Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.
„Eine andere Welt ist möglich“. Das ist nicht nur das Motto der globalisierungskritischen Organisation Attac, die dieser Tage ihr zehnjähriges Jubiläum feiert. Eigentlich ist das auch das Motto des übergroßen Teils der Künstler, die in der Liederbestenliste vertreten sind und daher passt die Jubiläums- und natürlich auch Solidaritäts-CD für Attac mit dem Titel Die Verhältnisse rocken so gut in diesen Rahmen.
Attac ist mit über 90.000 Mitgliedern in 50 Ländern der Welt aktiv und – das ist ganz wichtig – es handelt sich hier nicht um eine Partei. Es geht um ein Bündnis oder eine Bündelung unterschiedlichster Kräfte von Gewerkschaften über die katholische Friedensorganisation Pax bis hin zu kapitalismuskritischen Gruppen, alles mit dem Ziel einer ökologischen, solidarischen und friedlichen Weltwirtschaftsordnung. Es geht um Alternativen. Lesen Sie selbst mehr unter www.attac.de.
Der Geburtstagssampler zeigt den hohen Stellenwert, den Attac unter Künstlern genießt. Bekannte Namen wie Sportfreunde Stiller, Bela B, BAP oder Spillsbury singen neben ein paar englischen Gästen wie Chumbawamba oder New Model Army (plus einem französischen Gast) nicht nur deutsch, sondern sie singen zur Sache, teilweise mit exklusiven Stücken. Der Zusammenhang erfordert keinen Herzschmerz, sondern Texte, die die Probleme der Gesellschaft beim Namen nennen, die zum Mitdenken anregen. Bei den musikalischen Zutaten dominiert – Überraschung! – der gute alte Rock, aber auch Punk oder Reggae kommen zum Zuge. Alles Klänge, die eine Zuhörerschaft von ca. sechs bis sechzig Jahren begeistern können und so soll es auch sein. Das Anliegen ist keines einer kleinen Schicht, also muss auch die Musik Breitenwirkung haben, ohne abgestanden zu klingen.
Mit dabei ist übrigens auch Bernadette La Hengst, die in der Liederbestenliste im November in den Top Ten platziert war. Wenn es denn noch eines Beweises bedurft hätte, dass Bestenlistekünstler und Attac-Unterstützer bestens zusammenpassen, das ist er!
In der Musikbranche ist es ja nicht unüblich, mit Musikern aus anderen Stilrichtungen zusammen zu arbeiten. Bei dem neuesten Projekt dieser Art treffen nun zwei Musikrichtungen aufeinander, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander zu tun haben: HipHop und jiddische Folklore. Die, die sich da zusammen getan haben sind die Microphone Mafia und die 84-jährige (!) Esther Bejarano mit ihren beiden Kindern Edna und Joram.
Esther Bejarano, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters des Konzentrationslagers Auschwitz, hat Geschichte am eigenen Leib erlebt. Von diesen Erlebnissen berichtet sie als Zeitzeugin in Schulen, sie mischt sich aktiv in die Politik ein, geht auf Antifa-Demos. Und sie singt darüber. Die Themen ihrer Lieder – Ausgrenzung, Rassismus oder Gewalt – sind leider immer noch aktuell und gehören noch längst nicht der Vergangenheit an. Diese Erfahrung haben auch die Kölner Rapper der Microphone Mafia gemacht, die allesamt einen Migrationshintergrund haben. Auch sie singen in ihren Songs darüber und setzen sich kritisch damit auseinander.
Und so kriegt diese Zusammenarbeit auf den zweiten Blick auch einen Sinn. Auf Per La Vita (Für das Leben) treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander und verbinden sich zu etwas Neuem. Etwas, das unerwartet harmonisch klingt. Etwas, das zum Nachdenken, zum Handeln anregt. „Bei dem Projekt prallen Welten aufeinander. Und dieser Aufprall soll die Menschen wachrütteln“ kommentiert Rapper Kutlu Yurtseven das neue Album.
