Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.
Mary B. Good heisst mit bürgerlichem Namen Nicole Bannwart und kommt aus St. Gallen in der Ostschweiz. Das ist insofern wichtig, dass der örtliche Dialekt etwas unangenehm in vielen Ohren klingt und viele Musiker:innen von St. Gallen singen lieber englisch als in dieser Mundart. Mary B. Good zeigt, dass es trotzdem geht. Sie ist eine sehr eigenständige junge Frau mit eigenem Modestil, Tattoos und einem Beruf, den man ihr so nicht geben würde. Sie leitet als Pflegefachfrau eine Station in einem Altersheim und kümmert sich um viele einsame, schwerkranke und sterbende Menschen. Musikalisch zieht sie mit Rockabilly und Americana los. Die Rockabilly Lieder haben richtig Dampf drauf und in den Americana Lieder erzählt sie Geschichten. Alle Lieder dieses Debut Albums sind in Mundart.
Das Album beginnt mit forschem Rockabilly «Los rägne» (Lass es regnen), darin verlangt sie Regen, denn das braucht es auch und wenn die Liebe nicht wasserdicht ist, dann lassen wir es doch sein. So geht es im nächsten Lied weiter, da dreht es sich um Liebe und ein heisses Auto unter dem Hintern, das ist die Sprache der Sängerin. Im dritten Lied erzählt sie eine Geschichte, der Tagesanfang von sich selbst, als sie schon wieder zu spät ist «Pünktlich Si», egal ob zur Arbeit oder zum Date. «In der Schweiz muss man immer pünktlich sein, besser fünf Minuten zu früh», ist so ein Kernsatz, auch ein Stück ihrer Auflehnung. Dann wird es mit Rockabilly feministisch, da geht es ums Taxieren von Frauen. Weitere Lieder handeln vom Verlangen nach Zuneigung, wie kommt man wieder aus einer Beziehung oder vom Rockabilly wo sie drei Akkorde spielt und ohne Hemmungen auf der Bühne die Wahrheit singt. Das ergreifende Stück ist «Abschied neh», wo es um den letzten Abschied geht. Alle Lieder sind offen und direkt formuliert und trotzdem sensibel. Mary B. Good ist eine grosse Bereicherung in der Liederszene, schon mal mit einem anderen Stil, einem nicht so gängigen Dialekt und guter Musik und guten Texten.
Weitere Informationen: https://marybgood.com/
Die ersten paar Takte gehört … und seitdem lässt er mich nicht mehr los, dieser Album-Auftakt namens „Jules Verne“. Ungeheuer packend, was für ein Drive, ein Ohrwurm. Besser kann eine CD nicht starten. Glückwunsch! Und überhaupt: dieses Opus Nr. 3! Es war wirklich höchst Zeit dafür; war das zweite Solo-Album „Besser wenn der Kopf nicht hängt“ ja bereits im Herbst 2019 erschienen.
Im November desselben Jahres bekam sie dann auch gleich den Jury-Preis (und wurde Zweite in der Publikumswertung) der „Hoyschrecke“ in Hoyerswerda, dem Liederwettbewerb, den Gerhard „Gundi“ Gundermann kurz vor seinem Tod noch ins Leben gerufen hatte. „Das ist wahnsinnig motivierend und berührend.“ schrieb sie damals.
Franziska Günther, nicht mal 40, zieht bereits seit mehr als 20 Jahren mit ihrer Gitarre durch die Welt. Schon als 16Jährige spielte die heute in Berlin lebende Musikerin in Kneipen und auf Festivals in ihrer Heimat Mecklenburg, reiste nach dem Abitur durch Europa und lebte einige Zeit in Dänemark.
Sie hat den „Popkurs“ in Hamburg absolviert und einen „Master in Musiksoziologie“ in der Tasche; trotzdem ist der Alltag der „Troubadourin mit den kräftigen Gitarrengrooves“ vom Liederschreiben und Liedersingen bestimmt. Seit der Veröffentlichung ihres englischsprachigen Solo-Debüts im Herbst 2016 spielt Franziska ihren frischen Singer/Songwriter-Folk in Deutschland und Nordeuropa. Nicht selten – so hat man das Gefühl – hat sie monatlich mehr Konzerte als der Monat Tage.
