Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.
„Walter Benjamin entlarvte den Kapitalismus seinerzeit als ‚Ästhetisierung der Politik‘. Als Reaktion auf die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Wut, hat der Faschismus nicht nach politischen Lösungen gesucht wie etwa nach einer gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, sondern die ‚Massen zu ihrem Ausdruck kommen lassen‘“, zitiert Konstantin Wecker den Philosophen, „und genau das, genau das passiert jetzt wieder, Willy.“ Der Titel »Willy 2018« ist erst der Auftakt auf seinem neuen Album »Sage Nein! - Antifaschistische Lieder 1978 bis heute«, doch schon hier lässt Wecker mit viel Wut, Kraft und Leidenschaft seinen Frust über die aktuelle politische Misere raus. Denn er habe Angst, „dass Europa faschistisch wird, das ist doch klar absehbar“ (Aachener Zeitung, 2. August 2018).
»Willy«, dieses bissige Lied machte den Münchner Liedermacher vor über 40 Jahren berühmt. Darin erzählt er die Geschichte seines Freundes, der mit Rechten aneinander gerät und von ihnen erschlagen wird. Heute singt er sein altes Lied neu, nicht nur deshalb ist es ist aktueller denn je. Weckers Antifaschismus zieht sich wie bei Franz Josef Degenhardt kontinuierlich wie ein roter Faden durch sein Werk. Scheint dieser bei anderen Künstlern (zumindest teilweise) Bestandteil des Selbstmarketings zu sein, bildet dieser für den heute 71-Jährigen nicht zuletzt durch das Vorbild seiner Eltern, Pazifisten und Antifaschisten, das Fundament seines Schaffens als Musiker, Komponisten und Autor.
Neben »Willy 2018« und der ersten Version dieses Kultliedes gibt es den neuen Song »Das Leben will lebendig sein« und Klassiker wie »Sage nein!«, »Vaterland«, »Die weiße Rose« und »Ich habe Angst«. Weckers Auswahl ist musikalisch sehr vielfältig. Neben Stücken, die er am Klavier und mit seiner Band spielt, gibt es mehrsprachige, weltmusikalisch anmutende Lieder (»Bella Ciao«), komplette Rockinstrumentarien (»Empört Euch«, »Das macht mir Mut«), Bluesharp (»Den Parolen keine Chance«) und Chorgesang (»Blümlein stehn am Waldessaum«). So ist das Album nicht "nur" für Wecker-Fans eine Empfehlung, sondern für alle, die von einer besseren Welt träumen, für die Solidarität kleine Floskel ist, die den Mut haben, nein zu sagen und Widerstand gegen den rechten, kapitalistischen Alptraum zu leisten.
„Diese CD ist nicht zum Geldverdienen gemacht“, so Konstantin Wecker. Das Album ist für zehn Euro erhältlich, davon wird ein Teil der antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München (a.i.d.a.) gespendet.
Mehr Informationen:
www.wecker.de
Wenn es ein deutsches Pendant zur Nouvelle-Chanson- und Swingcombo Zaz aus Paris geben würde, dann käme unbedingt Cynthia Nickschas und ihre Friends, ihre bunte fünfköpfige Band, in Frage. Denn auch hier bestimmt launiger Swing in bester Django-Reinhardt-Manier den Grundton, unterbrochen mal von eine folkgetränkten Ballade zum Finale (»Nein!«) oder einem Heavy-Rock-Gitarrenrif wie bei »Wie so oft«. Das Album der 30jährigen Ex-Straßenmusikerin bietet jede Menge überraschender Wendungen in der (im Refrain oft mehrstimmigen) Melodieführung, griffige Soli (Saxophon, Piano) mit viel Jazztouch, sorgfältige Arrangements und zum Teil abenteuerliche Gesangspassgen wie bei »Eigentlich«.
