Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.
Zuhause-Sein, biographisch und als Künstler - das war auch bei Helmut Debus nicht einfach. Auch dort, wo er aufwuchs in den 50er Jahren, in Brake an der Unterweser, klang "Heimat" immer bloß nach Schützenfest; in einer der Kapellen, die im Festzelt lärmte alle Jahre wieder, hat er die Trommel bearbeitet, mit sicher auch therapeutischem Effekt. Nicht, dass die allgegenwärtige Tümlichkeit des Volkes prinzipiell und immer abschrecken würde - aber speziell mit dem typisch deutsch-barbarischen Unterton des kriegerischen vorigen Jahrhunderts im Ohr konnte sich ein junger Mensch schon eine Menge Frust von der Seele trommeln. Helmut Debus, mittlerweile 73 Jahre alt, war zugleich ab etwa 1964 allerdings auch schon Schlagzeuger bei den "Madmen", der "ersten Rock-Band in Brake".
Dabei ist es dann zum Glück nicht geblieben.
Als Anti-Depressivum gegen allzu viel Brauchtum hat Helmut Debus sehr bald und sehr konsequent auf die Sprache gesetzt, aufs Plattdeutsche der heimischen Region. "Angst legg di slapen" hat er jetzt die jüngste CD-Produktion überschrieben, auf der er in regionalem Plstt Geschichten erzählt, die voll sind vom widerständiger Energie, wie sie der Zweit- oder gar Fremdsprache nun mal innewohnt - "op Platt" spricht und singt es sich wirklich anders als im gut funktionierenden, immer irgendwie geglätteten, abgeschliffenen Alltags-Schnack. Die Küste und die Künste passen gut zueinander, und ein Fluss wie der, an dem Helmut Debus lebt, ist halt aus Prinzip und immerzu in Bewegung.
Ein bisschen wie Medizin wirken übrigens auch Titel und Titel-Song der neuen Produktion (die beim kleinen Bremer Fuego-Label erschienen ist) - die derzeit wieder so allgegenwärtige Angst soll sich gefälligst mal schlafen legen und die Menschen bitte in Ruhe wach sein lassen, aufgeweckt und neue Ziele immer mutig im Visier. Aber auch sonst spricht die Platt-Poesie die Hörerin und den Hörer schon aus den Überschriften an - der Mond "över Manhattan" heißt hier "Maand", Tun und Lassen sind "Doon un Laten", das Niemandsland ist englisch-platt gemischt "noweer", die Nacht "hett söben Oogen", und "Steern", die Sterne, leuchten auf hoher See - "up hoge See". Wer immer Lust bekommt, sich auf diesen Sprach-Sound einzulassen, darf sich großer Emotionen absolut sicher sein.
Zudem ist dieser Helmut Debus ein Rauner; der Leonard Cohen von Brake sozusagen - der dunkle Ton wirkt wie ein starker Sog, und mit ihm gewinnt und entfesselt plattdeutsche Poesie in diesen Liedern die passende Energie für letzte Fragen und vorletzte Dinge. So lohnt es sich zu singen - für Helmut Debus und das ebenso sparsam wie fabelhaft sortierte Ensemble, und erst recht für uns, die wir Helmut Debus gern folgen wollen, von Brake aus in die Welt und wieder zurück: in die Heimat am Fluss.
Weitere Informatrionen:
"Angst legg die slapen" mit Helmut Debus & Band
Fuego 3396-22
Ein überraschendes Debut kommt aus Österreich: Seit sieben Jahren steht Louisa Specht mit unterschiedlichen Bands auf der Bühne und präsentiert jetzt mit "Karussell" ihr Debutalbum im dezenten warmen Rot. Und dieses Layout ist Programm: Die fünf Songs sind fein arrangiert, poetisch getextet und von Louisas Stimme sympathisch und natürlich getragen. Sie singt, spielt Gitarre und Klavier und wird von Lukas Plankenbichler (Gitarre), Paola Garcia Sobreira (Kontrabass), Alexander Hewlett (Percussion) und Jörg Ulrich Krah (Cello) begleitet. Für die Backing Vocals ist Lisa Hofstätter zuständig.