Ihrer nun gereifte(re)n Stimme und Präsenz zu lauschen, ist ein Genuss. Viele der 11 Kompositionen lassen diese – in wohltuend sparsame(re)n Arrangements – wirklich gut zur Geltung kommen. Franziska Günther singt von Erlebtem. Da taucht beispielsweise der Berliner Bezirk Friedrichshain immer mal wieder auf. In „Maisonette“ klingt an, wie es Vielen geht, wenn der Vermieter sanieren will. In ihrem „Hinterhofversteck“ hat sie lange gewohnt; fast ihr halbes Leben lang. Und sie resümiert auf dem Album auch ihre „fast vier Dekaden“. In „Halbzeit gibt es nur beim Fußball“ singt sie: „… sieht jetzt aus wie ‚n roter Faden und war doch ein Zickzacklauf.“ Es gilt aber auch – in „Fahrrad auf dem Mauerweg“ besungen – „… hab ich das gut, wann und wo ich geboren bin. Ich war grad alt genug zu reden, da fiel das Ding.“
Das neue Album hat Franziska selbst produziert. Ihr Mann, der Isländer Siggi Björns, taucht auf der Scheibe ab und an künstlerisch (Komposition des Titelsongs, E-Gitarre, Chor und Fotos) auf. Sein Sohn Magnús spielt die Drums und etliche weitere Musiker haben in Studios in Berlin, Reykjavik, Bornholm und Kopenhagen agiert. Letztlich hatte Singer-/Songwriter-Kollege Karl Neukauf, der auch mitgespielt und mitgesungen hat, in Sachen Tontechnik und Mixing seine Hände und wohl v.a. Ohren im Spiel.
„Sobald die Sonne scheint“ erscheint am 25.Oktober 2024. Die Veröffentlichung feiert Franziska Günther am 27.Oktober 2024 mit Band und Publikum – wie sie sagt – in ihrem liebsten Berliner Konzertort, in der WABE. Mit dabei: Magnús Björnsson (Drums), Hannes Hüfken (Bass) und Karl Neukauf (Support, Klavier, Gitarre).
Weitere Informationen: www.recordjet.com
Es ist schon über zwei Jahrzehnte her, dass ich Faber zu ersten Mal gehört habe. Damals sang er gemeinsam mit seiner Schwester Madlaina und seinem Vater, dem Cantautore Pippo Pollina, zum Abschluss von dessen Album "Racconti brevi", das Lied "Bella ciao". Damals war er zehn Jahre alt.
Heute klingt Julian Vincenzo Pollina, wie Faber bürgerlich heißt, natürlich anders. Der Stimmbruch hat ihm eine tiefe
Stimme beschert, die nicht nur ihn begeistert sondern auch sein Publikum. Das spiegelt sich auch bei seinen bisherigen Produktionen nieder, die allesamt Plätze in den vorderen Reihen der Liederbestenliste belegen konnten.
Nun hat er sein drittes Studio-Album veröffentlicht. "Addio" heisst es. "Auf Wiedersehen" also. Darauf verabschiedet er sich von Vergangenem und persönlich Belastendem.
"Ich bin ganz allein / Ganz allein mit dem Gefühl / Ganz allein zu sein". Mit diesen Zeilen beginnt Fabers neuestes Werk. Darin singt er über Depression, Eifersucht & Arroganz, die ihn nie wieder ereilen soll: "Hast nicht den Krieg gewonnen / Nur die erste Schlacht / Machst mich verrückt / Doch du kriegst mich nicht zurück".
Empörung rufen vielleicht folgende Zeilen hervor: "Sie ist kein Pick-me-Girl, aber fickt die Welt / Wie im Parkverbot, wird heute abgeschleppt", heißt es in "Sie ist wieder in der Stadt". Faber will mit seinen Texten provozieren und das beherrscht er meisterhaft. Er gibt sich als Macho, Chauvinist, Egomane aber auch als Melancholiker.
Selbstgefällig schlüpft er in diese verschiedenen Rollen, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und um zu provozieren. "Kunst soll aufregen, oder hältst du das Publikum für so dumm, die Texte wörtlich zu nehmen?" bekundete er einst gegenüber dem "Musikexpress".