Ende Juni habe ich die Microphone Mafia mit den Bejaranos live erlebt. Eine Stunde lang „rockten“ die Musiker die Bühne und nicht nur ich war von diesem Auftritt begeistert. Drei Stunden später stand Esther Bejarano dann schon wieder auf der Bühne – diesmal mit Konstantin Wecker. Was für eine Energie – absolut bewundernswert.
Doch zurück zur CD: Die elf Stücke darauf sind nicht unbekannt – sie reichen von Traditionals über Textvertonungen von Bertolt Brecht, Nazim Hikmet, Mikis Theodorakis oder Boris Vian bis hin zu bekannten jiddischen Liedern. Was sie aber einzigartig macht, ist die musikalische und textliche Bearbeitung durch die Microphone Mafia. Rosario Pennino und Kutlu Yurtseven verstehen es meisterhaft, den Inhalt der Lieder in die Neuzeit zu transportieren und sie so auch jüngeren Generationen zugänglich zu machen. So werden selbst „Avanti Popolo“ oder „Bella Ciao“ wieder hörenswert. Mehr noch: Per La Vita ist ein musikalisches Bekenntnis – für eine Zukunft ohne Antisemitismus, Rassismus, Ausbeutung und Krieg. Bitte mehr davon!
Kurz sollte sie werden, die neue CD von Manfred Maurenbrecher, nicht wieder eine dieser „80-Minuten-Produktionen, bei denen man irgendwann abbricht und nie wieder reinhört“, wie er im Booklet schreibt. Aber wie das so oft ist, kommt es anders als geplant, denn die Auswahl fiel schwer und plötzlich war klar, dass es eine Doppel-CD werden würde. Sie präsentiert eine, in ihrer musikalischen und textlichen Vielfalt beeindruckende, Sammlung von 18 Stücken, wobei die Betonung der ersten CD eher auf Stücken mit seiner Band liegt, während CD 2 solistischer ausgeprägt ist. Das Booklet des Digi-Packs beinhaltet keine Texte, aber die bekommt man auf Maurenbrechers Internetseite (www.maurenbrecher.com). Stattdessen gibt es zu allen Stücken Erläuterungen zu deren Entstehung.
Maurenbrecher ist einer der ganz Großen in der Liedermacherszene (oder sollte man vielleicht eher Chansonszene sagen?), ein großartiger Erzähler kleiner Geschichten, der es schafft, mit seinem sehr eigenen erzählenden Gesangsstil atmosphärische Dichte zu schaffen, die tief berührt. Einen erheblichen Anteil daran haben seine Begleitmusiker, die seine Ideen kongenial umzusetzen vermögen.
Maurenbrecher fabuliert und philosophiert, oft über die unbequemeren Gefühle, die uns täglich begleiten, gibt Zustandsbeschreibungen von Ohnmacht gegenüber der Absurdität des alltäglichen Tuns („Hoffnung für alle“), artikuliert Ängste und Sehnsüchte („Sonntag“) oder auch staunende Wut („Bad Bank“ / „Agit-Prop 08“). Er mokiert sich über das hirnlose Machotum des SUV-Fahrers („Off-Roader“) oder überrascht mit einem wunderschönen Stück über eine Liebe, die nicht vergangen ist („Die schwarze Katze“). Und das alles kommt sehr authentisch rüber, da teilt sich ein Mensch mit, lässt uns an seinem Denken und Fühlen Teil haben, als sei man ein Freund. Das ist anrührend und keine Sekunde langweilig. Ich wünsche dieser CD eine Menge aufmerksamer Zuhörer.