Dominant und charismatisch ist dabei Cynthia Nickschas rauchig-kratzige Stimme, die es vor allem schafft, Text und Musik zu einer Einheit zu verschmelzen. Der Text trägt die Musik – und umgekehrt, was für sich ein kleines Kunststück darstellt. Apropos Texte: Es werden hier keine gängigen romantisch-melancholischen Folklorebilder gezeichnet, sondern es geht um kluge Reflexionen und Ausbruchsversuche aus dem Gefüge der Realität. Darin einbezogen sind nicht nur die verwegenen Träume von einem entspannten Alltag in einem sommerlichen Griechenland oder in Holland am Strand, sondern vielmehr der Horizont einer sich selbst und andere beobachtenden Künstlerin inklusive des Lebens mit der Band auf Tour: „Musik ist meine Ruhe und Zuflucht“ heißt es im locker improvisierten Eröffnungsstück »Musik«, im Finale »Nein!« singt sie: „Fehlt mir Ruhe, hab ich Wut, tut Musik mir einfach gut.“ Klingt zunächst banal, findet sich aber in einem durchaus anspruchsvollen künstlerischen Kontext. Dass sich Cynthia Nickschas auch weit weg von gängigen Liedermacherinnenklischees bewegt, zeigen auch die mutige Ausflüge ins Umgangssprachliche, denn da ist etwas schon mal "krass" oder "megahart", auch Fresse, Scheiße oder Fuck findet durchaus Platz im Repertoire. Einmal spielt sie mit einem alten Juliane-Werding-Baustein („Wenn Du denkst, du denkst“ im Titel »Alles gleich Mensch«), formuliert hier aber keine betagte Schlagerweisheit über das Leben als Mädchen, sondern präsentiert einen Swing voller heiterer Verzweiflung, der in die Nachricht mündet: „Wie sind alle gewachsene kleine Kinder, die irgendwo irgendwen lieben.“ Egoschwein: Ein freches und erfrischendes Album. Zaz auf deutsch – Chapeau!
Mehr Informationen:
www.cynthiaandfriends.de
Bei dem Vornamen lag die Berufswahl wohl nahe: Wenn man schon Lennart heißt wie Leonard Cohen, ist die Songwriter-Karriere so gut wie vorgezeichnet. Erst recht, wenn man dazu noch so viele Pfunde in die Waagschale werfen kann wie Lennart Schilgen: Poesie und schrägen Humor, unwiderstehliche Ohrwürmer und sprachliche Virtuosität. Der 1988 geborene Berliner ist ein Könner auf der Gitarre ebenso wie auf dem Klavier. Vor allem beherrscht er die Kunst der Verblüffung und das Spiel mit den Erwartungen – ob er eine Songzeile mit den Worten beginnt: „Ich habe heute so viel vor“, um schließlich hinzuzufügen „mir her geschoben“ (»Liegenbleiben-Blues«) oder ob er mit heller, zarter Stimme das paradoxe Bekenntnis macht: „Ich bin Shouter in einer Black-Metal-Band“.
Schilgens Spektrum ist beträchtlich – ob thematisch oder musikalisch. Er singt über mehr oder weniger glückliche Beziehungen (eher letzteres), erzählt Geschichten von Losern und verhinderten Revolutionären oder gibt Tipps für Fußball-Fans. Epische Sechsminüter beherrscht er ebenso wie knackige Kurzsongs, die gern auch mal albern sein dürfen so wie sein Statement: „So lang du rauchst, pupse ich so viel ich mag“.
Mit seiner frischen Ausstrahlung erinnert Schilgen an den jungen Reinhard Mey, mit dem ihn ja auch die Heimatstadt Berlin verbindet. Unüberhörbar beeinflusst hat ihn außerdem die Rockmusik der 60er Jahre. Mit 15 gründete Schilgen die Band Tonträger, die bis heute existiert. Dort erarbeitete er sich sein stilistisches Repertoire, das von Blues bis zu mitreißendem Rockabilly reicht, und seine Fähigkeit, eingängige Melodien zu erfinden. Auch sein abgebrochenes Literaturstudium macht sich bemerkbar, wenn er »ottos mops« von Ernst Jandl in eigenen Variationen parodiert.
Aus gutem Grund hat Schilgen sein Debütalbum mit dem genial vieldeutigen Titel »Engelszungenbrecher« vor Publikum aufgenommen, denn der Sänger verfügt über erhebliche Entertainer-Qualitäten. Seine Schlagfertigkeit und sein Gespür für Pointen machen ihn zum Wanderer zwischen den Welten von von Liedermacherei und Comedy, wobei er nichts gemein hat mit der Substanzlosigkeit vieler "Nightwash"-Blödelbarden. In seinen feinsinnigen Texten bildet meist ein markanter Halbsatz, eine alltägliche Wendung wie „was mir fehlt“ oder „in der Hand“ den Ausgangspunkt für Strophen, die diesen Kern unterschiedlich beleuchten und in überraschende Zusammenhänge übertragen. Dabei hört man Schilgen an, dass er sein Handwerk ebenso wie Bodo Wartke oder Sebastian Krämer in Christoph Stählins Liedermacher-Schule SAGO gelernt hat. Im Unterschied zu Wartke allerdings verzichtet Schilgen auf politische Botschaften und Moralpredigten. Lieber frönt er seiner Liebe zum Absurden und zur Selbstironie. Wie wohltuend, dass da endlich mal einer dazu steht, dass er einfach ein gewitzter Unterhalter ist, der einen mitnimmt auf die Reisen seiner surrealen Phantasie – es muss ja nicht jeder politische Leitartikel vertonen!