Faber ist, wie sein Vater, mit Leib und Seele Cantautore und Liedermacher. "Addio" ist ein gelungener Mix aus Pop und Folk. Verziert mit sakralen, orchestralen & orientalischen Einsprengseln, die die düsteren Songs über Leben, Liebe und Leid bestens untermalen.
Zehn Lieder dieses Albums sind auf Hochdeutsch, drei weitere auf Italienisch. Darin besingt er beispielsweise rebellische Seelen oder verlorene Herzen. Letzteres hat er zusammen mit seinem Vater Pippo Pollina geschrieben. "Ein kleines sizilianisch-schweizerdeutsches Requiem", wie er selbst sagt. Hier schliesst sich auch der Kreis, der vor langer Zeit mit "Bella ciao" begann.
Weitere Informationen: https://faber-supermarkt.com/
Seit über 25 Jahren veröffentlicht Stellmäcke Lieder für Große und Kleine und der sehr gut gefüllte Terminkalender zeigt, dass er live sein Publikum findet. Auf eine neue CD für Erwachsene von Stellmäcke hat man einige Zeit warten müssen, 2019 kam „Hinterm Mond“ heraus und jetzt veröffentlicht er „Trotzdem“ gemeinsam mit seiner Trotzband.
Locker mit einem jazzig angehauchten Saxophon bittet er uns herein („Kommt herein“) und gleich danach folgt eine wunderschöne deutschsprachige Version des von Benjamin Biolay und Keren Ann geschriebenen Chansons „Jardin d’hiver“ („Wintergarten“), das im Jahr 2000 dem damals 82-jährigen französischen Altmeister Henri Salvador zu einem fulminanten Comeback verhalf.
Es gibt auch Reprisen eines Gundermann-Songs („Keine Zeit mehr“) und des titelgebenden „Trotzdem“ von Toni Stricker und Erika Pluhar, ein Lied, das auch nach über 40 Jahren in einer mit Klavier und Sopransaxophon begleiteten Interpretation nicht unberührt lässt und von brennender Aktualität ist.
Die Trotzband darf mal die Gitarre rockig („Wahnsinn“, im wahrsten Sinne des Wortes, was Stellmäcke alles aus Märchen und ihren Figuren herausliest) aufdrehen, dann klimpert mal ironisch ein altes Klavier locker als „KI Boogie“ dazwischen, wenn „sie“ uns ohnehin alle schon überwachen („Wir sind immer da“) oder die Klarinette umspielt sanft das leise Abendlied der „Sommernacht“. Musikalisch ist das Album perfekt gemachtes Handwerk.
Im Zentrum stehen natürlich Stellmäckes eigene Texte, in denen er aktuelle und damit auch zeitlose Themen aufgreift, wie den an die Mutter gerichteten „Frontbrief“ oder „Zeitenwende“, in der die Soldaten zur Kur fahren oder alle den gleichen Lohn teilen.
„Feiern wir die Zeitenwende, glücklich ist der Anarchist. Er ist gesund, wenn er sich wohlfühlt und fällt nicht rein auf jeden.“ Das fehlende letzte Wort des Reims kann und wird jeder selbst anfügen.
Übrigens: Stellmäcke heißt eigentlich Olaf Stellmecke. Da sein Name ohnehin immer falsch geschrieben wurde, hat er ihn kurzerhand zu seinem Künstlernamen gewählt.
Weitere Informationen: www.stellmaecke.de
In die engere Auswahl zum Album des Monats haben es dieses Mal drei Alben geschafft. Die Prüfung ergab: Eines, aus dem Ruhrpott stammend, fasziniert wegen des locker-legeren Anspruchs, enttäuscht dann aber doch wegen der schlicht schlechten Texte.
Bei der zweiten zur Wahl stehenden Einspielung eines bekannten Liedermachers erstaunt die poppig-jazzige Musik. Aber die Texte sind krampfhaft lustig bis schlimm bedeutungsschwanger und, nun ja, der Sänger singt so steif, als hätte er einen Stock im Enddarm und übe sein Hochdeutsch für eine Stellung im Sprechtheater.