„Laway“ bedeutet als vielfältiger plattdeutscher Begriff Lärm, Aufstand, Streik, Feierabend, Arbeitsniederlegung. Man sagt heute noch: „Mach nicht so "n Laway!“ („Mach nicht so ein Trara!“). Die Deicharbeiter machten im 18. Jahrhundert Laway – sie streikten. Kein Wunder also, dass die Gruppe Laway zu ihrem 30. Gründungstag ihre neue CD Brood un Rosen nach einem Spruchband nannte, das Frauen 1912 bei einem Textilarbeiterstreik in Lawrence, Massachusetts/USA vor sich her trugen. Das gleichnamige Lied war in der Bundesrepublik mit deutschem Text vor Jahrzehnten innerhalb der Frauenbewegung oft zu hören.
Die 1979 in Jever gegründete Gruppe Laway bezeichnet ihre Musik selbst als modernen Folk. Man spielt traditionelle Volkslieder und Tanzmusik, singt von den Menschen am und auf dem Meer und von Kerlen, wie Klaus Störtebeker einer war. Laway schreiben aber auch kritische Texte, zum Beispiel über die Zerstörung der Umwelt. Die Gruppe wurde mehrmals mit Preisen ausgezeichnet. Anfang der Neunziger lag Laway eine Zeitlang auf Eis. Mit Jörg Fröse (ebenfalls bei der Gruppe Grenzgänger, die auch schon mehrfach in der Liederbestenliste vertreten war) als Neuzugang kam es 1996 zum Revival.
Zum besseren Verständnis der Lieder auf Laways neuer CD muss man wissen, dass Friesisch eine vom Aussterben bedrohte Gruppe von drei Sprachen ist, die zum nordseegermanischen Zweig der westgermanischen Sprachen gehört. Gesprochen wird es vor allem in den Niederlanden. Laway singen in Ostfriesisch. Das ist jedoch keine ostfriesische Sprache, sondern Plattdeutsch. Meine eigene Erfahrung zum Verstehen: Wenn ich mich auf den Klang der Sprache einlasse, dann begreife ich spielerisch den Inhalt des Textes, zumal er im Booklet phonetisch noch gut lesbar abgedruckt ist. Ich empfehle diese CD, weil die Gruppe mit Sorgfalt und Liebe ausgewählte anspruchsvolle Texte singt und die Klangfarbe ihrer Musik, gefühlvoll für das vielseitige Instrumentarium arrangiert, eine hochwertige Qualität besitzt. Da gibt"s keine Plattheiten im Ausdruck, und Flöte, Handharmonika, Concertina sowie Saxophon ergänzen Bratsche und übliche Saiteninstrumente. Geboten wird ein gut einstündiges Programm mit 18 harmonisch abgestimmten Titeln – Lieder jüdischer Komödianten, Couplets, aufmüpfige Frauengesänge, aber auch eine fromme Bachsche Psalmmelodie, Gesänge von der See, die nimmt und gibt, Gassenhauer, Arbeiterlieder, kurz: Heiteres, Besinnliches, auch Geschichtsträchtiges und Ohrwürmer, die es schon sind oder erst jetzt dazu werden.
Rainer Beutin hat einen langen Atem – und jetzt auch die zweite Luft. Drei Jahrzehnte nach dem Start mit seiner Charly Schreckschuss Band legt er in alter Frische und mit leicht renoviertem Bandnamen sein neuntes Album vor.
Im (eindrucksvoll und unaufdringlich, also) professionell gemachten Infofolder ist die Rede von einer „kompakten Werkschau“: Sieben der 19 Lieder sind neu oder neu eingespielt, neben Goldies aus den MGM/pläne- und Wundertüte-Produktionen der Achtziger und Neunzigerjahre („Hey min Seuten“, „Ach Luise“) findet man wetterfeste Ohrwürmer wie „„Avernakø““ und „„Jetzt küsst mi nur noch de Blues““ von Beutins CD „Ne Menge Leben“ (die ja hier 2007 zur CD des Monats gewählt worden ist).