Mit dieser Unplugged-Combo ist ein weitgehend akustischer Sound entstanden, der ihre Texte, die sie "Tagebucheinträge" nennt und die von den Verwirrungen, Zweifeln und Träumen einer jungen Frau erzählen, bestens untermalt. Da hat sie mal zu tief ins Glas geschaut ("Betrunken") oder philosophiert in "Sommer" über die verrinnende Zeit: "Wenn meine Gedanken Sommer regnen, graue Filme sich stumm begegnen, sag ich dir, die Zeit läuft neben mir, doch ich lauf weg von ihr."
Haraus wird dann allerdings kein Lamento, sondern eine heitere Up-Tempo-Nummer im Bossa-Nova-Stil. Auch im Titelsong "Karussell" dreht sich zwar die Beziehungswelt im Kreis, musikalisch zieht die Band aber rasch das Tempo an und verbreitet Fröhlichkeit statt Depression. In "Zirkus" schließlich greift Louisa Specht über das Private hinaus und wirft einen ironischen Blick auf globale Abhängigkeiten. Diese kleinen, in Pop-Chansons verpackte Geschichten kommen in lässigem Ernst und vor allem unverkrampft ins Ohr - eine wirklich reife Leistung für die erst 25jährige Künstlerin. Aufgewachsen in einem musikalischen Elternhaus, spielte Louisa Specht als Kind zunächst Geige und begann mit 12 mit Klavier- und Gesangsunterricht, es folgte ein Bachelor of Arts in Jazz und Pop und die Aufnahme in Konstantin Weckers Label "Sturm und Klang", bei dem dieses hörenswerte Debut gerade herauskam.
Weitere Informationen unter www.sturm-und-klang.de
Überraschung im Briefkasten. Was ist das für ein Album? Die Band nennt sich "das schottische prinzip", der Titel der CD ist "jolly". Schaut uns auf dem Cover der Jolly an? Keine Ahnung. Wenn ja, dann ist der Jolly eine Mischung aus Pinocchio (die Nase), Harlekin (die Schuhe), Schotte in modernem Outfit (die karierte Kleidung) und auch noch eine siebenarmige Spielzeugfigur, deren Arme in Flugbewegung nach links, rechts und unten zeigen.
Gleich vorweg, mit Schottland hat die Band vordergründig wohl nichts zu tun. Es ist ein Quartett von vier Wiener Musikerinnen, die sich 2020 übers Internet kennengelernt haben. Wie wäre es in jenem Jahr auch anders möglich gewesen? Über allem steht oder schwebt die Stimme von Julia Reißner, immer etwas angeraut und erfrischend einnehmend. Die Sängerin und Multiinstrumentalistin spielt neben Gitarren und Keyboards auch noch Saxophon. Reißner hat alle Texte und Musiken geschrieben. Ihre Mitmusikerinnen sind Jana Mitrovic (Bass), Victoria Mezovsky (Gitarren) und Petra Fraißl (Drums). Ihre Musik ist feinste Popmusik, ab und zu ein kleiner rotzig-rockiger Ausflug wie im Schlusssong "shfd", aber auch Chanson-Ansätze sind zu vernehmen, ohne je anbiedernd zu sein, oftmals an die 1970er Jahre erinnernd. Aber nicht nur die Musik lässt aufhorchen, sondern ebenso die Texte. 10 Lieder, die zum Nachdenken anregen und dabei eine wundersame Verbindung von Alltagssituation und philosophischem Hintersinn ergeben. In "anders wär" geht es mit "und die socken liegen am boden und die taten auf dem tisch, ich verwend einfachste sprache und du verstehst mich trotzdem nicht" gleich stark los.
Ein Lied über "dialektisches gewinnen" zu schreiben, und darin neben anderen Gramsci, Adorno oder Hegel erwähnen, da muss man auch erstmal draufkommen. Dann heißt es ohne dozierenden Unterton "angst vor dem leben ist nur angst vor der wahl schleich dich doch von hinten ran versuch dich zu erinnern alles verlorene ergibt sich aus gewinnen". Im Booklet auch ganz ohne Kommata und in Kleinschrift abgedruckt.