Was braucht es also zum Album des Monats? Einen Sänger mit rotzfrecher Attitüde, dessen Gesang ihn nicht zum Nachrichtensprecher prädestiniert, sondern der schon einmal Silben verschludert. Einer, der mit seinem Gesang eine Vieldeutigkeit transportiert, die sich im besten Fall in den Texten wiederfindet. Wenn die Musik dazu bitte noch einige Rätsel aufgibt, wenn sie nicht so klingt, als käme sie gerade aus dem Übungsseminar der Musikakademie, dann sind wir bei Von Flocken, einem 2016 in Berlin gegründeten Projekt von Christian Bietz. Ein gelernter Sänger ist er halt nicht, und das ist gut so, mitunter geht sein Gesang im Musikmix sogar ganz unter.
Die Texte der zehn Stücke handeln, soweit verständlich, von Fahrten übers Land nach Cannes, es tauchen Flamingos und Löwen auf, man sitzt am Pool, hört Mosquitos und Moleküle. Die Atmosphäre ist surreal, und die Musik passt zu zusammengesuchten Textzeilen, die wie Slogans aus einer fremden Welt daherkommen: Hier einmal ein abgekürztes Bluesrockriff, dort der Einsatz eines knarzenden Basses, eine Funkgitarre. Eine Bastelarbeit von Anfang bis Ende, ohne direkte Vorbilder. Und damit Album des Monats.
Weitere Informationen: https://vonflocken.bandcamp.com/
Ende August/Anfang September gab es alljährlich für Gerd Köster und Frank Hocker einen Termin live an der Mosel. Auf dem Weingut Stein in Alf, wo es nicht nur ein begeistertes Publikum gibt, sondern auch exzellente Weine, ist mit den Auftritten von Köster/Hocker eine Tradition entstanden, die nun ein tragisches Ende gefunden hat. Denn Frank Hocker ist im letzten Herbst plötzlich und unerwartet verstorben. Stabil nervös heißt das Doppelalbum, das hier aufgenommen wurde und noch einmal das aktuelle Repertoire der beiden dokumentiert. Gemeinsam mit ihren Musikern demonstrieren sie, dass sie „Alles im Griff“ haben, und da mag an diesem besonderen Ort auch „Et letzte Drüvje“ (Das letzte Träubchen) seinen Beitrag geleistet haben. Sie waren eben nicht nur in “En Kölle dä King“.
Köster/Hocker spielten Anfang der 80er Jahre gemeinsam bei der Deutschrockband „Schroeder Roadshow“, die durch ihre politischen Texte auffiel. Als später Köster sein Soloprojekt „The Piano has been drinking“ startete, war auch Hocker wieder dabei. Dieser bei Tom Waits entliehene Bandname war eine programmatische Entscheidung. Denn die neuen Songs waren brillante deutschsprachige Adaptionen von Tom Waits-Songs, die neben eigenen Titeln, teilweise aus der Schroeder-Zeit, interpretiert wurden. 1993 trennte sich die Band, Köster und Hocker machten als Duo weiter. Und das bis zu Franks Tod im Herbst letzten Jahres. Gemeinsam mit befreundeten Musikern entstand ihr letztes Album „Stabil nervös“, das ich hier empfehle. Es ist ein Rückblick auf „Fümunzwanzisch Johr“ und mehr geworden. Niemand wusste bei der Produktion, dass dieser final werden würde. Köster und Hocker haben die Stückauswahl noch gemeinsam gemacht. Bald danach wurde es für Frank leider wahr: Du kannst „Nix metnemme“. Das Album ist eine stimmungsvolle, mehr als hörenswerte Auswahl ihrer Lieder geworden, ein Vermächtnis Frank Hockers. Aber wir wissen, dass Gerd Köster auch ohne seinen Freund, den er liebevoll „My brother from another Mother“ nennt, alleine mit seinen Musikerfreunden weitermachen wird. Und dass ihre Lieder weiter leben, hätte sich auch Frank Hocker gewünscht.
Weitere Informationen: https://www.gerd-koester.de/
Das im Januar 2024 erschienene Album Grenzgänger-Sessions ist Fritz Levy und Oswald Andrea, zwei „Grenzgängern“ aus Jever aber auch anderen Menschen aus Friesland gewidmet. In den Songs auf der CD geht es um Flucht, Verfolgung, Vertreibung und Wiederkehr und um Widerstände bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit.