Die musikalische Bandbreite dieser bis zur Bankenpleite aktualisierten Songsammlung wäre mit dem Begriff Americana schnell umschrieben, viel Blues also mit seinen diversen Kindern und Verwandten – Rock, Soul, Country, Cajun, Jive, Jump und Folk. „Ich schreibe einfach Lieder, das ist alles“, sagt Charlie Beutin aus Kleinkönigsförde. Seine ziemlich einsame Klasse entsteht, weil er ein großer Schnacker und Shouter ist, mal Howling Wolf, mal sentimentalischer Stier. Und weil er „eine seltene und schöne Mischung gefunden hat von verschiedenen musikalischen und sprachlichen Ausdrucksweisen, auf gut Deutsch und platt Dütsch“, so der Mainzer SWR1-Musikredakteur Christian Pfarr über das Album „Unerhört!“.
Bei Charly reimt sich Liebe auf Krise und auf Gedeckte Apfeltorte. Und ein roter BH is blowing in the wind.... Das war so: Wenn früher ein Seemann monatelang auf den Weltmeeren unterwegs war, soll es vorgekommen sein, dass sich die einsame Ehefrau daheim aus der Klemme half, indem sie Porzellanfiguren, z. B. kleine Hunde oder Katzen, als Signalgeber auf die Fensterbank stellte. Blickten sich die Tierchen gegenseitig an, hieß das: Mein Mann ist da. Schauten die Figuren beide nach draußen, war das das Zeichen für eine sturmfreie Bude. Diese Geschichte diente als Vorlage für „Platz im Himmelbett“, ein Lied, das schon regelmäßig im Kieler NDR1 gespielt wird und im August beim großen Wacken-Festival live zu hören sein wird.
Moral von der Geschichte: „Sowas kommt nicht ins Fernsehen, auch nicht ins Internet. Weht‘n roter Büstenhalter, ist Platz im Himmelbett“. Der Songtext stammt von Elfi Küster, einer erfahrenen, erfolgreichen Promoterin. Sie hat schon Stefan Gwildis, Annett Louisan und Roger Cicero über manche Medienbarriere hinweggeholfen. Warum sie sich jetzt stark macht für den „Geradeaus-Mann“ Charly Beutin? Weil sie Geschmack hat.
„Glauben‘s nur weil Sie saufen, dürfen‘s mich schon zitieren?“, singt das Duo Klemens Lendl und David Müller, Die Strottern also, auf dem neuen Album „I gabat ois“, auf das man immerhin satte fünf Jahre warten musste. Eine Zeitspanne, die für viele Bands quasi tödlich wäre, da zu groß die Änderungen im Musikbusiness mit diesem steten schneller gehen als kommen. Da bleibt eigentlich nicht viel Platz für so viel Schaffenspause. Aber gut, untätig waren die beiden ja beileibe nicht, nur halt Tonträgerveröffentlichungsfaul.
Aber jetzt. Zwölf Lieder fanden ihren Platz auf dem Silberling – Lieder, die nicht unbedingt am Wienerlied kleben, sondern sich durchaus ihre eigenen Schneisen schlagen, und nur deshalb immer wieder mit dieser urbanen Musikform in Verbindung gebracht werden, weil Die Strottern erstens nahe bei Wien leben und zweitens der Wiener Wehleidigkeit, dem Wiener Gemüt und vor allem den großen Wiener Themen (Liebe und Tod, Geld und Alkohol) eine Herberge in ihren Texten geben. Wenn Liebe, dann aber gar nicht mal grantelnd, sondern melancholisch, oder gleich im Segment der Hassliebe, wie im Lied „Linz“.
(Linz“ sollte das Album ursprünglich heißen, da aber Linz die Europäische Kulturhauptstadt 2009 ist und das Album erst 2009 fertig wurde, gaben die Strottern alles, damit das Album nicht „Linz“ heißt; Anm.).
