Genau underm Himmel etwas verhaltener ist als noch Flusszigeiner. Eine wunderbare CD ist es dennoch. Und bevor ich noch mehr Plattitüden zusammenstelze, kann ich nur raten, sie sich in voller Länge anzuhören. Bei gedämpfter Beleuchtung, mit guten Kopfhörern. Und – im Falle, man ist nicht selber Konsonantenschänder – mit dem Textbuch in der Hand. Es gibt vieles zu entdecken, nicht nur eine spezielle Musikalität einer ganz besonderen Variante der deutschen Sprache. 

NOV 2012  Stephan Rögner, Frankfurt am Main

Reno Rebscher - Auf stillen Pfaden, Liedpoesie & Lyrik

Die CD Auf stillen Pfaden des im Schwarzwald lebenden Neurologen resultiert aus einer gelungenen Verknüpfung von lyrischer Dichtung und ihrer künstlerischen Interpretation. So ist „Liedpoesie & Lyrik“ der folgerichtige Untertitel dieser bedeutsamen Auslese auf dem Tonträger nach Reno Rebschers jüngst veröffentlichtem Gedichtband Im Flügelschlag des Harlekin. „Manche meiner Gedichte bieten sich zur Vertonung an, manche Lieder lassen sich auch in Lyrik umwandeln. Lyrik und Lied befruchten sich gegenseitig“, fasst der praktizierende Diplom-Psychologe und Nervenarzt seinen kreativen Schaffensprozess zusammen.

Rebscher ist der Liedermacher mit leisen Liedern geblieben. Das Maß für die Stärke seiner Schallempfindung liegt am unteren Level. Seine Themen sind existenzielle Lebenserfahrungen, Lebensweisheiten. Er verfolgt den Kreislauf des Lebens am Beispiel von Kindern, die laufen lernen, oder flügge gewordener Kraniche. Er erläutert Vergänglichkeit mit dem Beispiel verblassender Beziehungen, er betrachtet Wattwürmer bei ihrer Arbeit. Nicht nur immer wiederkehrende Ereignisse wie die Jahreszeiten sind Thema seines Betrachtens, sondern auch reine Zufälligkeiten, die jeglicher Vorahnung entbehren. Eine politische Richtung können seine Gedanken beim Anblick eines Flusses nehmen; er denkt an Teilung, die schmerzlich sein kann.

Rainer „Reno“ Rebscher ist seit Sechzigerjahren als Liedermacher unterwegs. Längst verdient er seine Brötchen mit seiner Arztpraxis. Das macht ihn finanziell unabhängig, er kann seine CDs nach eigenem Gusto veröffentlichen. Seine Gastmusiker (Rebscher selbst singt und spielt Gitarre) bringen ein entsprechend aufwendiges Instrumentarium mit. Das bedeutet, die Qualität der CDs entspricht eigenen – in dem Fall anerkanntermaßen – höchsten Ansprüchen. Im Booklet sind die Lieder nachlesbar und die 23 teils illustrierten Seiten nicht überladen.

Rebschers Lieder erzählten bisher interessante Geschichten, waren sozialkritisch und politisch, nachdenklich oder auch jugendlich-fröhlich, aber bisher nur selten das, was man in der Hochblüte der Folkbewegung Protestsongs nannte. Zusammen mit dem Berliner Ulrich Kind musizierte er als Duo Handstreych. Es gibt eine LP und vier CDs von ihnen, und die Lieder wurden im SWR und DLR gesendet. Ulrich Kind wurde krank und Rebscher positionierte sich neu, zeitweise mit anderen Künstlern und neuerdings mit lyrischen Gedichten. Diesem Neustart und seiner intensiven Beschäftigung mit der Wechselwirkung zwischen Lied und Lyrik folgte die Solo-CD Auf stillen Pfaden“, deren Titelsong kurz seine Wünsche artikuliert: friedvolle Stunden, in denen Bedürftigkeit schweigt, Stille und Nachgeben, das kein Drängen mehr kennt, Dankbarkeit, die keinen Neid kennt, Demut und Sehnen, das jeder Wehmut entbehrt – und das in einer Zeit, da sich Rebschers fast erfülltes Leben dem knapp bevorstehenden Ende des Berufsalltags zuneigt. Unlängst erntete Rebscher Anerkennung seiner lyrischen Arbeit mit einem Preis beim Lyrikwettbewerb um den Hochstadter Stier 2012 im oberbayerischen Weßling. 

OKT 2012  Dieter Kindl, Kassel

Roland Bliesener - Kostprobe gefällig?