Fritz Levy kehrte als „letzter Jude von Jever“ in seine Stadt zurück und wurde zum Mahner einer gern vergessenen Geschichte. Oswald Andrae war ein niederdeutscher Lyriker, Erzähler und Dramatiker, der sich mit den Lebensumständen der Alltagsmenschen auseinandersetzte und gegen Entrechtung und Unterdrückung auftrat.
Wenn man bedenkt, dass die Aufarbeitung unrühmlicher deutscher Geschichte in der Vergangenheit vieler Orts ein Problem war, so lässt sich an Hand der Texte durchaus der Bezug zu jüngeren Ereignissen herstellen. Der Titel „Wenn keiner hier ein Nazi war“ entstand nach einem Text von Levy, in dem die Situation der Heimkehrer nach Kriegsende geschildert wird. Keiner wollte plötzlich an dem Vergangen Schuld haben. Irgendwie wurde ich aber auch an die Nachwendezeit nach 1989 erinnert.
Der Text zu „Ossietzky“ wurde von Oswald Andrae geschrieben und ist dem Publizisten, Nobelpreisträger und Antifaschisten Carl von Ossietzky gewidmet, der von den Nazis am 04. Mai 1938 im KZ Esterwegen ermordet worden ist. Das Stück selbst ist in niederdeutscher Sprache oder Friesisch verfasst worden. Dazu gibt es auch eine englische Version, die auf dem Album „A Different kind of love song“ von Dick Gaughan gesungen wird.
Die CD besticht nicht nur durch die ausdrucksstarken Texte, sondern auch durch die Vielfältigkeit der Musik. Es sind Elemente des Rhythm & Blues, des Folk und Rock enthalten. „Wo ist Fritz“ hat mich ein bisschen an den Rolling Stones Song „Sympathy fort he Devil“ erinnert.
Hinter der Band verbergen sich Iko Andrae. Eckard Harjes (beide in Jever aufgewachsen) und Andreas Bahlmann. Die CD enthält ein Booklet in denen man die Texte auch noch einmal selbst nachlesen kann. Vorgelegt wurde ein wirklich hörenswertes Album, weshalb ich es sehr gern weiterempfehlen möchte.
Weitere Informationen: www.andrae-bahlmann-harjes.de
Vor allem ist diese Doppel-CD eine Erinnerung: an den Musiker Bernhard Joseph Conrads aus Aachen, geboren im Oktober 1950, gestorben 71 Jahre später, im November 2021. Da beherrschte noch die Corona-Pandemie die Musik-Szene, aber ein Projekt wie „Schöne Grüße“ war organisierbar; Produzent Rolf Limbach (auf dessen kleinem Label „conträr“ schon eine Menge historischer Kostbarkeiten erschienen, von Wolfgang Neuss bis Dieter Süverkrüp) hat es in Angriff genommen; und Conrads selbst hat noch die Auswahl der Titel vorgenommen.
All das ist historisches Material, veröffentlicht zwischen 1976 und 1988 und auf den sieben LP’s, die entstanden sind in der aktiven Zeit von „Bernies Autobahn Band“. „Sind wir noch zu retten“ war der Untertitel zur allerersten, erschienen 1977 – und der Titel lässt von heute aus betrachtet ahnen, dass dieser Bernie eine Art Visionär gewesen sein muss.
Zwanzig Titel auf der ersten, 21 auf der zweiten CD, dazu Erinnerungen an Bernie Conrads von Freunden und Zeitgenossen, Kollegen wie Wolfgang Niedecken und Musikern wie Stefan Stoppok, die Partner von Conrads waren und sozusagen sein geistiges Erbe in die Gegenwart herübertragen; Stoppok speziell hatte in der Zeitschrift „Folker“ den Nachruf auf Conrads geschrieben Ende 2021. Das Booklet der Veröffentlichung jetzt zitiert auch ihn, er war dem Vorbild offenbar näher als jeder sonst. Aber auch der Zeitgenosse Danger Dan beschwört aktuell das politische und musikalische Erbe von „Bernies Autobahn Band“; und die Kollegen aus dem „Pankraz“-Ensemble, mit denen Conrads in späteren Jahren noch einmal aktiv war, schließen sich an.