Einige Gastmusiker aus der österreichischen Jazzszene erweitern das musikalische Spannungsfeld und geben den ausdrucksstarken Texten von Wilhelm Busch (ja, dem Busch!), Wolfgang Vincenz Wizlsperger (Kollegium Kalksburg), sowie von Peter Ahorner, Helga Utz und nicht zuletzt von Klemens Lendl, die notwendige Prise, um den Wienerliedtraditionen ein Gegenwartsschnippchen zu schlagen. Herausragend sicherlich „Grüß Gott, ich bin das Wienerlied“ zur quasi Ehrenrettung desselben, die Bush-Vertonung „Zehn Guidn“, sowie Ahorners Geschichte über den Tod und sein Kind („Dod und Dodal“). Ein Album, das locker die nächsten fünf Jahre standhält. Erfreulich: Die Strottern hielten sich auf Trab und veröffentlichten gemeinsam mit der Jazzwerkstatt Wien bereits das nächste Album. Titel: „Elegant“.
Können Pfarrer Liedermacher werden? Ja. Hört man dies den Liedern dann an? Nein. Sind Mundartliedermacher immer nur in ihrer Region erfolgreich? Ja. Sagt das etwas über ihre Qualität? Nein.
Wolfgang Buck singt Fränkisch. 14 Jahre lang war er evangelischer Pfarrer in einem Dorf bei Bamberg, spielte Gitarre, textete, trat auf – damals noch „nebenbei“, bis er das Liedermachen zum Vollzeitberuf machte. Das jetzt erschienene Album ist sein neuntes: Asu wird des nix, wobei man das „asu“ wohl übersetzt mit „Na so (wird das nichts)“. Ein Kommentar, den sich Klein-Wolfgang als Kind im Dorf anhören musste, wenn er zum Beispiel mal wieder „dumma Frohng“ stellte. Vor dem Titelsong „Asu wird des nix“ macht Buck mit dem Lied „Old“ auf: „Man ist so weich, wie man sich spült ... man ist so falsch, wie man sich spielt ... doch nicht so jung, wie man sich fühlt.“ Ein Ansingen gegen dumme Weisheiten. Oder (auf Take 3): „Wenn die Party vorbei ist, fließt der Golfstrom anders rum.“ Kriegt das jemand noch knapper hin?
Bucks Texte sind witzig im ursprünglichen Sinn, d. h. geistreich. Der fränkische Dialekt gibt Bucks Geschichten und Ansichten eine doppelte Bodenhaftung. Inhalt plus Form sind geerdet. Der Dialekt erzählt etwas über die Menschen, die ihn sprechen, Nuancen lassen sich heraushören: das Fränkische scheint immer etwas weicher zu sein als ein weiches Bayerisch, immer einen Tick zurückhaltender als ein babbeliges Hessisch, ein frankisches „glügg“ zerbrechlicher als ein schwäbisches „glick“.
Der Vorteil mundartlicher Bodenhaftung ist zugleich ihr Nachteil. Verstehen können wir in diesen Lieder (fast) alles, aber wenn es ums Einfühlen in Sprache, ums Erwärmen und Begeistern geht, dann ist die Haftung für uns Hörer dort am stärksten, wo wir selber unseren Boden haben oder hatten, der eine im Norden, der andere in Franken, der dritte in Leipzig. Das ist nun mal so. Und warum sei jetzt das Album eines Franken auch allen Nicht-Franken empfohlen? Weil Wolfgang Buck Musik macht, die etwas zu sagen hat. Wir hören ja auch Weltmusik aus dem Kongo oder aus Malaysia, deren Sprache wir überhaupt nicht verstehen und trotzdem verstehen. Hier isses irgendwie umgekehrt. Oder genauso?
Diese Empfehlung mag manch einen überraschen. Die 17 Hippies – eine Weltmusikband im besten Sinne des Wortes als besondere Empfehlung der Liederbestenliste!?