Keine Frage: Roland Bliesener ist ein erfahrener Musiker. Stars wie Hubert Kah, Peter Schilling, Markus oder Chris Norman hat er am Keyboard begleitet und mit seiner eigenen Band Knutschfleck hat er fünfzehn Jahre lang vor allem bei NDW-Parties die Bühnen „gerockt“. Vor etwas über einem Jahr hatte er davon genug und er versuchte sich an anderen, leiseren Tönen. Erste Ergebnisse dieses Versuchs hat er nun auf einer CD veröffentlicht. Die heißt sinnfälligerweise Kostprobe gefällig? und beinhaltet sechs Lieder aus der Feder des Pforzheimers. Eingespielt live im Studio, auf einem 100 Jahre alten Steinway-Flügel. Ganz ohne technische Tricks, wie er selbst sagt. Und das kommt den Stücken auf dieser EP vollends zugute.

Schauen wir uns diese Stücke doch einmal genauer an. „Vogelfrei“ – der erste Titel auf dem Album erzählt vom Beginn einer Beziehung, dem Aufruhr und der enormen Kraft, der ihr inne wohnt:
„Lass uns im Chaos baden bis man uns zu Grabe trägt
So hoch die Träume fliegen und noch ein Stückchen höher
Bis wir zu Sternenstaub verglühen, dann sind wir unsichtbar – dem Himmel nah“.

Im zweiten Lied nimmt einen Roland Bliesener auf eine Reise in seine Wunschwelt mit.
„Das hab ich geträumt
Also wird"s auch wahr
Wozu sind denn schließlich sonst
All die Träume da“
singt er da und fordert seine Hörerschaft auf, es ihm gleich zu tun. Optimistisch geht es auch in „Wunder“ zu. Ein kleiner Augenblick kann die Welt verändern, meint er darin und begründet dies damit, „dass etwas Optimismus alles so viel leichter macht“. Das klingt zunächst einmal ziemlich oberflächlich. Ist es aber nicht. Im Gegenteil.

Denn Bliesener ist Realist genug, um auch auf die Gefahren einer Beziehung hinzuweisen:
„Pass auf, wenn ihr zwei euch euer Traumschloss baut
Dass beide einen Schlüssel haben
Und stell Dir hin und wieder mal nen Wecker
Das Leben hat man viel zu schnell verpennt“
heißt es beispielsweise im Stück „Wenn der Regen fällt“. Diese Beziehung endet dann zum Schluss des Albums im Lied „Schau mich bitte nicht so an“. Roland Bliesener hat mit seiner EP Kostprobe gefällig? ein kleines, aber feines Konzeptalbum über die Liebe, das Leben und das Leiden geschaffen. Dabei lässt er auch nicht den Tod aus. In „Menschenkind“, das einen eher an ein Wiegenlied erinnert, hat er wunderbar poetische Verse für dieses unabwendbare Ereignis gefunden:
„Schlafes Schwester kommt herein
Sie trägt ihr schönstes Kleid
Sie fordert Dich zum Tanze auf
Geh mit es ist soweit“.
So möchte ich auch einmal von der Welt gehen, wenn es soweit ist.

Die „Kostproben“ klingen authentisch: Man glaubt Roland Bliesener, worüber er da singt. Dass er sich dabei auf ein einziges Instrument zur Begleitung verlässt, ist inzwischen eine Seltenheit in der Branche. Und seine Texte sind Gott sei Dank weder oberflächlich noch reitet er auf ausgelutschten Themen herum. Es sind authentische Begebenheiten die er auf dem Album in Wort und Ton gefasst hat. Das alles garniert er zudem mit charismatischem Gesang und seinem berührenden Klavierspiel. Roland Bliesener ist es gelungen, sich von der lauten Mainstreammusik, die ihn immerhin fünfzehn Jahre begleitete, zu trennen und sich auf das Wesentliche zu beschränken: nämlich Lieder machen. Das ist es auch, was aus dem erfahrenen Musiker einen Newcomer im besten Sinne macht. Und um auf die Frage von Roland Blieseners Debüt-CD zu antworten: Ja, von solchen Kostproben hätte ich gern noch mehr.

SEPT 2012  Tom Schroeder, Mainz

Ape & Feuerstein - Hauptsache

Eine Minidisc als Empfehlung – drei Musiktitel, von denen zwei bereits auf unserer Liederbestenliste stehen? Ja, trotzdem schlage ich Hauptsache vor, aus guten Gründen.

Erstens: Wenn ich zur Zeit jemandem eine Schallplatte schenke, dann am liebsten dieses kleine, feine Album. Es kostet 5,00 Euro, als Download 99 Cent pro Song. Für mich liegt der G e b r a u c h s wert der CD weit über ihrem V e r k a u f s wert – wir haben es hier mit Verbraucherberatung im besten Sinne zu tun.

Vier Jahre nach dem Knall und Fall von Lehman Brothers geht es dabei um das scheinbar Unfassbare, das in gebräuchlicher Schönrede „die Märkte“ genannt wird. Sinnvoller wäre es, so schlug kürzlich ein Talkshowgast vor, statt von den Märkten von „den Vermögenden“ zu sprechen, das sei zwar auch noch sehr ungenau, kläre aber die Interessenlage.