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www.lennartschilgen.de
Endlich, nach sechs Jahren bringt Kai Degenhardt ein neues Album heraus. Das lange Warten hat sich gelohnt. Beim Familiennamen Degenhardt ist es sicher nicht einfach sich künstlerisch auch einen Vornamen zu erarbeiten. Sorry, der Schatten von Väterchen Franz ist allgegenwärtig, aber Kai gelingt es mit den elf Liedern durch seine Persönlichkeit seinen eigenen Platz als Liedermacher zu behaupten.
Kai Degenhardt ist mehr als ein toller Gitarrist, der auch über zwanzig Jahre bei Konzerten der Begleiter von Franz Josef Degenhardt war und den Klang dessen Lieder geprägt hat. Er bleibt ein einfühlsamer Musiker, der mit sparsam eingesetzten Mitteln großes Klangkino erzeugt, für jedes Lied den passenden Sound entwickelt.
Das Herausragende ist aber diese Verbindung von Wort und Musik. Wie er uns den Untergang der sich selbst Feiernden und nur auf sich Fixierten im »Imperial Grand Übersee« mit einer flockig lockeren Musikbegleitung, die an Südstaatenfolk erinnert, fast schon beiläufig erzählt. Oder im »Nachtlied vom Streik« auf die Entwicklung des Klassenkampfes hinsichtlich der globalen Zusammenhänge hinweist. Ganz anders in »Der Vorschlag«, einem in seiner Erzählform an gute Talking Blues Tradition erinnerndes Lied. Kai Degenhardt beherrscht die Bandbreite einer poetisch und dann doch direkt die Missstände benennenden Bildersprache, ohne je den belehrenden Zeigefinger zu erheben.
»Auf anderen Routen« ist bei weitem nicht nur ein politisches Album, es ist ebenso eine sehr persönliche Bilanz der letzten Jahre, gleich im einleitenden Titelstück, ein melancholisches aber nie in Selbstmitleid ergehendes Lied, das auch Hoffnung hinterlässt. »Die endlos lange Straße« ist Bilanz wie Aufruf zum Weitermachen, denn „Es ist ja auch schon zu spät um umzudrehen“. Zum Abschluss dann, mit »Hinter der Bühne«, steht eine bewegend schöne Hommage an Vater Franz-Josef.
Kai Degenhardt ist ein ehrlich humanistisches Album gelungen, dem man viele Hörer wünscht.
Mehr Informationen:
www.kai-degenhardt.de
Schon das erzromantisch-verspielte Cover mit einer rosa blühenden Magnolie deutet an, wohin die Reise auf diesem Album gehen soll: In die Innenwelt eines Künstlers, der auf seinem 4. Album mit 50 Jahren davon singt, dass jetzt die Pubertät langsam zu Ende gehen könnte und dass uns die Liebe auf Kurs hält. Damit auch dieses Versprechen in der häufig strapazierten Midlife-Crisis eingelöst werden kann, hatte Dirk Schelpmeier seine langjährige Duo Partnerin Natalie Plöger am Kontrabass bei den Aufnahmen im Berliner Studio dabei. Mir ihr bildet er auch das Live-Duo Schelpmeier & die Plögerette. Herausgekommen ist dabei ein Lovesong mit der Zeile: „Jeder Kuss hält uns auf Kurs, ob Sturm, ob Flaute oder Rückenwind, so lang wie wir zwei zusammen sind, was soll uns da passieren.“ Schelpmeier, der sich gerne als "Liederausdenker & Musikerfinder" bezeichnet und als Dozent für Fotografie (Schwerpunkt Musikerporträts, Covers) arbeitet, präsentiert sich als einfühlsamer Poet und lupenreiner Romantiker, der versucht, die Gefühls- und Stimmungslage der um 1965 Geborenen in Songs zu verwandeln. Universelles Thema dabei: Liebe, Beziehungsalltag, Ausbruchsversuche aus dem Gefüge der Realität.