Bleibt die Frage: Was ist jetzt ein jolly? Im Lied gleichen Titels ist er ebenso ein lolli, ein trolli, ein molly. Weiteres ist unserer Phantasie überlassen.
Weitere Informationen unter www.badermolden.com
Puh! Ein Paket mit 45 kraftvollen Stücken auf drei CDs, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Es funktioniert, die Menschen hören Ihnen zu! Gut so!
Die "Zollhausboys" sind Ismaeel Foustok, Azad Kour und Shvan Sheiko, die Berliner Sängerin sowie Pianistin Selin Demirkan, der Musiker Thomas Krizsan und Kabarettist Pago Balke. Sie bringen eine Dokumentation per Liedermacherkunst, Kabarett sowie Poetry es auf den Punkt – auf die Bühne – und nun auch auf drei CDs in Ihre Wohnzimmer! Zwei Programme aus den letzten Jahren sowie das aktuelle Bühnenprogramm sind auf den CDs zu finden.
Seit 2017 läuft nun schon das Projekt. Man hätte denken können, dass es nur eine kurze Saison dauern könnte. Aber hier wurden wir alle mal wieder eines Besseren belehrt. Qualität kann sich doch durchsetzen! Wenn da nicht Kulturleben gelebt wird? In Bremen zu Hause, die Heimat ist Deutschland. Sie sind hier, um sich zu beteiligen; Die Diskussionen werden geradezu magisch angezogen - und so soll es sein - in einem Land der Meinungsfreiheit und Vielfalt in einer Gesellschaft, die sich gegenseitig mit Würde und Respekt begegnen soll. Danke. Hören Sie rein.
Weitere Informationen unter www.zollhausboys.de
Man könnte sagen: Dies wäre ein nettes Geburtstagsgeschenk für ihn gewesen – Christof Stählin, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre.
Für viele Künstler war er nicht nur Lehrmeister, sondern auch Freund und Weggefährte, wie man dem sehr sorgsam aufbereiteten Booklet des im Buschfunk Musikverlag veröffentlichten Albums entnehmen kann. Wie hat mir mal ein befreundeter Musiker gesagt, als ich ihn fragte, ob ich denn auch seine Lieder singen darf - aber ja doch, die Lieder sollen doch in die Welt getragen werden. Das hat sich mit Sicherheit auch Christof Stählin gewünscht.
Allemal ist mit dem vorliegenden Album eine gute Würdigung des Schaffens von Stählin gelungen, an der sich namhafte Künstler wie beispielsweise Joana, Barbara Thalheim, Reinhard Mey, Thomas Felder und Manfred Maurenbrecher beteiligt haben.
Im Booklet gibt es eine kleine Einführung von Holger Saarmann über die Idee zur Bewahrung des Erbes und über die Schaffensetappen von Christof Stählin.
So kann ich das Album nicht nur den Liebhabern guter Musik, sondern auch all denjenigen wärmstens empfehlen, die sich für das Wirken von Stählin interessieren. Es ist eigentlich auch ein ergänzendes "Muss" zu der bei Text und Ton Records / Brokensilence in 2013 bereits erschienen Veröffentlichung "Die Versammlung Der Inseln (SAGO singt Stählin)". Auf dieser CD sind Künstler zu hören, die ebenfalls bei Christof Stählin in die Lehre gegangen oder mit ihm bis heute eng verbunden sind.
Weitere Informationen unter verlag.buschfunk.com
Knapp über 40 Jahre ist er nun schon mit seiner Gitarre unterwegs – der Sandy Wolfrum aus Bayreuth und kann sicherlich einiges über seine vielen Konzerte berichten.
Die am 28.12.2021 erschienene CD "Diese Sucht heißt Leben" bietet einen kleinen wohlgeformten Überblick über Sandy’s künstlerisches Schaffen – 40 Jahre: Noch immer unterwegs.