Genau das, zweitens, machen Fred Ape und Guntmar Feuerstein in ihren drei Songs zum späten Kapitalismus unserer Tage, ihre Lieder kommen frisch, fröhlich, frei und erfreulich unfromm daher: Ein Folkwalzer („Hauptsache“, Track 1), eine von der australischen Gruppe Crowded House inspirierte, bittersüße und sommerhitverdächtige Latinonummer („Mensch und Hund“, Track 2) sowie ein Bluesmarsch mit Stromgitarre, der mich an die Schmetterlinge erinnert oder auch an die Puhdys („Spekulation“, Track 3).

Ingo Nordhofen hat dieses Stück „über die Machenschaften der Spekulanten“ in seiner persönlichen Liedempfehlung (Juni 2012) treffend gewürdigt. Wie kommt man aus so einer Nummer raus, wenn man so viele Flaschen aufgemacht hat? Man kehrt die Scherben zusammen und findet einen klasse Dreh, hören wir noch einmal rein in die letzte Strophe:

Spekulieren wir auf bessere Tage
ohne Zinsen und Religion
ohne Kriege und ohne Klage
ohne Not und Hungerplage
na ja, vielleicht ist das auch nur Spekulation
obwohl – wer weiß das schon!“

„Mensch und Hund“ verdankt seine Entstehung den unzähligen Hundeausstellungen in der Dortmunder Westfalenhalle. Diese Momentaufnahme vom guten satten Bürger, der einem ähnlicher sieht als man glauben möchte, könnte auch ganz anders heißen, etwa Dieter Bohlen und Heidi Klum oder Der Tanz ums goldene Ich oder ganz einfach Leck mich. Bei ihren Song- und Satire-Live-Auftritten bezeichnen die beiden Dortmunder Ape & Feuerstein „Mensch und Hund“ als ihre „Irritationsnummer“.

Als richtige Stunknummer entpuppt sich „Hauptsache“, ein Lied für alle Väter von Töchtern. Wen immer das Schätzchen mit nach Hause bringt – im väterlichen Test muss er zunächst grundsätzlich durchfallen. Aber man wird realistischer in seinen Ansprüchen:

Lass ihn ein Lehrer sein oder ein General
ob dünn oder dick, das wär mir egal
ob Muslem, ob Jude, oder auch Christ...

Lass ihn ein Bischof sein oder ein Pornostar
gepierct, tätowiert und mit fettigem Haar
ob Lügner, ob Schalker oder Kabarettist...

Hauptsache ist, Hauptsache ist
Hauptsache, dass er kein Bänker ist!“

Die Schlusspointe soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Sie bezieht sich auf eine Splitterpartei mit F, in der statt des Personals lieber die Brillenmodelle ausgewechselt werden.

(In der aktuellen Realsatire klingt dasselbe Lied so: „Inkompetenz, Korruption und Gier sind endemisch geworden“, so der britische Wirtschaftsminister Vince Cable unlängst in der Bankenskandalweltstadt London. Sigmar Gabriel über Schweizer-deutsche Connections: „Hier reden wir über organisierte Kriminalität in Schweizer Banken in Deutschland.“ Und mit der deutschesten aller Banken beschäftigt sich die amerikanische Justiz.)

Drittens und vor allem: Diese Minidisc ist ein echter Ape. Er steht hier unverbiegbar sozusagen in einer Tradition mit sich selbst steht. Seit vier Jahrzehnten arbeitet er auf der Bühne, hat (zusammen im Trio Ape, Beck und Brinkmann oder im Duo mit Rudi Mika) mehr als zwanzig Alben veröffentlicht, neun davon mit seinem jetzigen Musik- und Kabarettpartner Guntmar Feuerstein.

Auf Fred Apes erster Platte, 1980 erschienen beim Label der SPD-nahen Jugendorganisation Die Falken, findet man den von ihm geschriebenen und komponierten späteren Klassiker „Rauchzeichen“. Auch mit Hilfe der Dortmunder Gruppe Chochise erreichte „Rauchzeichen“ bislang eine Auflage von mehr als 200.000 Tonträger- Exemplaren und wurde in Schulbüchern abgedruckt. Die Moral von der Geschichte ist die alte Indianerweisheit, dass man Geld nicht essen kann... An der Verbreitung dieser Weisheit in Wort und Witz, in Bild und Ton arbeitet Fred Ape bis heute.

Mich erinnert er gelegentlich an Sisyphos, den die alten griechischen Götter dazu verdonnert hatten, einen Felsblock immer wieder von neuem den Berg hinauf zu wälzen. Anfang der 1940er Jahre schrieb der spätere Literaturnobelpreisträger Albert Camus (1913 – 1960) seinen bekannten Aufsatz „Der Mythos des Sisyphos“, der mit folgendem Schlusssatz überrascht: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Genauso sieht Fred Ape auf seinen Fotos aus.