Das ist das eine: die Erinnerung an jemanden, den kaum noch jemand kennt; und der einen Weg genommen hat, der heute nicht mehr ganz so leicht vorstellbar ist – vom Konzert auf der Straße, auf Plätzen, bei Festen und Demonstrationen (Conrads ist Teil der frühen Friedensbewegung), auf die Club- und Festival-Bühnen der Zeit. Schon der Name erinnert immer daran, wie viel Zeit vor knapp einem halben Jahrhundert zugebracht wurde im vollgepackten Kadett-Combi auf weiten Wegen von Konzert-Ort zu Konzert-Ort. Das andere (und deutlich wichtiger für sie Szene heute!) ist die ganz und gar erstaunliche und in vielen der Titel enorm frische Kraft der Musik, die damals und auf diesem Weg in die Welt kam mit „Bernies Autobahn Band“.
Conrads schrieb kleine schnelle Kommentare zu den drängenden, brennenden Fragen der Epoche (von denen ja viele bis heute nie seriös beantwortet werden konnten), emotional und politisch extrem genau sind Themen und Temperamente fokussiert – allein das macht die Erinnerung an Conrads wichtig. Einer wie Stoppok rühmt darüber hinaus ein spezielles handwerkliches Phänomen der Liedermacherei Marke Conrads: die forcierte Musikalität der Texte. Die Autorenschaft von Wort und Ton sei bei kaum jemandem sonst derart bruchlos und selbstverständlich ineinander übergegangen.
Lernen wir ihn also kennen, ganz neu und nochmal ganz von vorn – den Sänger, Musiker und Poeten Bernie Conrads, der uns und der Liederkunst im deutschsprachigen Raum nichts weniger hinterlassen hat als einen großen musikalischen Schatz.
Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Bernies_Autobahn_Band
Auf den Winter schimpfen kann jeder. Wie wär’s mal mit etwas Humor? Lukas Meister versetzt sich in die Lage von zwei verliebten Schneeflocken. Und aus deren Sicht sieht die Welt gleich komplett anders aus: „Wer wird denn gleich an den Frühling denken, lass uns kalte Liebe schenken, so lang es schneit.“ Denn wehe, wenn die Temperaturen steigen – dann sind die Schneeflocken verloren…
Das neue Album von Lukas Meister ist die beste Medizin gegen den Winterblues. Der Wahl-Berliner, der ursprünglich aus der Gegend von Freiburg stammt, verzaubert darauf mit seiner ganz eigenen Mischung aus Leichtigkeit und Nachdenklichkeit. Aus einem schrägen Einfall macht er wie in „Schneeflocken“ eine Parabel auf die Vergänglichkeit voller Witz und Poesie.
Es bleibt nicht das einzige Liebeslied mit jahreszeitlichem Bezug. Die wunderschöne Ballade „Cecilia“ variiert das Thema Frühling so: „Komm ich schreib dir, oh Cecilia, einen Song über’n Sonnenaufgang und dann gehen wir über’n Ku’damm und verkünden den Frühlingsanfang.“
Lukas Meister hat auf seinem fünften Album endgültig zu seinem unverwechselbaren Ton gefunden: mit tollen Melodien, einem sinnlichen Klang und Texten, deren literarische Qualität weit aus dem Gros des Genres herausragt. Der Sänger, Gitarrist und Pianist hat diesmal alles selbst aufgenommen, ob Gesang oder Instrumentalspuren. Vielleicht deshalb wirkt das Ergebnis so einheitlich, obwohl die Lieder so vielfältig sind.
Die Palette reicht von parabelartigen Songs wie den erwähnten „Schneeflocken“ oder „Aus dem Leben eines Steins“ über persönliche Botschaften an seine Kinder („Flügel“) bis zu großartigem Nonsens wie „Keine Vampire in Angermünde“, wo Meister sich als Geschichtenerzähler mit trockenem Humor erweist.