Kenner des Künstlers werden einige Stücke wiederentdecken. Auf der CD sind auch neue Live-Mitschnitte und ebenso neue Songs, wie "Labyrinth" oder "Hymne 20/21" zu hören.
Sandy ist aber nicht nur allein aufgetreten, sondern war ebenso mit der Band Feelsaitig auf Tour oder bestritt gemeinsam mit anderen Künstlern Konzerte. Zu seinem Schaffen zählt auch die Beteiligung an musikalischen Projekten. Aus einem solchen ging beispielsweise die 2006 erschienene CD "Donaumusik" hervor.
So geht es mit dem Album eingangs dann gleich rockig mit dem Song "Nach all den Jahren" los.
Wer Sandy Wolfrum einmal live erlebt hat, weiß, dass es Spaß macht, ihm zuzuhören. So kann man beispielsweise bei "Napoleons Frühstücksei" ebenso wie bei dem Song "Bayreuth, Bayreuth" oder "Ma muss ned immer irgenwos song" ins Schmunzeln geraten, um nur einige der auf der CD zu hörenden Stücke herauszugreifen. Und Liebhaber der fränkischen Mundart kommen natürlich voll auf ihre Kosten.
Interessant ist dieses Jubiläumsalbum auch deshalb, weil Sandy in Bezug auf sein künstlerisches Schaffen zwischen den einzelnen Stücken hin und wieder durch eingestreute Ausschnitte aus Radiosendungen und Interviews selbst zu Wort kommt.
Rund herum ist das Album aus Sicht des Verfassers eine gelungene Hommage an sein musikalisches Wirken und daher sehr empfehlenswert. Vielleicht regt es den einen oder anderen Zuhörer, dem Sandy Wolfrum und seine Musik bisher verborgen blieb, dazu an, sich das Schaffen des Künstlers einmal etwas näher anzusehen.
Weitere Informationen unter INTRATON Musikverlag www.intraton.de und www.sandywolfrum.de
"Herr Horst" ist eine Band. Klingt komisch. Ist aber so. "Herr Horst": Das sind vier Musiker aus Berlin, Potsdam und Dresden, die in der jetzigen Besetzung kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie – auch live – so richtig durchstarten wollten. Warum das in den letzten gut zwei Jahren nicht wirklich ging, dürfte klar sein…
Ja, dann eben jetzt! Denn seit Anfang März 2022 gibt es mit dem dritten Album "SEE YOU SPÄTER!" den nächsten Versuch von – und hier in Persona – Herr Horst (Gitarren, Gesang, Texte, Kompositionen), Moritz Peter Gläser (Bass, Produktion), Jürgen Schötz (Drums) und Andreas Krug (Tasten).
"Wir machen fröhlich-ernste, skurrile Musik" schreibt Herr Horst. Und der Slogan allgemein lautet: "Musikalisches Latein für alle." Ich denke, schon nach diesen wenigen Anmerkungen ist klar: Herr Horst, der Protagonist, dem "alle Texte und Töne" beim – wie er betont – Laufen einfallen, ist Jemand, der gern und viel mit Worten spielt. Ein Wort-Akrobat, wie ich ihn immer nenne. Und zwar einer, der sich so "mit vielen spielerischen Bezügen in die Abgründe der Kulturgeschichte und des Lebens" begibt. Von Hause aus ist er übrigens Ingenieur …
"Lyrische Wortgewalten, eingepackt in ein punkig-rockiges Skagewand. Herr Horst segelt jenseits des Zeitgeistes in den spöttischen Sprachuniversen." steht auf der website. Und Herr Horst, der zwar in Leipzig geboren, aber "mit 0 nach Berlin verschleppt wurde", sagt in lupenreinem Berliner Tonfall: "Ick bin schon immer Lyriker und schon immer Musiker". Herr Horst kann – außer beim Singen – gar nicht nicht "berlinern", glaube ich.