Mit Camus teilt Ape auch die Liebe zum Fußball. Ein Bild aus den 1930er-Jahren zeigt Camus als Torwart der Universitätsmannschaft von Algier. Fred Ape ist bis heute nebenberuflich Torwarttrainer, er selbst steht immer noch zwischen den Pfosten des FC Brünninghausen („Es gibt fünf Ligen über uns und fünf Ligen unter uns.“) Selbstverständlich besitzt er seit einem Vierteljahrhundert eine Dauerkarte für den BVB.

„Fußballspielen und Biertrinken, manchmal auch umgekehrt!“ Ein solches Motto gehört meiner Meinung nach zum Leben und zu den Liedern, zur Haltung und Unterhaltung von Fred Ape. Zu ihm passt aber auch der Satz von Albert Camus: Je me revolte – donc nous sommes. Auf Deutsch: Ich revoltiere, ich wehre mich, also sind wir.

AUG 2012  Mike Kamp, Bad Honnef

Diverse - Heute hier, morgen dort - Salut an Hannes Wader

Es ist generell faszinierend, wenn alte Lieder erfolgreich neu interpretiert werden und damit ihre weitere Gültigkeit bewiesen werden kann. Hannes Wader hat in seiner langen Karriere etliche Lieder geschrieben, die großartige Vorlagen für ein solches Projekt sind und anlässlich seiner 70.Geburtstags haben sich endlich aktuelle Künstler seines Repertoires angenommen.

Zusammenstellungen wie diese sind selten durchgängige Offenbarungen. Dota & die Stadtpiraten z. B. sind unendlich brav, Philipp Poisel viel zu kurzatmig und Bierbeben sind in der jahrzehntealten Neuen Deutschen Welle stecken geblieben. Aber wenn Slime mit ungestümem Punk in die Saiten dreschen, wenn Johannes Strate die flirrende Hitze von „Unterwegs nach Süden“ zwischen Resignation und hymnischem Optimismus platziert und besonders wenn Glasperlenspiel den „Traumtänzer“ ganz klar in Richtung Charts trimmen, ohne die bedenkenswerte Botschaft zuzukleistern, dann ist es für mich erwiesen, dass Hannes Wader seine Lieder nicht nur für den damaligen Moment geschrieben hat. Schade nur, dass die versammelte Mannschaft zu sehr auf Nummer Sicher gegangen ist und hauptsächlich alte und keine allzu politischen Songs ausgesucht hat. Wirklich schade, sieht sich Wader lt. Folker-Interview doch immer noch als überparteilichen Sozialisten. Sei‘s drum, Wader hat den Tribut oder Salut mehr als verdient. Zu wünschen ist, dass tatsächlich die Nachfolger der 68er-Generation und ihre Kinder den Wert seiner Lieder entdecken mögen. Das wäre die ultimative Auszeichnung. 

JULI 2012  Michael Kleff, Bonn

Ernst Molden - A so a scheena Dog

Ein Kritiker schrieb, wenn Bob Dylan ein Wiener wäre, er wäre Ernst Molden. Ein anderer bezeichnete ihn als den „Leonard Cohen Wiens“. Dabei hat der aus einer Publizisten- und Verlegerfamilie stammende Liedermacher derartige Vergleiche gar nicht nötig. Können seine Texte und Lieder doch auch ohne sie das Qualitätsurteil „sehr gut“ für sich beanspruchen. Auf
A so a scheena Dog präsentiert sich Molden im Unterschied zum Vorgänger Es Lem nur mit rauchiger Stimme, Gitarre und ein wenig Mundharmonika.

Wie immer im Wiener Dialekt, nimmt er sein Publikum mit auf einen Spaziergang durch die Donau-Metropole. In elf Liedern begegnet man dabei den unterschiedlichsten Charakteren an diversen Schauplätzen der Stadt, die Ernst Molden offensichtlich liebt. So gewinnt er bei „Regn en Wien“ selbst einem regnerischen Tag in Wien seine schönen Seiten ab. Molden ist ein genauer Beobachter. Wobei die Grenzen zwischen Realität und Fiktion fließend sind. Ob bei dem Lied über die Mittagstischgäste im „Café Ministerim“ – mein persönlicher Favorit auf der CD –, bei der Geschichte über eine geheimnisvolle „Weiße Frau“, die mit 140 Sachen in ihrem Auto auf dem Heimweg ist, oder der Beschreibung des Wieners an sich, dem schirchen Freund in „Da Weana“. Bei der Wiedergabe dessen, was er gesehen oder erdacht hat, beschränkt Ernst Molden sich jedoch nicht auf das Beschreiben. Vielmehr fügt er eine poetische Ebene hinzu. So gibt er dem Hörer Raum, die musikalischen Erzählungen in seiner Fantasie weiter ausmalen zu können; Raum für eigene Gefühle und Gedanken. Am besten mit einem Achterl Roten, einem Fiaker oder einer Wiener Melange zu genießen. 