So wird die Liebe, dieses intensive Band, gerne ironisch gebrochen (»Mein Mann« - ein Tango) und Schelpmeier schlüpft frech in die Frauenrolle, wenn es heißt: „Liebe bleib" mir vom Hals, weil du zu viel versprichst, was du nie hälst. Liebe du blöde Kuh, wegen dir nehm‘ ich nur ständig ab und zu, ab und zu, ab und zu.“ Damit dieses Lamento auch glaubhaft wirkt, hat sich Schelpmeier die singende Kabarettistin Dagmar Schönleber ins Studio eingeladen. Sie darf das Drama dann im »Bei-mir-biste-scheen«-Andrew-Sisters-Stil mit heiterem Augenaufschlag in einen Swing verwandeln.
Unterm Strich lautete die Message des Albums: „Reiß die Bilder aus dem Rahmen, nimm‘s dem Leben nicht so krumm, sieh die Komik in den Dramen, komm wir dichten alles um.“ Ein Plädoyer für künstlerische Freiheit, für geistige Grenzüberschreitung und den Blick aufs Komische und den Blick nach vorn.
Die Lieder sind zwar konventionell gebaut - es fehlt der rotzig-freche Ton von einer Band wie Element of Crime - aber sie sind sorgsam und zurückhaltend instrumentiert: Schelpmeier ist für Gesang und Gitarren und das Songwriting zuständig, unterstützt wird er von Gunter Papperitz an den Keyboards, dazu kommen dezente Jazz-Drums, eine weitere Gitarre und Plögers Kontrabass. Der Grundton von »Lass uns bleiben« ist letztlich gedimmt und von leisen Melancholien (»Trauriger Tod«) durchzogen, doch selbst das Finale mit der Frage »Was kommt danach«, verströmt dann über einen treibenden Beat doch wieder eine Menge Hoffnung. Die Magnolien dürfen weiter blühen.
Mehr Informationen:
www.schelpmeier.com
Dass einer der 17 Titel »Kneipe« heißt, kann kein Zufall sein - das Album hat schließlich alles, was einen guten Abend in einer ebensolchen ausmacht: manchmal humorvoll, manchmal poetisch, mal tiefgründig, aber auch mal nicht, hier ironisch, da bierernst, oft unberechenbar und dabei immer umweht von einer gewissen Melancholie. Das Essener Trio International Music vereinbart auf »Die Besten Jahre« Ruhrgebiet und R(h)einkultur.
Auch textlich tauchen International Music vollends in den Tiefen des Kneip[sic!]-Bades. Die erste Auskopplung »Für Alles« ist lyrisch schön, aber schwer greifbar. Ist das Lied an manchen Stellen eine – wenn auch mysteriöse – Liebeserklärung, bleiben die Antworten auf rätselhafte Fragen wie „Warum schreibst du den Hasen nicht mit H?“ der Kreativität der geneigten Hörerschaft überlassen. Dieser Balanceakt zwischen wohlbekannten und hier hübsch verpackten Bildern einerseits und enigmatischen Gedankensprüngen andererseits zieht sich durch das ganze Album. So wird sich in »Du Hund« über den nur allzu verständlichen Unwillen, in die Schule zu gehen ausgelassen („Was hat der Rektor mir denn schon zu sagen?“), »Mont St. Michel« sinniert das lyrische Ich hingegen frankophil-melancholisch über innere Kämpfe: „Halber Weg, ganzes Ziel, weniger ist mehr, nichts ist viel“.
Genretechnisch lassen sich die drei ebenso schwer einordnen wie der Bandname ohne Zusatz googlen, am ehesten kann man sie wohl unter Post-Punk verorten. Man fühlt sich erinnert an britische Indie-Institutionen wie The Jesus and Mary Chain, an amerikanische Avantgarde wie The Velvet Underground und auch mal an kantigen Krautrock à la Can. Trotzdem kommt bei all den Einflüssen die Originalität nie abhanden: Die drei dekonstruieren munter alles, was bei drei nicht auf dem Baum ist und schaffen so einen gleichermaßen unverwechselbaren wie unverbrauchten Sound.
Mehr Informationen:
https://www.facebook.com/pg/internationalmusicband
https://soundcloud.com/international-music-de
Äußerlich betrachtet ist das Debütalbum »Isch bin jetzt ein Superstar« von Amalia Chikh eher schlicht gehalten: Eine Papphülle beherbergt die CD, auf der Vorderseite prangt das Konterfei der Sängerin vor verschwommener Großstadt-Kulisse und insgesamt sind nur acht Lieder auf dem Tonträger zu finden.