Auf "SEE YOU SPÄTER!" finden sich zehn Songs, die – bei genauerem Hinhören – musikalisch wohltuend differenziert daherkommen: Mal geht’s heftig zur Sache, aber auch leise Töne fehlen nicht. Der Ohrwurm "Kaugummi kaun in Downtown" steht am Anfang. In den beiden folgenden Songs: "Gewese" und "Mach dich schön" geht&squot;s um das Leben in totalitären Systemen und "ein paar Vorschläge, wie man damit vielleicht trotzdem umgehen kann". Die erste Auskopplung des neuen Albums heißt "Viren": ein in der Corona-Pandemie entstandener Song, mag man meinen. Ist aber nicht so. Denn der Text ist viel älter und "ein Gleichnis auf alles Schlechte in der Welt". Da scheint "Sodom und Gomorrha" folgerichtig. "Irren im Wirren" – so Herr Horst – "ist vielleicht Fontane 2.0"? Und "Mephisto" ein Klagelied von Faust in Richtung Mephisto. Während "Was kostet die Welt" wiederum – wie Herr Horst sagt – "eine Replik des Teufels an Mephisto ist". "Gute Laune unterm Schuh" scheint Herrn Horsts Grundhaltung im Leben zu beschreiben und "Mehr davon" ist zu guter Letzt "irgendwie typisch Herr Horst: messerscharfe Analyse und dann einige nützliche Handlungsempfehlungen".
Alles klar? Bitte unbedingt Zeit nehmen für mehrfaches Hören im Stream. Herr Horst empfiehlt: 7 x …
Weitere Infos auf http://www.herrhorst.de/ und im Podcast: https://lebendig-reden.de/petra-schwarz-im-gespraech-mit-herr-horst
Ich gestehe: Er war ein Held meiner Jugend, wie wohl für die meisten, die Anfang der 80er Jahre in der Pubertät waren: Völlig durchgeschwitzt grölte ich in der Kieler Ostseehalle mit bei "Hurra, hurra, die Schule brennt" oder "Flieger, grüß mir die Sonne", aufgepeitscht von den markigen Gitarrenriffs von Stefan Kleinkrieg. Aber dann endete der Boom deutschsprachiger Rockmusik ebenso plötzlich, wie er gekommen war. "Extrabreit" verschwanden zwar nicht in der Versenkung, aber doch von den Titelseiten. Doch auch ohne goldene Schallplatten machte Stefan Kleinkrieg weiter Musik – und was für welche. Ob mit seiner Band Extrabreit, die er 1978 gründete und die es Ende 2020 mit "Auf Ex" sogar wieder in die Charts schafften, oder als Solist wie auf seinem neuen Album: "Die Sonne scheint für alle". Ein nostalgisches Alterswerk, auf dem der 66jährige alle Register seines Könnens zieht und bei dem die Sonne der Inspiration in der Tat kräftig durchs Fenster des Hagener Plattenstudios geschienen hat, denn so hat man dieses Urvieh des Deutschrock noch nicht gehört: Zusammen mit seiner exzellenten jungen Band erfindet er sich musikalisch neu und bleibt doch ganz bei sich. "Ich tu nie wieder, als sei ich jung" singt er in Nie wieder jung – und klingt doch an keiner Stelle wie ein alter Mann. Da erzählt einer aus seinem Leben, der alle Höhen und Tiefen des Showgeschäfts erfahren hat und sich nichts mehr beweisen muss. Statt krachendem Rock `n` Roll überwiegen eher die leisen Töne: atmosphärisch dichte Balladen mit Akustikgitarre und Blues Harp. Von der Orgel bis zum Kontrabass reicht das Instrumentarium. Was nicht heißt, dass die E-Gitarre Hausverbot hätte. Doch die Klammer dieses beeindruckenden stilistischen Spektrums bildet zweifellos Kleinkriegs markante Stimme, bei der man Leonard Cohen zitieren möchte: "I was born with the gift of a golden voice". Sein von langjährigem Zigarettenkonsum geadeltes Bass-Timbre entfaltet einen magischen Sog, der einen durch die 15 kompakten, meist autobiographisch gefärbten Songs dieses Albums zieht. Nicht nur die Stimme, auch der lässig-lakonische Tonfall und die abgeklärten Pointen erinnern an Cohen. So ist der Song, der dem Album den Namen gibt, natürlich keinesfalls so kirchentagstauglich wie der Titel vermuten lässt: "Das Leben endet leider tödlich und das Schicksal ist ein Schwein. Die Sonne scheint für alle, sogar für dich und für mich. Willkommen in der Falle, der letzte löscht das Licht", heißt es da existentialistisch illusionslos im Refrain. Hätte sonst auch schlecht zum morbiden Coverfoto gepasst, auf dem eine verfallene Hagener Schraubenfabrik zu sehen ist, die von vergangener industrieller Größe zeugt. Auch das Album beschwört Hagens bessere Tage, als die Stadt noch ein Hotspot der deutschen Musikszene war mit Nena, Inga Humpe und den Ramblers.