JUNI 2012  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Tempi Passati - Weit draußen

Ist das Leben heute so schön wie früher? Soll ich mich nach meiner Jugend zurücksehnen? Ist eine gewisse Gelassenheit nicht immer ratsamer als der wehmütige Blick zurück? Andererseits: Sind wir heute nicht dabei, wirklich bewahrenswerte Errungenschaften der Vergangenheit wie Muße oder Nachdenklichkeit dem sich immer schneller drehenden Lebensrad zu opfern? Solche Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich dem Lied „Früher“ lausche, mit dem die Leipziger Band Tempi Passati ihr Album eröffnet. „Früher, da war alles besser, aber ganz sicher, nicht alles war schlecht“.

Man kann das aber auch ganz locker sehen und die Musik der vier gestandenen Männer um den Sänger und Gitarristen Raik Hessel einfach entspannt genießen. Diese Mischung aus tiefschürfendem Suchen und feiner Ironie, die hat schon was. Und schließlich ist das geflügelte Wort „Tempi Passati“ bereits in seinem Ursprung doppeldeutig. Da soll der österreichische Kaiser Joseph II in Venedig vor einem Bild gestanden haben, das Friedrich Barbarossas Kniefall vor dem Papst zeigt. Ob Joseph mit dem Ausruf „Die Zeiten sind vorbei!“ sein Bedauern oder seine Freude über das Ende dieser kirchlich-weltlichen Liaison ausgedrückt hat, ahnt man zwar. Aber wer weiß das schon ganz genau?

Eindeutig sind die Leipziger Tempi Passati, was ihre musikalischen Vorlieben angeht. Das klingt durchweg nach klassischem amerikanischem Singer/Songwriting, und zwar in einer sehr delikaten Art, die Cowboy-Coolness und Country-Tupfer ebenso einschließt wie hispanische Klänge. Da wird Urlaubsflair herbeigezaubert, etwa in „Sentiero del sud“ mit Trompete und Akkordeon. Im Stück „Warten“ findet Hessel eindringliche Worte und Akkorde für eine Liebe, die wahrscheinlich auf ewig vergeblich bleibt. In „Halbes Leben“ geht es um die Tragweite der richtigen Entscheidung im richtigen Moment. Ein Ohrenschmaus sind die Gitarrendialoge zwischen Hessel und Bandkompagnon Kai Schubert. Die Jungs lieben den handwerklich gut gemachten Song und haben eingängige Nummern wie „Fernweh“ und „Weit draußen“ im Gepäck. Das hört man. Deshalb sind Tempi Passati schönste Gegenwart. 

MAI 2012  Hans Reul, Eupen

Georg Breinschmid - Fire

Wer mal Kontrabassist bei den Wiener Philharmonikern und dem Vienna Art Orchestra war, kann so schlecht nicht die Saiten zupfen. Georg Breinschmid ist dieser Tausendsassa, der sich schon in jungen Jahren von der Klassik verabschiedet hat, um beim wohl kreativsten Jazzensemble Österreichs anzuheuern. Und dann letztendlich doch sein eigenes Projekt erfolgreich durchzuziehen.

Vor knapp zwei Jahren brachte er mit Brein"s World ein Doppelalbum voller Esprit und Witz heraus. Dem lässt er nun Fire folgen. Das Feuer der Leidenschaft ist in jedem der Titel zu spüren, Breinschmids Brain lässt es nur so sprudeln, der Mann kann musikalisch so schön um die Ecke denken, dass es nicht immer leicht ist ihm zu folgen. Obwohl, ganz so anstrengend ist es auch nicht, denn bei so viel gute Laune-Feeling wie in „Little Samba“ oder in der „Schnörtzenbecker-Polka“, da bleibt keiner ruhig sitzen. Das ist Spaß pur. Unterstützt wird er hier von Roman Janoska an der Violine und dessen Bruder Frantisek am Klavier, zwei Brüder, die wie Breinschmid den Klassik-Jazz-Background mitbringen.

Dies ist die eine Seite der Medaille, auf der anderen finden wir den Trompeter Thomas Gansch. Mit ihm stellt er dann auch die Wiener Lieder vor. Lieder, die hintersinnig und böse sein können, oder in ihrer vermeintlichen „Ver-rücktheit“ einen immer wieder von hinten erwischen. Wer es wagt auf eine CD eine so spontane Liveaufnahme wie die „Jazz-Gstanzln“ zu setzen mit all den kleinen Textfehlern und (Zitat) verschlampten Einsätzen, der verfügt über ein gerüttelt Maß an Selbstvertrauen. Zu Recht. Diesen Respekt hat Georg Breinschmid sich verdient.

Vielleicht erstaunt den einen oder anderen Hörer diese Wahl zur CD des Monats der Liederbestenliste. Ich weiß, gesungen wird nicht allzu viel auf dieser CD, aber wenn, dann lohnt sich das Zuhören umso mehr. Bei den zahlreichen Instrumentals erst recht. Ein Lied alleine rauspicken, würde dem Album nicht gerecht. Man muss es ganz hören und der Spaß kann süchtig machen. Mit Verlaub: Der Mann ist einfach genial: Kontrabassist, Sänger, Komponist, Geschichtenerzähler und noch einiges mehr. Eben Breinschmid. 