Die haben es aber in sich. Textlich wie musikalisch. Die in Berlin lebende Französin hat ihren eigenen, besonderen Stil gefunden. Dazu gehören auf der einen Seite nachdenkliche, auch gerne Mal provozierende Texte und auf der anderen Seite die Mischung von verschiedensten Musikstilen wie beispielsweise Jazz oder Walzer mit orientalischen Elementen. Neben dem Klavier von Amalia Chikh, einem Schlagzeug und Kontrabass kommen noch Trompete, Posaune und Cello zum Einsatz. Manchmal klingt das melodisch, manchmal schrill - ebenso wie Amalia Chikhs Stimme mit ihrem wunderbaren, französischen "accent".
Im titelgebenden Opener nimmt sie die Superstars von heute aufs Korn. „Scheiß auf die Moral“ heißt es da und an anderer Stelle „Ich bin ein Produkt des Konsums, verkauft für den Ruhm“. Das Ganze kommt als jazzige Up tempo Nummer daher, was die karikierende Aussage des Textes enorm unterstreicht. Beim darauf folgenden Stück »Die Falte«, bei dem es um den Zwiespalt zwischen Älterwerden und Jungbleibenwollen geht, wird zynisch gefordert, diese ersten Anzeichen des fortschreitenden Alterns mit allen Mitteln zu beseitigen. Melodisch kommt es als Blues im Walzertakt daher.
1999 ist Amalia Chikh von Paris nach Berlin gekommen, als Austausch-Studentin, hat Geschichte und Anthropologie studiert. Später hat sie im Kulturbereich gearbeitet, hat Konzerte organisiert, Festivals ebenso. Sie hat in einem Jodel-Chor gesungen und irgendwann entdeckte sie ihr Talent Chansons zu schreiben. Das erste Lied entstand - am Anfang noch auf Französisch. Dann auf Deutsch, weil sie wollte, das das Publikum ihre Texte, ihre Botschaften versteht. Denn hinter ihren Liedern versteckt sich oft soziale Kritik.
»Die Dame« ist ein solches Stück. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine Dame im landläufig bekannten Sinne handelt, sondern um eine Frau, die obdachlos ist. Ihre Heimat ist der Bahnhof. „Die Züge fahrn an mir vorbei, doch ich steige nicht mehr ein“ lautet ihr ernüchtendes Resümee. Dennoch versinkt sie nicht im eigenen Mitleid. Amalia Chikh ist es gelungen, das Thema Altersarmut würdevoll und ohne Klischees zu beschreiben - für mich ist es das eindrücklichste Lied auf dieser CD.
Lieder, die zum Nachdenken anregen und Musik, die sich nicht an eingefahrene Hörgewohnheiten anlehnt, haben mich schon immer begeistert. Amalia Chiks Chansons gehören fortan dazu.
Mehr Informationen:
www.amaliachikh.de
Wenn leise Bilder laut werden und harte Töne weich, dann hört man Christina Lux. Nichts charakterisiert ihr neues Album so gut wie der Refrain ihres Titelsongs: »Leise Bilder«. Die ebenso großartige wie bescheidene Musikerin schleift das Vordergründige, das laut Lärmende und dringt in tiefere Schichten vor, deren Essenz sie ans Licht holt. Auf ihrem neuen Werk kommt sie ganz ohne englische Texte aus. Sie hat nicht nur den Mut, sich mit deutschen Versen verletzlich zu machen, sondern auch den Groove der deutschen Sprache gefunden. Mit ihrer leichten, schwebenden Artikulation und einem coolen, am Jazz orientierten Timing verbreiten ihre luftig arrangierten Songs eine entspannte Atmosphäre.
Für einige Songs hat sich Christina Lux namhafte Weggefährten eingeladen. Der Jazztrompeter Joo Kraus bereichert den Song »Wege« mit seiner Flügelhornimpovisation. Rockgitarrist Stoppok ist mit einer 12saitigen Gitarre auf »Meer« zu hören, und jeweils für ein Stück dabei sind auch Sänger und Musikproduzent Laith al Deen und die Gitarristen Markus Segschneider und Dennis Hormes. Alle haben sich auf “Leise Bilder“ eingelassen, auf den speziellen Christina Lux Stil, und setzen nur kleine Farbtupfer im Gesamtarrangement.