Sein bewusster Umgang mit Sprache zeigt sich auch in „Fragen über Fragen“, einem Song, der voller Wortwitz die Sprache selbst zum Thema macht und dabei auch gesellschaftspolitische Spitzen enthält: „Warum gibt man sich blumige Namen wie Alternative und Christen-Union, wenn jeder nur wieder an sich denkt, also komisch find ich das schon.“
Dabei bleibt Meister wohltuend unprätentiös. Er gehört zum Glück nicht zu den Liedermachern, die mit moralisierender Weltuntergangsstimmung ermüden.
Dass er sich in seiner Poetenwerkstatt hin und wieder auch mal im Metaphern-Dschungel verirrt und arg Kryptisches vom Stapel lässt wie „Das Schiff aus schwarzer Seide“ – geschenkt. Meister sprüht eben nur so vor Ideen und sein Album wird keine Sekunde langweilig.
Das gilt - der eher minimalistischen Besetzung zum Trotz auch für die Musik. Meister ist – nomen est omen – nicht nur ein Virtuose des Fingerpicking, sondern weiß auch mit treffsicheren Arrangements für Klavier oder E-Piano Atmosphäre zu erzeugen. Der warme intime Sound liegt irgendwo zwischen Simon & Garfunkel und neuem französischen Chanson. Wobei die Texte mit ihren lakonischen Pointen zuweilen an Joachim Ringelnatz erinnern.
Der Musik von Lukas Meister wäre größere Resonanz zu wünschen. Diese Kombination aus heiter, tiefgründig und romantisch soll ihm erstmal jemand nachmachen – ein Genuss zu jeder Jahreszeit.
Weitere Informationen: https://lukasmeister.tumblr.com/
„Liedpoesie“ hat Joscha Zmarzlik sein neues Album genannt. Und dieser Titel ist schon eine umfassende Beschreibung dessen, was wir von dieser Produktion zu erwarten haben: Poetische Chansons, die offensichtlich aus der Beobachtung von Alltagssituationen heraus entstanden.
So beschreibt Zmarzlik das Leben in einem Freibad ebenso wie großstädtische Erlebnisse. Er erzählt vom Treiben auf dem Place des Vosges oder dem nächtlichen lärmenden Treiben auf der Kölner Südbrücke, Orte an denen er selbst gelebt hat und die offenbar Eindrücke bei ihm hinterlassen haben. Ebenso schildert er intensive Begegnungen mit Menschen: Gisela, die ihre Tage mit Predigen auf der Straße zubringt oder seiner Zuneigung zu der Frau, die in der Bibliothek für die Ausleihe zuständig ist, was seine Ehe in eine gefährliche Situation bringt. Und so weiter. Alle Lieder sind mit einem kleinen aber sehr präsenten Ensemble eingespielt, gelungene Arrangements passen sich dem Charakter des jeweiligen Textes an.
Chansons für Streuner und Träumer nennt Smarzlik seine CD im Untertitel. Das ist nachvollziehbar, denn er beschreibt sich und andere unterwegs auf der Suche nach Etwas. Und „verträumt“ meint, dass in allen Liedern eine unbestimmte Sehnsucht mitschwimmt. Da wird nichts konkret genannt. Der Hörer muss intensiv zuhören und sich seine eigenen Gedanken dazu machen.
Das ist nicht leicht und vielleicht ist es sinnvoll, nicht die ganze Produktion am Stück zu konsumieren. Denn jedes Lied, jedes Gedicht hat seine eigene Geschichte.
Weitere Informationen: www.joschazmarzlik.de/liedpoesie/
Andreas Albrecht ist das, was der Volksmund einen Hansdampfinallengassen nennt: Songschreiber, Multiinstrumentalist, Produzent, Toningenieur, Labelchef, Fotograf und Künstler – der Berliner (Jahrgang 1968) ist all das in Personalunion, seine Vita entsprechend vielfältig.