APR 2012  Hans Jacobshagen, Köln

Matthias Brodowy - In Begleitung

Der Kabarettist Matthias Brodowy zeigt sich hier als Musiker und Texter schöner Lyrik. Das ist nicht das, was man von einem Kabarettisten unbedingt erwartet. Der sollte nämlich witzige, gar bissige Reime zu Gitarre oder Klavier vortragen. Und das kann Brodowy im Kabarett auch. Auf seiner neuen CD, die er In Begleitung nennt, weil er mit Begleitung musiziert, hat er aber das deutsche Chanson neu entdeckt. Es sind recht unterschiedliche Arrangements, die die lyrischen Texte illustrieren, wobei Wort und Musik hier gleichberechtigt nebeneinander stehen. Im ersten Lied träumt das Saxofon vom Faulsein. Welches andere Instrument könnte das besser!? Brodowy lädt uns ein, einfach mal nichts zu tun. Und so wünscht er „N‘schönes Leben noch“ denen, die wahre Werte nur noch dort suchen, wo „die Zwangshandlung zur Freiheit umetikettiert wird“. Auch hier unterstreicht das Arrangement den Text. Das klingt dann etwas rauer, bestimmt durch Perkussion und Gitarre. Im dritten Lied der CD setzt sich dann der Theologe Brodowy mit der magischen Zahl Sieben auseinander. Musikalisch erinnert das an die Band Unheilig, der hymnische Klang unterstreicht die mystischen Gedankenspiele.

Und so findet sich auf dieser CD für jedes Lied, für jeden Text ein völlig neuer Ton. Und doch ist das ganze ein Gesamtkunstwerk voller Spannung und Farben. Brodowy singt vom Neben-Sich-Stehen und davon, dass er ein Nordlicht ist. Der Weltuntergang kommt zu einer irisch anmutenden Melodie, und wenn er denn kommt, dann aber fröhlich und tanzbar. Wenn diese Welt so endet, dann ist das so. Ansonsten lasst uns das Gute suchen in der Zeit, die wir haben! Nur einmal wird er noch zum Mahner, wenn er in dem Lied „Offenbarung“ davor warnt, dass wir uns alle freiwillig zum gläsernen Menschen machen, der seine Privatsphäre öffentlich macht und damit die eigene Freiheit preisgibt. Die Generation Facebook erzählt alles ungefiltert über sich. Am Schluss gibt‘s noch eine Hommage an Hannover. Diese Stadt hat bedeutende Personen hervorgebracht, aber auch einen Bundeskanzler und einen Bundespräsidenten, und das lässt ahnen, dass diese Liebe schwierig ist. Brodowy ist einer, der Harmonie sucht, auch wenn das nicht immer einfach ist. Es ist die Aufforderung heute zu leben, bewusst zu leben. In Form und Inhalt erinnert das alles mehr an das französische Chanson denn an Liedermacherei. Und diese deutschen Chansons haben gleichermaßen Leichtigkeit und Tiefgang und laden dazu ein, sich auf das heimische Sofa zu lümmeln und bei einem Glas Rotwein den Gedanken und Klängen zu folgen, und sich einfach mal forttragen zu lassen. 

MÄRZ 2012  Christian Beck, Berlin

Tom Liwa - Goldrausch

Tom Liwa, Kopf der Flowerpornoes und vergangenen Herbst 50 geworden, weiß Leben und Kunst auf ganz eigene, recht präzise Weise auseinander zu halten. Einerseits gibt er außerordentlich offen mitunter über instimste Dinge seines Privatlebens Auskunft – was garantiert nicht jedermanns Sache ist. Andererseits transponiert er diese Dinge in seiner Musik dann aber auch wieder so weit ins Ungefähre, dass sie letztlich auch wieder nicht wirklich dingfest zu machen sind – was ihnen künstlerisch außerordentlich gut bekommt.

„Lied für Lied destilliert er aus dem Fluss der Ereignisse Momente der persönlichen Wandlung“, vermeldet das Label zu Goldrausch – wie persönlich, also intim, kann vor allem sehr gut erahnen, wer einmal einen der Newsletter gelesen hat, die der Duisburger in unregelmäßigen Abständen verschickt. Beziehungstrennungen, Umzüge, Kindsgeburten in wechselnden Elternkombinationen, Stimmungen aller Art, und immer wieder der Hinweise auf schon wieder nötige Neusortierungen des gesamten Alltags – wem der Blick in die Seele des Künstlers zu weit geht bei der Liedermacherei, dem sei Vorsicht empfohlen.