Der Song Wilhelmsplatz erinnert etwa an die legendäre Kneipe "Bei Rainer" - seinerzeit Schauplatz von Sex, Drugs & Rock `n` Roll made in Hagen: "Alle sind heut Abend wieder da, als wär`s das letzte Mal". Im Opener Billiges Benzin lässt Kleinkrieg den Tournee-Alltag aus den Jahren fernab großer Hallen Revue passieren, als oft nur eine Hand voll Leute zum Konzert kamen, und resümiert: "Das hab ich so gewollt. Das ist mir mehr wert als Gold." Natürlich dürfen auch Liebesgeschichten nicht fehlen in Kleinkriegs musikalischer Lebensrückschau. Ob er in dem höchst witzigen Blues Erika über vertane Chancen sinniert, weil er bei der rothaarigen "Erika von der Antifa" nie landen konnte, oder ob er sich in Alte Liebe sarkastisch von einer gescheiterten Beziehung verabschiedet: "Es wäre schön, wenn es schön gewesen wär." Übrigens eine ganz und gar akustische Nummer, der ein rustikales Posaunensolo extravaganten Charme verleiht! Kleinkrieg gewährt auf dem Album durchaus intime Einsichten in sein Leben und doch hält er immer die Balance, seine Erfahrungen so zu formulieren, dass sie von allgemeinem Interesse sind und den Hörern Raum für eigene Assoziationen bieten. Als geerdeter Typ vom Rand des Ruhrgebiets verliert er sich nicht im Metaphern-Overkill, sondern redet geradeaus und ohne Scheu vor deftigen Formulierungen. "Positiv denken ist gar nicht so schwer, die anderen tun es doch auch – statt einfach Scheiße, sag schöne Scheiße", übt sich der Hagener in ironisch positiver Psychologie. Dabei kann man Kleinkriegs Kunst nicht genug loben, mit einfachen Worten starke Bilder und Stimmungen zu erzeugen. Besonders eindringlich gelingt ihm das in dem Titel Amphetamin, wo der Storyteller mit dunkel raunendem Sprechgesang Hippie-Flair heraufbeschwört: "Die Haare bis zum Arsch und Kiffen wie die Biber". Von Ferne lässt Georg Danzers "Tschick" grüßen. Trotzdem: So was muss man sich erstmal trauen! Der Flow der Erinnerung treibt Kleinkrieg auf eine Zeitreise tief in die eigene Jugend und die glorreichen Tage der frühen 80er Jahre: Die Telefonzelle ist wieder da. Ein Autoscooter weckt Jahrmarkt-Nostalgie. Und auch die einzige Coverversion des Albums, Kralle, stammt aus dieser Zeit: Kleinkrieg hat die Nummer über deutsche Sextouristen in Thailand einst zusammen mit Udo Lindenberg geschrieben für dessen Hit-Album "Odyssee". Jetzt haben die beiden Rollen getauscht: Kleinkrieg singt und Udo grüßt im Outro als Stimme auf dem Anrufbeantworter. So sehr dieser Langzeitüberlebende des Rock `n` Roll hier in seiner Vergangenheit wühlt, so frisch ist der Sound, den er sich auch dank seiner jungen Mitstreiter Christopher Heimer, Josh Huff und Jan Kölpin verpasst. So viel Herzblut und Liebe zum Detail steckt in diesen 15 griffigen Songjuwelen, von denen kaum einer über 4 Minuten dauert, dass man für die Pandemie ausnahmsweise mal dankbar sein muss: Ohne Auftrittsmöglichkeiten hatten die Beteiligten Zeit und Muße, an dem Werk zu feilen. Und das Land NRW half mit Künstlerstipendien bei der Finanzierung.