Sein neues Album „Nach außen, nach innen“ ist logischerweise ein Soloalbum im wahrsten Sinne des Wortes. Albrecht hat es selbst produziert, aufgenommen und 90 Prozent der Instrumente selbst eingespielt. Vor allem aber ist es ein Konzeptalbum, auf dem Albrecht zwei Welten zusammenbringt – als zwei gleichberechtigte Vorderseiten, wie er betont. Die „Außen“-Seite zeigt ihn als klugen Beobachter der sich ändernden Welt. In „Nein, Nein, Nein“ und „Keine Lust mehr“ begibt Albrecht sich in die Perspektive von Querdenkern und seziert genüsslich deren krude Weltsicht. Auch die Klimawandelleugner werden in „Mehr Meer“ mit all ihren ambivalenten Argumenten entlarvt: „Jedes Jahr 3 Millimeter mehr Meer, bis zu meinen Knien sind das 150 Jahre, da fällt Vergessen nicht schwer“ – die Hookline, die sich im Laufe des Songs übrigens bis zum Hals vorarbeitet, ist so eingängig wie genial und steht stellvertretend für Albrechts größte Stärke als Texter. Bei aller Angriffslust holt er nie den Phrasen-Holzhammer raus. Seine Kritik fällt deutlich aus, aber stets menschlich. Seine Freude an der Ironie ist unüberhörbar. Eins der Album-Highlights ist das Ende der „Außen-Seite“. In „Zwischen den Kriegen“ vereint Albrecht große Melodie (die erinnerte mich trotz völlig anderer Umsetzung anfangs übrigens an Lionel Richies „You are my destiny“) mit großem Thema, tut dies aber erneut auf seine Art und Weise. Hier werden keine Antikriegsparolen mit erhobener Faust gesungen, stattdessen nimmt Albrecht jeden einzelnen von uns mit in die Pflicht, den Allerwertesten auch mal vom Sofa zu bequemen.
Im Anschluss startet dann die „Innen“-Seite, die Albrecht den Blick ins Private wenden lässt. „Tiere an den Oberflächen“ beginnt als ironische Kindheitserinnerung vor dem Corona-Hintergrund, erweist sich im Verlauf aber als kluge Parabel auf die menschliche Vergänglichkeit. Die Balladen „Treibholzzeit“ und „Schlaflosland“ zeigen den Berliner dann als echten Poeten, der auch im Melancholie-Modus nie die Leichtigkeit verliert. In „Bittersüß“ setzt er sich mit der eigenen Vaterrolle auseinander, wie auch im versöhnlichen Album-Closer „Wird schon werden“. Einmal mehr beweist Albrecht hier sein Talent als Texter, denn so konkret er den „Zwerg“ besingt, so universell und dabei angenehm unkitschig sind seine Lebensweisheiten: „Keinen Schwur muss man nicht brechen, Hinfort mit den Versprechen, Gewissheit ist nur Lug und Trug“ – Wird schon werden, wird schon gut gehen“.
Als ich diese Zeilen zum ersten Mal hörte, saß ich im Auto auf der Rückfahrt aus der Kölner Redaktion. Albrechts Album war tags zuvor in der Post und das zum inhaltlichen Konzept passende Wendecover der beiden Seiten hatte mich neugierig gemacht. Als der letzte Akkord verklungen war, wollte ich das Album unbedingt nochmal hören. Dass beim ersten Durchgang kein Song hängen geblieben war, meine ich ausnahmsweise mal ausnahmslos positiv. Auf dieser Platte gibt es eine Menge zu entdecken und alles an ihr ist ehrlich und charmant. Albrecht ist sicher kein brillanter Sänger, macht das aber durch Charakter mehr als wett. Die Produktion mäandert zwischen Pop und Indie, mitunter fast schon krude, aber stets mit rotem Faden. Jeder Song entfaltet seine wahre Stärke garantiert nicht beim ersten Mal – so soll es sein.
Seit über einem Vierteljahrhundert arbeitet Andreas Albrecht mit Manfred Maurenbrecher als Schlagzeuger, Keyboarder und vor allem Produzent zusammen – die Frage, wieviel Maurenbrecher in Albrecht und wieviel Albrecht in Maurenbrecher nach dieser langen Zusammenarbeit steckt, drängt sich also förmlich auf. Eine Antwort kann und ich will nicht geben, aber ich bin sicher: wenn sie Maurenbrecher mögen, werden sie Andreas Albrecht lieben. Und dass das ganz bestimmt auch umgekehrt zutrifft, reicht vielleicht ja schon als Antwort.
Weitere Informationen: https://www.andreasalbrecht.com/