Beziehungen, Veränderung, Stimmungen. Und alles ganz explizit – noch einmal das Label: „Mit den Vorgänger Alben Komm Jupiter und Eine Liebe ausschließlich vollendet Goldrausch eine Trilogie, die sich einer ganz bestimmten Lebens- und Schaffensphase des Künstlers, aber auch einer ganz bestimmten Liebe widmet.“

Federleicht hingetupfte Lieder, zum Großteil vor allem zur Ukulele, was die Zartheit und Flüchtigkeit der Bilder, ihre Brüchigkeit und die Verletzbarkeit ihres Schöpfers sehr angemessen abbildet. Aber auch von einer großen, gelassenen Kraft und gar einer gewissen Dynamik, nicht nur wenn die Band einsetzt. Die Kindsmutter, die die Nacht woanders verbrachte, Sohnemann, der den Sänger tritt und anspuckt. An der Oberfläche bleibt alles sehr vage, nicht viel mehr als angedeutet. Erst bei mehrmaligem Hören, entstehen allmählich konkrete Personen, die vermutlich sogar mit Klarnamen zu benennen wären, wenn man wollte. Aber darum geht es nicht.

Sondern um die poetischen Stimmungsbilder, Grundton Melancholie, die Tom Liwa den Dingen des Alltags abgewinnt. Um die Kraft, die sie entwickeln und die man daraus auch wieder ziehen kann. Wie schmerzhaft der Alltag ganz sicher im wirklichen Leben mitunter ist, so heilsam, ja Schmerz lindernd sind die lyrischen und musikalischen Miniaturen, die man ihnen abgewinnen kann und auch unbedingt sollte: Liebeserklärungen, Abschiede und Trauer; das Glück, das vor allem Kinder spenden können, schon durch ihre bloße Existenz; ein spürbares unablässiges Hin und Her zwischen Ermüdung und Wiederaufraffung. Weiter, immer weiter.

So entzieht sich das Dutzend Stücke auf Goldrausch im gleichen Maß, in dem man den Fakten mit der Zeit auf die Spur kommt, einem solch handfesten Zugriff auch wieder. Was dauert und bleibt, ist etwas Atmosphärisches – etwas Vorsprachliches, das im Charakter, in der Stimmung der Musik und Texte selbst liegt. Ein Zauber, der gerade auch in ihrer Unbestimmtheit und Rätselhaftigkeit liegt, die ihnen über weite Strecken bleibt. Ganz offensichtlich sehr intime Geschichten, die für gänzlich Außenstehende sowieso nicht präziser werden als eine Stimmung. Das ist ihre Qualität. Genauer muss es gar nicht sein. 

FEB 2012  Dieter Kindl, Kassel

Betancor - Kein Island

„Die Welt sieht aus wie frisch gewaschen
Wer sich gut gesonnen ist, geht raus
Wühlt sich aus den leeren Taschen
Freizeit-Euros mit der Faust“

Mit diesen Zeilen begrüßt Betancor die Hörer und Hörerinnen auf ihrem neuen Album. Das klingt zunächst einmal ein wenig schräg und skurril. Sie selbst sieht ihre Texte als pointierte Dichtung im Spiegel der Gesellschaft. Was sie damit meint, erschließt sich der geneigten Hörerschaft jedoch erst nach mehrmaligem Hören ihres Werks. Nicht nur aufgrund des leider fehlenden Booklets: Betancor kann man nicht nebenbei hören – Text und Musik erfordern volle Aufmerksamkeit.

Ansonsten geht man auch ihrer wunderbar komischen Einfälle verlustig, die es auf „Kein Island zuhauf“ gibt. Wie etwa in „Fallobst“:
Fallobst fällt hauptsächlich von Bäumen
Liegt meistens rum, hat immer einen Stich
Fallobst findet man nie in Räumen
Und ist der Wurm drin, dann isst man Fallobst nicht“.

Im Verlauf des Songs (der als langsamer Blues daherkommt) gibt sie zu, dass sie auch von anderen Dingen singen könnte, denn
Fallobst interessiert doch keine Sau
Nur ich als Frau, Frau die ich bin
Beschäftige mich gern mit solchen Dingen
Ich als Frau find‘ so was richtig gut“.
Dass sie sich aber genau mit einem solch „selten blöden Thema“ beschäftigt, hat mein Interesse an dieser ungewöhnlichen Künstlerin geweckt.

Wer oder was also ist Betancor? Im „kollektiven Langzeitgedächtnis“ (besser bekannt als Internet) fand ich zumindest einige Antworten auf meine Fragen. Bevor Susanne Betancor auf Solopfaden wandelte, war die Multiinstrumentalistin unter anderem bei Helge Schneiders „Muttertag-Five“ und Herbert Knebels Affentheater tätig. Später machte sie sich als Komponistin, Texterin und Schauspielerin für das College of Hearts in Berlin einen Namen und 1995 ging sie mit ihrem ersten Soloprogramm auf Tour. Aus dieser Zeit stammt auch ihre selbst gewählte Berufsbezeichnung: Popette, die sie als Negation der Chansonette erfunden hat. Die Popette ist nun, wie sie selbst sagt, in den Hintergrund getreten. Auch, weil sie immer wieder falsch, nämlich frankophil, betont wurde. Das hat Betancor genervt. Zumal sie von Geburtswegen Halbspanierin ist. Dieser Seite hat sie im Übrigen 2006 auf ihrem Vorgänger-Album Hispanoid Raum gegeben. Doch nun „war (es) wieder höchste Zeit für eine deutsche Platte. Und als wär‘ das nicht genug, war es auch Zeit für eine Balladenplatte“.