Tatsächlich gibt es auf dem neuen Album der Berliner Band nur zwei Lieder mit deutschem Text, dazu ein Text in süd-hessischem Dialekt sowie Songs, Tänze und sogar ein französisches Chanson. Aber vielleicht ist es gerade dieses abwechslungsreiche und nie beliebige Spiel mit Musikstilen und Sprachen, das diese CD besonders empfehlenswert macht. In jedem Stück ist Musizier- und Lebensfreude zu spüren. Selbst wenn leise und nachdenkliche Töne angeschlagen werden.
Aber los geht es mit orientalisch gefärbter Countrymusik. Im Opener „Uz“ wird uns gleich gesagt, dass wir uns bewegen, unsern Hintern hoch bekommen sollen. Lass dich nur ja nicht verarschen, soll Uz wohl bedeuten. Aber das muss man als Nicht-Südhesse im Booklet nachlesen. Denn wohl nur die langjährigen Bewohner dieses Landstriches dürften den Text rein akustisch verstehen.
Anders beim nachfolgenden „Adieu“. Ein sanft gesungenes Lebewohl, das anrührt ohne auch nur einen Moment kitschig zu klingen. Danach erklingt Cajun mit Gitarre, Banjo, Bläsern und Akkordeon bevor uns eine Klarinette im Instrumentalstück „La Zona drom“ in eine Klezmer-Atmosphäre versetzt, die bald den Balkan mit Bollywood zu vereinen scheint.
Und weiter geht die Reise nach Mexiko, Moldavien, Kuba oder Rumänien. Die 17 Hippies begeistern sicher nicht nur wegen des fast klassischen Chansons „Solitaire“ seit Jahren auch das Publikum im französischen Sprachraum. Übrigens Solitaire ist das hier als Patience bekannte Kartenspiel, bei dem in diesem Fall die Herzdame am Ende ihren Pikkönig findet. Die Einsame (Solitaire) kommt mit Geduld (Patience) an ihr Ziel.
Doch schon geht es mit Humor weiter im nächsten deutschsprachigen Lied „Stern am Ende der Welt“. Aus dem Zimmer im Berliner Hinterhof zieht es den Sänger in die weite Welt. Lass die Leinen los und begleiten wir die 13 Musiker(innen) der 17 Hippies. Die Reise lohnt sich.
Was kommt heraus, wenn eine deutsche Sängerin sich nach Brasilien begibt, um dort mit bekannten Namen der Szene wie beispielsweise Chico César ein Album zu produzieren? Pseudo-Brasilianisches, peinlicher Deutsch-Samba? Nicht mit Dota Kehr, die auch heiße Themen auf Betriebstemperatur hinunter singt, kühl überlegt beschreibt, kaum kommentiert, aber so schillernd akustisch malt, dass dem Zuhörer die Ohren aufgehen. Dota Kehr beweist mit Schall und Schatten wieder einmal, dass sie Worte nicht nur genau und wirkungsvoll setzen und klingen lassen kann, sie beherrscht auch die gesamte Klaviatur der Stimmungsbeschreibungen: Von übermütig quirlig bis traurig- tröstlich.
Ausgerechnet das Lied mit dem Titel „Zum Glück“ quirlt aber nicht über, sondern gestaltet sich fast unterkühlt- analytisch; „Kein Morgen“, das ein graues Szenario malt, klingt dagegen temperamentvoll rhythmisch. Neben ihrem musikalischen und poetischen Talenten besitzt Dota die Fähigkeit, Erwartungen nicht zu erfüllen, dadurch immer neue Spannung entstehen zu lassen – und vor allem auch: sich wohltuend abzuheben von den flüsternaiven Singegirlies, die zur Zeit mit großaugigen Stimmchen den deutschen Liedmarkt überfluten.