Weitere Informationen: www.premiumrecords.de und www.facebook.com/stefan.kleinkrieg
Christoph Bürgin ist 65 und kommt aus Schaffhausen (Schweiz) nahe der Grenze zu Deutschland. Er wurde Lehrer, dann Verlagsbuchhändler, lebte in Bern, New York, Heidelberg, Zürich und wieder Schaffhausen. Er macht seit Jahrzehnten Musik und spielte in den verschiedensten Folk und Folkrock Formationen. Seit einigen Jahren ist er auch als Liedermacher tätig. Er spielt Saiteninstrumente von Gitarren über die Bouzouki bis zum Appenzeller Hackbrett. Christoph Bürgin singt im Dialekt von Schaffhausen.
Was ihn als guten Liedermacher auszeichnet sind einerseits die Themen die er aufgreift und wie er sie aufgreift. An ein paar Lieder soll das erläutert werden. In «Bombs Away» erzählt er von der Bombardierung von Schaffhausen durch die Amerikaner am 1. April 1944. Damals kamen 40 Menschen ums Leben und mehrere hundert wurden teils schwer verletzt. Am 1. April läuten in Schaffhausen deswegen immer noch die Kirchenglocken. Ein Zeitzeuge hat Christoph Bürgin die Geschichte erzählt und er nimmt im Lied die Sicht von George Insley, dem letzten noch lebenden amerikanischen Piloten von der bombardierenden Fliegerstaffel auf. Am Schluss heißt es der Pilot sei zufrieden und froh und erhabe für die Opfer viel gebetet, wenn das nur genug ist.
Ein anderes Beispiel ist «D’Schrift a de Wand». Das Lied erzählt, dass in Genua an einer Wand der Text aus der Bibel (Sprüche 6,30) steht «Verachtet man nicht schon den Dieb, auch wenn er nur stiehlt, um den Bauch zu füllen, weil der Hunger ihn treibt», den Fabrizio De André in seinem Lied «Alla mia ora di libertà» singt. Die Schrift wurde von der Stadt schon oft ausgelöscht und immer wieder steht sie dort. Als letztes Beispiel «Chum mit, mir gönd uf Breme». Da geht es um das Märchen der Bremer Stadtmusikanten, welche vielleicht gar keine Tiere waren, sondern Menschen welche hart arbeiteten und dann entlassen wurden. Sie reisten nach Bremen oder anderen Häfen um nach Amerika zu migrieren. Sie machten Musik um das Geld für die Überfahrt aufzutreiben. Er erzählt von diesen Menschen vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Christoph Bürgin hat auch Kurse bei Sago absolviert und singt hier zwei seiner Lieder zu vorgegebenen Themen und zwei Lieder von Carl Michael Bellman in Schaffhauser Mundart. Migration, aber von Italienern in die Schweiz und ältere Menschen sind weitere Themen.
Elf Lieder sind auf dem Album zu hören. Die CD steckt in einem kleinen Büchlein, indem alle Texte sowohl in Mundart wie auch Deutsch abgedruckt sind, plus Erläuterungen in Deutsch. Dazu kommen noch Kurzgeschichten.
Christoph Bürgin singt in einer erzählenden und ruhigen Art und Weise und es macht Freude seinem Gesang und der tollen Folkmusik, bei der viele bekannte Musiker der Schweizer Musikszene mitgewirkt haben, zuzuhören.