„Musik zu beherrschen, ist mir gar nicht so wichtig“, hat Christina Lux einmal gesagt. Vielleicht ist sie gerade deshalb so gut und bei Musikerkollegen beliebt. Nie wirkt sie angespannt, sondern ganz bei sich: sanft und präzise. Christina Lux ist die coole Vertreterin des deutschen Songwriter-Jazz und für mich eine der besten Liedermacherinnen der Republik. »Leise Bilder« macht das einmal mehr deutlich: Als Sängerin ist sie so intonationssicher wie kaum eine andere, als Gitarristin ist sie einfallsreich und pointiert, was nicht minder für ihre Texte gilt. Sie liebt lautmalerische Worte und zarte, poetische Bilder, bei denen es sich lohnt genauer hinzuhören. Auf dem neuen Album singt sie vom Losfliegen und Heimkommen, von Liebe, Verlust und Mut auf der Reise durchs Leben, vorbei an den Untiefen, dorthin, „wo noch zählt, dass du ein Mensch bist, der ein Herz hat, das noch sieht, wenn einer fällt.“
Weitere Informationen:
www.christinalux.de
„Wat‘n Theater, man“ seufzt Frank Baier im Titelstück seines neuen Albums, das den Soundtrack durch das musikalische Schaffen des 75-jährigen darstellt. 13 Titel aus der Zeit von 1975 bis jetzt zeigen verschiedene Phasen seines Musikerlebens als politischer, engagierter Ruhrpottbarde, immer begleitet von seinem Akkordeon und seiner Ukulele sowie Gitarre und natürlich Gesang. Bestechend ist die Tatsache, dass er nicht müde, nicht zynisch oder abgeklärt klingt, sondern so frisch, witzig und begeisterungsfähig wie eh und je. Zwar wundert er sich im Titelstück darüber, was eigentlich auf der Welt los ist, hat er den Aufbruch verpasst? Alle reden wie die an der Börse und rennen hinter der Kohle her und überhaupt, was soll das ganze Theater? Es ist nicht die Klage eines bitteren, alten Mannes, das Zwinkern ist durchaus hörbar. Auf dem Album sind mehrere Beispiele von Zusammenarbeiten mit Musikern anderer Kulturen, wie z. B. mit der Folkgruppe Tselonina aus Madagaskar oder Mesut Cobanc aus der Türkei. Frank Baier zeigt, dass Musik das beste Mittel zur Völkerverständigung ist.
Manche der älteren Stücke klingen wie jene Lieblingslieder, die wir unter Zuhilfenahme von völlig abgenutzten Plattenspielernadeln damals zu Tode liebten. Das empfinde ich nicht als Mangel, sondern es macht die Authentizität der älteren Stücke aus.
Thematisch befasst er sich u. a. mit dem Ruhrgebiet während und nach der Kohle, mit dem Aufwachsen dort damals, mit dem ewigen Verlierer, der nicht versteht, wieso alles schief geht und mit den politischen Kämpfen von früher und dem Mangel daran heute. Auf dem Album befinden sich Blues, Rock, Folk und natürlich auch „Skiffle aus dem Kohlenpott“.
Beim Hören des Albums dachte ich an meine ersten Jahre in Deutschland zurück. In dieser Zeit befand ich mich oft in den Küchen der damals Jung- und heute Altlinken, wo man zusammen kochte, aß und trank, man diskutierte lange und erhitzt und man hörte und spielte selbst Musik, eben auch die Lieder von Frank Baier. Eine schöne Erinnerung und ein gelungener Soundtrack eines Musikerlebens!
Weitere Informationen:
www.frank-baier.de
»Eicher« steht auf dem Cover und »Suter« und dann noch »Song Book«. Und beim genauen Hinsehen stellt sich heraus: Ja – es ist tatsächlich ein 100 Seiten starkes Buch mit Texten von Martin Suter und einer beigelegten CD mit Liedern von Stephan Eicher. Was wir über die beiden wissen können ist: Sie kennen sich seit über zehn Jahren und sie haben schon ein paar Songs gemeinsam veröffentlicht. Ihre Heimatsprache ist Berndeutsch. Und sie sind dicke Freunde seit sie sich beim Kristalle-Sammeln in den Bergen, beim sogenannten Strahlen gefunden haben. Aber halt: Ist das noch Wahrheit oder ist es schon Fiktion. Suter schreibt in seinem ersten Text: Hier werden „erstmals zu dem Song die biographischen Episoden erzählt, von denen sich die Künstler inspirieren liessen. Sie sind frei erfunden. Wie sich das für Autobiographisches gehört.“ Lüge oder Wahrheit also? Tut mir leid, das ist die falsche Frage. Suter und Eicher entführen ihre Leser und Zuhörer in ihre Schweizer Heimat. Und sie sind dabei präzise Beobachter. Und diese Beobachtungen finden überall im Land statt: bei einem leckeren Essen im Restaurant, beim Anblick einer Alm mit ihren grasenden Kühen oder beim Gesellschaftsspiel Monopoly. Manche Episode wirkt klischeehaft, dass man denkt: Ist die Schweiz, ist der Schweizer wirklich so? Aber dann sind die Geschichten doch so liebevoll erzählt, dass man zu der Überzeugung kommt: Das muss die ganze Wahrheit sein.