Was eigentlich kann man unternehmen, um zu sehen was los ist? Zeitungen, Fernsehen, Internet? Nein, das ist längst nicht mehr ausreichend. Gut also, dass es eine neue Kunstgattung gibt: Augenlieder. Das sind Lieder, die einem die Augen öffnen und die man manchmal sogar sehen kann. Auch solche, die einen hinter die Dinge blicken lassen. Und manches ins Blickfeld rücken, was es so vermeintlich gar nicht gibt. Vielleicht auch, dass man dem einen oder anderen eines davon aufs Auge drücken sollte.
Jeder Mensch, der noch einige seiner sieben Sinne zusammen hat, sollte diese Lieder kennen. Das lohnt schon allein deshalb, weil der Sänger und Autor Stellmäcke sowohl das Blicken wie auch das Hören in wunderbar poetischer Weise ermöglicht. Da schreibt und singt einer Texte, die noch wirkliche Poesie sind, die noch richtige Bilder haben, die einen mitnehmen, wohin auch immer! Da macht das Zuhören selbst mit geschlossenen Augen Spaß, wohl auch dank der Musik, die sich souverän zwischen Jazz, Folk und Rock bewegt.
Michael Marx ist einer der kreativsten Köpfe der saarländischen Musikszene. Als vielseitiger Instrumental- und Vokalsolist sowie als Komponist spielt er eine prägende Rolle in verschiedenen Ensembles der Region. Am bekanntesten und erfolgreichsten: seine Formation Marx Rootschilt Tillermann, die sich vor allem in ihren Anfängen in den Siebzigerjahren der Musik der Woodstock-Klassiker Crosby, Stills, Nash & Young widmete, aber auch schon bald eigene deutschsprachige Songs im Westcoaststil zu ihrem Markenzeichen machte.
Das jüngste musikalische Projekt von Michael Marx & Co heißt Lieder der Poesie 2. Das sind neu vertonte Gedichte von Hermann Hesse, Joseph von Eichendorff , Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Joachim Ringelnatz, Erich Mühsam, Hugo von Hofmannsthal u. a., interpretiert von Amby Schillo (Gesang, Perkussion, Cello, Bass, Gitarre), Nino Deda (Gesang, Akkordeon) und Michael Marx (Gesang, Gitarre, Duduk, Bass). Von Marx und Deda stammen auch die Kompositionen. Dieses Ensemble existiert seit Anfang 2006. Im selben Jahr ist die erste Lieder der Poesie-CD des Trios erschienen. Seit kurzem gibt es die zweite Folge, deren Gedichtauswahl – von Hermann Hesses „Stufen“ bis zu den Nonsens-Versen „Dunkel war‘s, der Mond schien helle“ – wieder die ganze Bandbreite des „Hausschatzes“ deutscher Lyrik umfasst.
Marx und seinen Mitstreitern – hervorragend der albanische Akkordeon-Virtuose Nino Deda – gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, den ausgewählten Lyrik-Klassikern eine unerwartet moderne und dennoch vertraut klingende musikalische Form zu geben. Es ist in der Tat verblüffend zu hören, wie sich ein bekanntes Heine- oder Rilke-Gedicht (zum Beispiel „Belsazar“ oder „Herbsttag“), das man als traditionelles Rezitations-Opus im Ohr hat, hier scheinbar ganz leicht und wie von selbst in ein Lied und damit in ein musikalisches Kunstwerk verwandelt. Wann hätte sich Rilkes „Karussell“ rhythmisch und melodisch jemals kongenialer gedreht als hier? Und wann hätte man den „Revoluzzer“ von Erich Mühsam jemals swingen gehört?