Kein Island ist ihr auch rundum gelungen. Insbesondere für diejenigen, die, sagen wir mal, eher ungewöhnliche Texte mögen. Und davon hat Betancor jede Menge zu bieten:
„Weiß nicht, aber jemand randaliert in meinem Gehirn
Räumt ständig um, verkabelt neu, schickt mich zum kopier‘n“
heißt es in da in einem Lied und
„Ich wär so gerne wieder da, wo ich herkäme
Würde lieber wieder bleiben, wo ich war“
in einem anderen. Selbst nach mehrmaligem Hören entdeckt man immer wieder neue Sprachspielereien in den Stücken der Wahl-Berlinerin. Wohltuend auch die kongeniale Symbiose von intelligentem Humor mit Jazz- und Blueselementen, für die sich neben der Protagonistin (Piano & Trompete) insbesondere Dirk Berger (Gitarre) und Joe Bauer (Perkussion) verantwortlich zeichnen und die der Platte das gewisse Etwas verleihen.

Wie war doch im Begleitschreiben dieser CD zu lesen? „Dies ist meine neueste Veröffentlichung. Fast 51 Minuten exquisit polytonaler Kammerpop by Betancor in Deutsch. Und nicht nur, dass ich stolz bin und mich freue, ich bin auch überzeugt, dass diese Platte gelungen ist, wertvoll und Freude transportiert.“ Dem will ich nicht widersprechen. Im Gegenteil. 

JAN 2012  Harald Justin, Wien

Günter Neumann - Schlag nach bei Neumann

Großväterchens Witze haben den längsten Bart, und nichts altert schneller als der politische Witz, das politische Lied und das Kabarett. Und das ist gut so, denn ansonsten bliebe es beim Alten. Alt-68er Franz Josef Degenhardt wusste das, als er in den Achtzigerjahren davon sprach, dass die Zeiten seine Lieder im besten, dialektischen Sinne überholt hätten. Neue Zeiten brauchen neue Lieder, die alten Lieder gehören den alten Zeiten, ihr Veralten ist das Veralten der Verhältnisse, und wenn schon die 68er-Lieder wie eine Flaschenpost aus einer ferne Vergangenheit klingen, dann ertönen die auf zwei CDs sorgfältig aufbereiteten Nachkriegschansons und Kabarett-Pretiosen des Berliners Günter Neumann gänzlich wie aus einer fremden Welt, die mit der heutigen Wirklichkeit Deutschlands so viel zu tun haben wie das Leben auf Kepler 22b.

Was Günter Neumann fürs Berliner Kabarett des Brettl schrieb und was von Interpreten wie Grethe Weiser, Theo Lingen oder Loni Heuser vorgetragen wurde, was er für das einst erfolgreiche Duo Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller schrieb, dürfte sich niemandem heute mehr ohne die Begleitlektüre eines Geschichtsbuches durch simples Mitlachen erklären. Wer versteht schon noch Witzeleien über Nachkriegsschwarzmarktpiraten in Zeiten, wo Boris von Marzahn die Wahl zwischen drei Handy-Flatrates plus Gratis-Notebook hat? Wie stumpf sind die Spitzen gegen die Kalten Krieger des Militarismus von einst, wo heute Hightech-Dronen das Drecksgeschäft ums Öl mit einkalkulierten Kollateralschäden übernehmen? Wenn schon nicht mehr zum Lachen, so animiert diese sorgfältig in Buchform aufbereitete, vom Kleinkunstspezialisten Volker Kühn mit einer kenntnisreichen Einleitung versehene Doppel-CD zumindest zum Stöbern in alten Geschichtsbüchern und zum Staunen à la „„So etwas gab es einmal in Deutschland?„

Und zum Staunen darf sich dann noch die Bewunderung gesellen. Denn bei aller Vergänglichkeit des leichten Humors, Günter Neumann war ein Könner, ein Meister der kleinen Form, der als Komponist und Texter mit Feinschliff an Wort und Ton arbeitete. Sein Motto lautete: „„Wir versuchen’s mit Charme, wir nehmen lächelnd die Zeit auf den Arm, und die Zeit ist zur Zeit gar nicht leicht.““ Nicht die alten Witzeleien sind von diesen Aufnahmen zu lernen, sondern wie man in schweren Zeiten mit Charme Zeitkritik in Worte und Töne verpackt Wie setzt man Pointen, wie lässt man die Sprache mehr sagen als es die bloßen Worte tun? Es ist die alte, gute Kunst des Handwerks, die diese Aufnahmen zu einer Empfehlung für alle machen, die sich für die Kunst des Liedermachens interessieren. 

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