Dann steigen wir doch mal ein beim Hören und Lesen. Es geht los mit der Zugabe, einem Lied gesungen von Stephan Eicher, das am Anfang steht und dessen Text auch im Buch abgedruckt ist. Das hilft dem Nichtschweizer ungemein beim Verständnis. „Spil no eis für alli die, / wo nid so luschtig sii.“ Die schönen Melodien der Lieder werden von Stephan Eicher einfühlsam vorgetragen. Er ist ein Meister der leisen Töne. Seine luftigen Arrangements unterstützen die Poesie der Texte. Und in der darauffolgenden Prosa erzählt Martin Suter, warum die Zugabe am Anfang steht und dann wie sich die beiden Männer zum ersten Mal beim Strahlen in den Bergen begegnet sind und sie blicken den Berg hinauf und sehen etwas und wissen nicht, was es ist und Eicher singt: „I weiss nid, was es isch. / Aber das möchte i sii.“
Es empfiehlt sich tatsächlich zumindest beim ersten Mal Prosa und Lieder abwechselnd zu lesen und zu hören. So wurde ich in die intime Welt der Geschichten entführt. Und es stellt sich eine Frage nicht: Ist das Fiktion oder Wirklichkeit? Die Geschichten sind Legenden und sind ihrem Inhalt nach wahr. Oder wie es André Heller einmal in einem seiner Lieder formulierte: „Die Lüge ist wahrer als die Wahrheit / Weil die Wahrheit so verlogen ist.“ Insofern wünsche ich dem »Song Book« aufmerksame und geneigte Hörer. Lassen Sie sich von der Schönheit dieses Werkes einfangen und von der Wahrheit der Geschichten über die Schweiz und ihre Menschen überzeugen. Ich kenne die Schweiz nicht so gut, aber ich glaube, sie jetzt ein bisschen besser zu kennen..
Weitere Informationen:
www.stephan-eicher.com
www.diogenes.ch/leser/autoren/s/martin-suter.html
Spruchrif ist eine Mundart-Rockband aus dem Baselbiet, der ländlichen Gegend nahe Basel. Diese ländliche Herkunft ist für die Band sehr wichtig und sie beziehen sich in ihren Liedern immer wieder auf ihre Heimat. Dazu gehört auch ihre Umgangssprache. Ein Grund, weshalb sie in ihrer eigenen Baselbieter Mundart singen.
Spruchrif, das sind vier junge, aber doch schon erwachsene Männer, die auf ihrem neuen Album »Ferie« verstärkt werden durch die ebenfalls junge Sängerin Annika Hemmig. Ebenfalls dabei ist auch der frühere Bassist der Band, Arturo Lopez, der sich mit dem heutigen Bassisten Mauro Lessa abwechselt. Spruchrif spielt melodiösen Rock, getrieben vom Schlagzeuger Adrian Heid. Zum melodiösen Saxophon von Reto Schäublin gesellen sich die herrlich verzerrten Melodien der E-Gitarre des singenden Frontmanns Roberto D"Agostini.
Nun zum Wesentlichen der Band, zu den Liedinhalten. Im Song »Herbscht« (Herbst) besingt sie die Liebe zur heimischen Natur. Mit wenigen Worten beschreibt das Lied die Stimmung, welche diejenigen kennen, die schon im Baselbiet gewandert sind. Auch andere Lieder widmen sich diesem Thema, ohne jedoch ins Schlagerhafte oder Patriotische abzugleiten. Eindrücklich sind auch die Lieder über Zwischenmenschliches, welche die Band auf ihre ganz eigene Art angeht.
Als sehr spannend und hörenswert empfinde ich auch die gesellschaftskritischen und auf ihre Art politischen Lieder. Da ist zum Beispiel das Lied »Konsumierä« (Konsumieren): Wir wollen immer mehr und kaufen immer mehr und erst zum Schluss erkennen wir, dass man das Wesentliche nicht kaufen kann. Subtiler Zynismus.
Ebenfalls wichtig ist das Lied »AKW - egal was sie säge«. Dazu muss man wissen, dass um Basel und um das Baselbiet herum viele Atomkraftwerke in Betrieb sind, so im französischen Fessenheim und schweizerseits in Gösgen, Beznau, Leibstadt und Mühleberg.