Filigrane dreistimmige Chorsätze und eine entsprechend klare und präzise Instrumentierung mit überraschenden Effekten, hauptsächlich getragen von akustischen Gitarren, Akkordeon und Perkussionsinstrumenten im Wechsel mit Cello und Bass – das alles macht den besonderen „lyrischen“ Klang dieser Neuvertonungen aus. Das Gelingen des Projekts „Lieder der Poesie“ ist letztlich aber auch einem anderen wichtigen Faktor zu verdanken: der hohen künstlerischen Sensibilität, mit der sich die Musiker den berühmten Gedicht-Texten genähert haben. Das gilt für Marx und Deda, die beiden Komponisten des Trios, und in gleichem Maß für Schillo, den exzellenten Dritten im Bunde. So wie die drei vokal und instrumental ganz wunderbar miteinander harmonieren, so zeichnen sie auch gemeinsam für die kunstvollen Arrangements verantwortlich.
Ursprünglich wollte ich mich an dieser Stelle näher befassen mit dem Duisburger Danny Dziuk und seinen lakonischen Litaneien, bevölkert von bizarren Typen und abenteuerlichen Gedanken-Purzelbäumen. Doch Fakt ist: Andere sind mir zuvorgekommen. Die geschätzten Jurykollegen haben bereits im Dezember das aromareiche neue Song-Mahl Freche Tattoos auf blutjungen Bankiers von Dannys Band Dziuks Küche goutiert, für gut befunden und in demokratischer Abstimmung zur CD des Monats gekürt. Dem ist nichts hinzuzufügen, und so möchte ich diese Rubrik anderweitig nutzen – nämlich um auf einen Mann aufmerksam zu machen, dessen neuestes Musik-Menü ebenfalls vorzüglich mundet. Ich meine Achim Reichel mit Michels Gold, das schon im goldenen Frühherbst ‘08 veröffentlicht wurde, aber sein Zuspruchs-Potenzial sicher noch nicht voll ausgeschöpft hat.
Der Hamburger Reichel hat vieles ausprobiert – er war Beat-Boy, kosmischer Pionier, singender Literaturagent –, doch als Interpret von „Volxliedern“, wie er es nennt, scheint er endgültig bei sich angekommen. Sein Rezept, seit den Tagen der Regenballade (1978) stets verfeinert, ist dabei recht schlicht: regionale Zutaten, Überliefertes aus Omas (Text-)Küche, die Zubereitung mit moderner Technik. Diesen Spagat haben schon andere gewagt – und sind meist kläglich gescheitert. Reichel aber hält die Balance zwischen Tradition bewahren und Neues suchen, weil er die Perspektive im Grunde umkehrt: die Errungenschaften der Moderne bewahren und die Überlieferung entdecken. So startet er seine Zeitreise als einer, der das zeitgenössische Sound-Repertoire mühelos abrufen und variieren kann und so ganz lässig abtaucht in vergangene Kunstsphären, die doch eigentlich sehr volkstümliche sind.
Toll, was er da ausgegraben und teils mit eigenen, teils mit altehrwürdigen Melodien garniert hat: teutonische Poesie aus früheren Jahrhunderten, vom romantischen Vers bis zur dramatischen Ballade, kündend von Abenteurer-Übermut, Natursehnsucht, Liebesschmerz und Todesahnung, all das gekonnt vorgetragen mit gleich viel Pathos und augenzwinkernder Distanz. „Der Goldrausch“, eine Moritat von Ferdinand Avenarius (1856-1923) über den Fluch der maßlosen Gier, aufgenommen vor der Finanzkrise, besitzt beklemmende Aktualität. Und wenn der Hamburger Jung aus Hoffmann von Fallerslebens „Ich hab die Nacht geträumet“ den „Blues vom schweren Traum“ formt, wenn er Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ in die Mitternachts-Jazzballade „Meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“ verwandelt, ist er in bester Form – wie seine Band um Ex-Ougenweide Frank Wulff, die saftige, bodenständige, zugleich raffiniert abgeschmeckte Klänge zwischen Folk, Rock, Jazz, Soul und Blues serviert. Als Volkssänger – das macht Achim Reichel deutlich – muss man weder im Zillertal geboren noch durch die Schule der Burg Waldeck gegangen sein. Und das ist gut so.