E tiefä, gsundä Schlof duesch pfusä / Mit em Päckli Jod im Notfallschrank / Näbem möglichä Supergau tuesch husä / Isch das nid himmeltrurig chrank? / Jedi Minutä cha doch Erdä rüttlä / Dass sött hütte jede gseh / Chas dä Reaktor duräschüttlä / AKWs darfs nüm geh / Ohhho - Egal was si sägä / Ohhho - Egal was si meine / Was würklich passiert / weiss vorhär keine
Übersetzung: Du hast einen tiefen, gesunden Schlaf / Mit einem Päckchen Jod im Notfallschrank (1) / Du wohnst neben einem möglichen Supergau / Ist das nicht bedauerlich krank? / Jede Minute kann die Erde beben (2) / Das sollte heute Jeder sehen / Den Reaktor kann es durchschütteln / AKWs darf es nicht mehr geben / Ohhho - Egal, was sie sagen / Ohhho - Egal, was sie denken / Was wirklich passieren wird / weiss Keiner zuvor
Da wird Ernsthaftes anders, aber doch sehr eindringlich formuliert. Spruchrif – eine ernst zu nehmende Band.
Weitere Informationen:
www.spruchrif.ch
Erläuterungen:
(1) Eine Schachtel Jod-Tabletten hat jeder Schweizer Bürger im Umkreis eines AKWs | (2) Basel ist ein Erdbebengebiet
Abgründe. Schadenfreude. Scheitern, frisch und frech. Quere Lebenslagen, bespickt mit jeder Menge Schalk. Das sind die Lieder des Schweizer Liedpoeten Markus Schönholzer. Sein neues Album »Sozialplan« ist speziell, eindrücklich und grosse Kleinkunst. Die Lieder kommen harmlos daher und enden in scheinbar lustigen Pointen – mit tiefschwarzen Widerhaken. Man fühlt sich ertappt, gezwickt. Schönholzer hat den Dreh raus. Er dreht seine Geschichten am Ende immer wieder in überraschende Ecken. Er zieht uns mitten hinein in die Storys seiner Balladen.
Schönholzer bedient sich dabei verschiedener Stilmittel. Seine Lieder erinnern uns an die Berner Troubadours, an französische Chansons, an Musicals und Kneipensongs. Mit seinem langjährigen künstlerischen Partner, dem Multiinstrumentalisten Robi Rüdisüli, setzt er gekonnt überraschende musikalische Akzente von Jazz bis Folklore. Schlicht und trotzdem sehr abwechslungsreich gestalten die beiden Vollblut-Musiker jeden einzelnen Song neu. Oft wird die Musik bewusst gegen den Text gesetzt, zum Beispiel fröhliche Melodien gegen tieftraurigen Inhalt. Schönholzer schafft hier einen ganz eigenen, coolen Stil mit Banjo, Gitarre und Gesang. Rüdisüli überrascht gekonnt mit Wagnertuba und Akkordeon.
Viele Lieder entwickeln sich zu langen Balladen, wie zum Beispiel »Franz«. Trotz ihrer Länge fesseln Schönholzers Lieder durch zuweilen bissige Texte bis zum Schluss. Auch der Titelsong »Sozialplan« ist äusserst hörenswert – mit einer sarkastischen Pointe, die wir hier nicht verraten wollen. »Gummiboot« thematisiert Kindesmissbrauch unter kirchlicher Obhut. »Jammern als Chance« lässt es rumpeln in mir.
Zu finden ist auch ein kurzes Lied zum Lebenskreislauf, »Vater«, musikalisch klar und eindrücklich interpretiert:
All die Falte
vo mim Alte
gehöred jetz mir
Altersfläcke
Wanderstäcke (Wanderstock)
Han ich jetzt au (benutze ich jetzt auch)
Sini Sorge (Seine Sorgen)
Sind plötzlich mini worde
Mir reded jetz meh
Schönholzer kam als mit 11jähriger Junge aus den USA in die Schweiz. Sein Dialekt ist heute Mundart pur. Er schreibt Texte und komponiert Musik für verschiedene Theater, teilweise für grosse Produktionen. Gleichzeitig liebt er den kleinen Rahmen, den direkten Austausch Auge in Auge mit seinem Publikum. Das funktioniert. Ich hab"s erlebt. Hintersinnig, humorvoll, mit innerer Ruhe, mit sicherem Timing, mit perfekten Tönen auch zwischen den Zeilen, mit Liedern, die uns bewegen.
Die CD ist hörenswert von Anfang bis zum Schluss. Aber auch live sind Schönholzer & Rüdisüli ein Erlebnis für Liederfans mit Spass an cooler Satire.
Weitere Informationen:
www.markus-schönholzer.ch